Buch lesen: «Die verlorene Insel»
ibidem-Verlag, Stuttgart
Inhalt
Vorwort
Die Stimmen der Inselbewohner
Einleitung
Teil I SCHOCK
Vorwärts in die Vergangenheit
Teil II UNRUHE
In Schokolade getaucht, oder: der See, den es nicht gibt
Teil III ANGST
Schneidet mir die Zunge heraus, ich habe vor nichts mehr Angst
Teil IV ZORN
Die Krim zu verlassen ist wie eine kranke Mutter zurückzulassen
Teil V MUT
Ukrainisch bleiben auf der Krim
Krimnasch versus Artek
Einmal um die halbe Welt: Der Fall Senzow-Koltschenko
Teil VI SCHMERZ
Getrennt: wie es ist, Mutter, Frau, Vater eines politischen Gefangenen auf der Krim zu sein
Teil VII EINSAMKEIT
Die Stadt der Friedhofsstille
Wir haben die besten Spezialeinheiten weit und breit
Teil VIII ENTTÄUSCHUNG
Nachwort HOFFNUNG
Danksagung
Vorwort
Zu den unschönen Eigenschaften von Medien gehört, schnell da zu sein, wenn es knallt, und schnell wieder weg zu sein, wenn der Stillstand eintritt. Wenn Emotionen aufgebraucht sind und Geschichten erschöpft, wenn auch die schlauste Analyse nichts mehr erklärt, dann ziehen die Reporter und Reporterinnen weiter: Zum nächsten Krisenort, zur nächsten Tragödie, zur nächsten Geschichte.
Man kann diese mediale Hyperaktivität ganz sicher kritisieren, aber zur Wahrheit gehört eben auch: Die Leser und Leserinnen sind anspruchsvolle Wesen, die sich schnell langweilen. Sobald sie das Gefühl der Wiederholung haben, verlieren sie das Interesse. Wer könnte es ihnen auch verübeln? Gumenyuk kennt diese Schwierigkeiten. Als die Krim kurz nach dem Ende des Maidan-Protestes von Soldaten ohne Hoheitszeichen in grünen Uniformen besetzt wurde, war die Annexion das wichtigste Thema in der russischen, ukrainischen und internationalen Presse. In Russland waren Staatsmedien und Regierungspolitiker wie benebelt von ihrem plötzlich erwachten Krim-Patriotismus, in der Ukraine war der Verlust der Halbinsel das alles beherrschende Thema. Und in den internationalen Medien wurden Überlegungen angestellt, was wohl als nächstes passieren würde, wo noch grüne Männchen auftauchen könnten. Die Redaktionen sandten ihre Reporter aus, um über die ominöse Einnahme der Halbinsel zu berichten.
Ich war ebenfalls als Reporterin im Frühjahr 2014 auf der Krim, auch ich sprach Anfang März 2014 mit ukrainischen Soldaten und einem Oberst – so wie später Nataliya Gumenyuk. Aber anders als Gumenyuk kam ich nicht wieder. Irgendeine gute Begründung hatte ich immer: die Krisen woanders; der beginnende Krieg im Donbas; die Auflagen der ukrainischen Behörden, die zeitfressende, komplizierte Einreise auf die Halbinsel, die auf mich wie eine Schikane wirkten; die Redaktion schien nicht sonderlich interessiert. Es tat sich ja auch wenig auf der Krim – wie eingefroren schien der Zustand zu sein nach der militärischen Annexion, die mit einem fingierten Referendum besiegelt wurde. Als sei auf der Krim die Zeit stehen geblieben. Gumenyuk kennt das Problem. Für Journalisten ist die zwanzigste, fünfzigste Verhaftung von Krimtataren und Regimegegnern nichts, worüber man wieder berichten würde. „Für die betroffene Familie ist jede Verhaftung einmalig, unwirklich, noch nie dagewesen – nicht jedoch für den Leser.“
Obwohl die Annexion der Krim eine politische Katastrophe und eine menschliche Tragödie für die Ukraine bedeutet, obwohl Familien zerrissen und Biografien zerstört wurden, schwindet selbst in der ukrainischen Gesellschaft das Interesse, beobachtet Gumenyuk. „Das Thema Krim ist ohnehin nicht sonderlich populär“, schreibt sie an einer Stelle eher beiläufig. „Weshalb man die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums nur mit wirklich gutem Material gewinnen kann.“ Man liest, man staunt, aber so ist der Mensch wohl: Unfähig, zu lange den Schmerz der Anderen in sich wachzuhalten, wenn er selbst in Frieden weiterleben will.
