Buch lesen: «Hunderteins EinSatzgeschichten»
Mit einem Vorwort von Hans-Eckardt Wenzel,
drei Zugaben und Illustrationen
von Hamster Damm
INHALT
Cover
Hinweise
Titel
Sätze wie Smartphone=Fotos
1 Der Geschichtenerzähler
2 Vertrauen
3 Die frischgebackene Familie
4 Trauerbewältigung
5 Lebenssinn
6 Bumerang
7 Galgenhumor
8 Manuskripte
9 Fidibus
10 Der neue Lebensabschnitt
11 Vielfalt
12 Plagiat
13 Vorbild
14 Deal
15 Erkenntnis
16 Notwehr
17 Freiheit der Entäußerung
18 Lektüreempfehlung
19 Aufmerksamkeit
20 Künstlerleben
21 Unfall
22 Humor bleibt sexy
23 Dankesrede
24 Motten
25 Wegbestimmung
26 Sieger der Geschichte
27 Pensionierung
28 Rausgeschmissenes Geld
29 Bleibende Reue
30 Erlösung
31 Späte Zärtlichkeit
32 Vorahnung
33 Termine häufen sich
34 Auszehrung
35 Der Griff ins Leere
36 Gedankenfreiheit
37 Feuer
38 Was gegen die Ehe spricht
39 Ausweg
40 Enttäuschte Sehnsucht
41 Auszug
42 Überbuchung
43 Des kleinen Jungen Freude
44 Initialzündung
45 Versprechen
46 Später Fund
47 Platonische Vereinigung
48 Tanz auf mehreren Hochzeiten
49 Trauerarbeit
50 Wiedersehen
51 Sinnsuche
52 Unmögliche Befriedigung
53 Rückkehr
54 Nicht erwähnenswert
55 Gewinnspiel
56 Pietät
57 Rechnung geht nicht auf
58 Präkastination in Reinkultur
59 Himmlische Täuschung
60 Tatbestand: Hausfriedensbruch
61 Lücken
62 Vom Haltenwollen
63 Zweifel
64 Merkwürdigkeiten
65 Zuversicht
66 Vorausplanung
67 Doppelt unverdientes Pech
68 Alternative
69 Trost
70 Neuzeit
71 Hingabe
72 Zukunftsplanung
73 ›Leben ist eine Krankheit, die tödlich endet‹
74 Gelingendes Altern
75 Des Schriftstellers Initialzündung
76 Genugtuung, die kleine zarte Schwester der Rache
77 Vom kleineren oder größeren Übel
78 Wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frauen
79 Falladas Ende
80 Rückzug
81 Werbung ohne Beipackzettel
82 Abschied selbstbestimmt
83 Der Karriere Schlusssequenz
84 Puppenwagen
85 Vorahnung
86 Vorübergezogene Gelegenheit
87 Abrechnung
88 Hoffnung auf Erneuerung
89 Zukunftsplanung
90 Fahrplan
91 Dumm gelaufen
92 Irrtum
93 Täuschung
94 Wetterfühligkeit
95 Resignation
96 Ertappt
97 Therapieerfahrung
98 Der Beladene
99 Wunsch
100 Entscheidung
101 Heimat
Zugaben
001 Reinigung
002 Schlussstrich mit Perspektive
003 Ente, Trente, Argumente …
Autoren
Impressum
SÄTZE WIE SMARTPHONE = FOTOS
»Lass mich nur noch einen einzigen Satz dazu sagen!«, rief er der Frau aus dem Flur hinterher. »Wieso nur einen Satz? Was ist denn los mit dir?«, die Frau stemmte die Arme in die Hüften und sah den Mann provozierend an.