In Deutschland schien von der ersten Stunde an das Interesse an der Krim gewaltig zu sein. „Krim-Annexion“ wurde zum Reizwort, kein anderes bescherte mir um 2014 herum so viele Leserbriefe. Aber das Interesse war allzu oft ein scheinbares; gerade die Meinungsstarken interessierten sich nicht für die Krim, sondern für die Projektionsfläche, die sie bot. Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, von dem nicht bekannt ist, dass er die Halbinsel jemals besucht hat, erklärte, die Krim sei „altes russisches Territorium“ und die Annexion „keine Abtrennung, sondern eine durch die Bevölkerung genehmigte, also keine aggressive“ Handlung. Der Fußball-Funktionär Uli Hoeneß vermutete die Halbinsel zwar im Mittelmeer, war aber überzeugt, dass der Kreml sich mit der „Einnahme“ gegen die Expansion der Nato schützen musste. In Kommentaren erklärten Leserbriefschreiber und plötzlich erwachte Hobby-Historiker wieder und wieder, warum die Halbinsel geopolitisch für Russland unverzichtbar sei und das Vorgehen deshalb legitim, warum sie schon immer russisch war und russisch blieb. Plötzlich schien die Krim zur ganz persönlichen Chiffre zu werden – über sie wurde das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland abgehandelt. Und während sich die Schreibtisch-Strategen weit weg vom Ort des Geschehens in ihre geopolitischen Planspiele vertieften, nahmen sie eines nicht wahr: Die Stimmen jener, die vor Ort von der Annexion betroffen sind. Die nun unter russischem Recht leben, ob sie wollen oder nicht.
Gumenyuk lässt insbesondere die Krimtataren zu Wort kommen. Sie wurden aus ihrer Heimat unter Stalin 1944 deportiert und durften erst Ende der 80er Jahre zurückkehren. Nun wird wieder ihr kollektives Trauma wach, fürchten sie wieder, die Heimat zu verlieren. Deportiert werden sie nicht, natürlich nicht. Aber sie werden massenhaft eingesperrt, unter fadenscheinigen Vorwürfen angeklagt. 20.000 Krimtataren, fast ein Zehntel der krimtatarischen Bevölkerung, sollen die Halbinsel bereits verlassen haben. Wer über die Zukunft der Krim spricht, darf sie nicht außen vor lassen.
Von ihnen und vielen anderen, die in diesem Buch zitiert werden, könnten Gerhard Schröder oder Uli Hoeneß zum Beispiel erfahren, wie es ist, heute auf der Krim Ukrainisch zu sprechen. Oder verpflichtet zu sein, in der eigenen Heimat plötzlich Aufenthaltsgenehmigungen von fünf Jahren beantragen zu müssen. Oder in der Medschlis, einer Selbstverwaltung der Krimtataren, aktiv zu sein. Oder seinen Glauben zu praktizieren. Oder die russische Staatsangehörigkeit nicht annehmen zu wollen. Oder nicht damit einverstanden zu sein, wie Lehrbücher umgeschrieben werden und dass ein Denkmal auf der Halbinsel die „grünen Männchen“ ehrt, die sie militärisch eingenommen haben – denn dass die Krim nicht als Folge einer Volksbewegung sich von der Ukraine abspaltete, sondern in einer vom Kreml befehligten militärischen Operation einverleibt wurde, das bekennt mittlerweile mit einigem Stolz sogar der russische Präsident Wladimir Putin. Gumenyuk hält die schleichenden Veränderungen, die zunehmenden Repressionen, die wachsende Angst fest – der Eindruck, dass auf der Krim das Leben wie eingefroren ist, er täuscht.
Man spürt, dass Nataliya Gumenyuk vom Fernsehen kommt. Sie denkt in Bildern und gibt in ihrem Buch O-Tönen, Zitaten, viel Platz, und das ist ein Segen. Ihre Sprache ist schnörkellos, aber nie frei von Empathie. Je mehr sich Gumenyuk als Erzählerin zurücknimmt, desto mehr Raum lässt sie für jene, die sonst keinen Platz haben, nicht vorkommen. Man hört sie tatsächlich denken, reden, hadern.
Da ist die Krimtatarin Nadschije Mamutowa, deren Mann inhaftiert ist und die sich um Kinder von politischen Gefangenen kümmert.
Da ist Mykola Semena, ukrainischer Journalist, dem jahrelange Haft wegen eines Kommentars droht.
Da ist der Anwalt Emil Kurbedinow, der viele der Krimtataren vertritt und sagt: „Wenn du ein Muslim bist, können sie dir die Terrorismus-Paragrafen anhängen; hast du eine säkulare Weltanschauung, fällst du unter die Extremismus-Paragrafen.“
Da ist die Krimtatarin Elmira, die während der Deportationen zur Welt kam und deren Mann nun angeklagt wurde. Sie sagt etwas von einer verstörenden Einfachheit: „Auf unserem Land sind wir unsere eigenen Herren, und diese Fragen müssen mit uns erörtert werden. Uns müsst ihr fragen, was wir wollen.“
Warum fällt uns das allen so schwer?