»Weil schon alles gesagt ist«, schrie er, »tausendmal gesagt, und es hat nichts genützt!« – »Na da bin ich ja beruhigt, dass der Herr wenigstens noch mit mir spricht, wenn auch nur mit einem einzigen Satz!« Er knallte die Tür. Den Satz, falls er ihn auf der Treppe gesprochen haben sollte, konnte die Frau keinesfalls verstehen. Also hegt sie Hoffnung, dass er wiederkommt und es nicht der letzte Satz war. Denn der letzte Satz ist ein Satz, bei dem der Punkt beinahe wie eine Pistolenkugel geschossen kommt. Finitum.
Dieses Büchlein hat nur letzte Sätze. Genauer gesagt: Anfangssätze, die zugleich Schlusssätze sind. Satz- und Spielball. Also ein Spiel.
In unserer ach so schönen Welt schlagen wie Kometenstürme Sätze, die an keinen Punkt kommen, Schneisen in unsere Ohren: Talk-Shows, Statements, Gebrauchsanweisungen, Wahlprogramme – das unablässige Klappern der Gebetsmühlen des Selbstbewusstseins. Hastig kostümierte Gedanken beim Maskenball der Moden verschwinden unter der Last der Buchstaben. Archäologen aller Länder, bewegt Euch! Grabt aus unter der klappernden Sprache die Welt. Die Politiker haben die Welt nur verschieden beredet – es kömmt darauf an, sie zu sehen. Aber wohin richtet sich der Blick? In die Weite? Kurzsichtig? Umsichtig? Nachsichtig? So ein kleines Detail, eine Winzigkeit im Mikrokosmos, Lichtjahre entfernt von den Wimpern kleinster Atome, leicht zu übersehen, leicht zu vergessen. Details, nichts als Details bilden die Welt.
Hier in diesem Büchlein werden sie gesammelt mit kleinem Focus, wie ein schnell geknipstes Foto mit dem Smartphone. (Wir sehen die Heere mit den verlängerten Taranteln, an denen Telefone hängen, die längst keine Telefone mehr sind, in allen Städten der Welt, und nur das gespeicherte Bild scheint die Wahrheit zu gewährleisten, dass man es wahrhaft gesehen hat.) Kleine Momente, ganz kleine, sehr kleine und klitzekleine und so wie die Kinder über das Touchscreen wischen (ob sie später noch wissen, dass früher die Bücher umgeblättert wurden?), so schieben wir uns aus einem Bild in das andere und es fallen uns Geschichten ein, Augenblicke, an die uns die Bilder verweisen. Was soll uns das lachende Gesicht auf dem Friedhof beweisen? Was erzählt uns das leere Bett? Nur unsere Erfahrungen vermögen das Pixelgewirr mit Sinn vollzuladen. So auch Sätze, die einen Punkt finden, die einen Schluss haben. Den Sinn einer Sache, meinte Hegel, erkenne man nur an deren Schluss. Also stellen wir uns auf den Hügel, der nicht größer ist als ein Punkt am Ende des Satzes, und denken zurück auf den Weg der Buchstaben, die sich um das eine und andere Komma winden, die Vokale mit ihrem schönen melodischen Sinn und die Konsonanten, diese Perkussionsmaschinen der Sprache. Wir lesen, und schon sind wir erschrocken, denn das Ende, der Punkt, das Schweigen erscheint plötzlich. Gewöhnt an die Ausführlichkeit, diese nicht enden wollende Geschwätzigkeit, die uns über die Abgründe hinwegtröstet mit der Virtuosität eines Paganini=Capriccios, verdeckt nach dem viel zu schnell erscheinenden Punkt das Schweigen wie einen Schreck. Es tröstet uns keine Pointe, wie beim Witz, beim Aphorismus, beim Bonmot. Wir stehen ratlos da, oben auf dem Punkt des Satzes, am Ende und mit der die Stimme hebenden Frage »Was nun?« öffnet sich eine kleine Tür. Aber wohin sie führt, das vermögen uns nicht einmal die schnell geknipsten Bilder des Smartphone zu verkünden. Das müssen wir selber finden. Das wäre der Schritt zurück: von den Bildern in die Welt.
Hans-Eckardt Wenzel
Bugewitz, im Juli 2017