Es muss für Gumenyuk nicht leicht gewesen sein, dieses Buch zu schreiben; auch jenen zuzuhören, die Positionen vertreten, die in Kyjiw verdammt werden. In einer Zeit, in der in der Ukraine darüber diskutiert wird, ob man die Kämpfer in der Ostukraine anders nenne dürfe als „Terroristen“, verzichtet sie auf wertende Zuschreibungen. Sie hört einfach zu – ein nahezu provozierender Akt in einer Zeit der politischen Dogmen. Doch wie könnte man anders verstehen, wie jene Menschen, die gegen den Maidan waren und ihre Sehnsucht nach der Sowjetunion pflegen, als ukrainische Staatsbürger verloren gehen konnten? Denn auch wenn das russische Militär die Krim fast über Nacht einnahm – die politische Entfremdung der Krim-Bewohner vom ukrainischen Festland hatte Jahrzehnte zuvor begonnen.
Am Ende ihres Buches schreibt Nataliya Gumenyuk: „Überhaupt begleitet mich auf der Krim ständig ein Gefühl der Reue, und ich fühle mich oft schuldig.“ Weil sie Gesprächspartner nicht wieder trifft, weil Kontakte verloren gehen. Darf man das, mitfühlen? Interviewpartner umarmen, jubeln, wenn der Aktivist Oleh Senzow nach fünf Jahren russischer Gefangenschaft freikommt? Ich finde: Wenn man seine Arbeit so macht wie Gumenyuk, dann darf man das. Es wäre zynisch, von einer Ukrainerin wie Gumenyuk eine Distanz zu verlangen, als wäre sie eine Fremde und nicht Staatsbürgerin dieses Landes, über das sie berichtet. Und es ist fast beruhigend zu lesen, dass Gumenyuk seit 2014 nicht nur wieder und wieder auf die Krim gereist ist und mit allen spricht, sondern dass sie auch weiterhin nach Moskau gefahren ist, sogar mit Kollegen des russischen Staatsfernsehens spricht. Dass sie dieses Vorwort für die deutsche Ausgabe einer Korrespondentin anvertraut, die seit Jahren in Moskau wohnt.
Das große Verdienst dieses Buches ist es, ohne „explizite Schlussfolgerungen“ auszukommen, wie Gumenyuk schreibt – mit einer Ausnahme: „Relatives Glück und Frieden der Mehrheit können nicht erlangt werden, wenn der Preis dafür das Leid anderer ist“. Sein größtes Verdienst ist es aber, dass es in der Welt ist. Dass es existiert. Dass es die Bewohner dieser Halbinsel sprechen lässt inmitten des Lärms der Geopolitik.
Die Krim mag in diesen Jahren verloren sein, aber ihre Menschen sind nicht vergessen.
Alice Bota,
Korrespondentin der ZEIT für Osteuropa
Moskau, Oktober 2020
Die Stimmen der Inselbewohner
Nach der Annexion verlor die Krim ihren Status als Halbinsel. Die Abtrennung von der Ukraine, eine neue Gerichtsbarkeit, neue Grenzziehungen und darüber hinaus eine neue politische Mythologie haben das Gefüge der Halbinsel radikal verändert. Ihr Verharren zwischen der Macht des Faktischen und der Ohnmacht des Rechtlichen hat die Krim in eine Insel der Ambivalenz und der Unsicherheit verwandelt – eine Unsicherheit, die in sämtliche Lebensbereiche einsickert und keine andere Wahl lässt, als die eigenen politischen Hoffnungen auf ein Mindestmaß zu beschränken.
Es ist allgemein bekannt, dass Inseln häufig Gegenstand kolonialer Gelüste oder Fixpunkte von Eroberungsfantasien sind. 2014 blinkte die Krim infolge der revolutionären Ereignisse in der Ukraine als roter Punkt auf der geistigen Landkarte Russlands auf – seitdem ist sie nicht länger ein von Sowjetnostalgie überformter Kurort, sondern vollkommen moderne, historische Zweckmäßigkeit; eine Phantasmagorie, die angeblich seit jeher das russische Volk genährt hat. Aus Gründen der Effekthascherei und der Effektivität erfordert die physische Eroberung des Territoriums eine Kolonisierung des Imaginären, einen Glauben an die Alternativlosigkeit der „Rückkehr“ der Krim nach Russland. In dieser Hinsicht tobt seit sechs Jahren – trotz zahlreicher verlorener Debatten – unvermindert ein ideologischer Kampf um die Krim, dauert die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit der Besetzung der Krim auf russischen und ukrainischen Mattscheiben und in der Presse weiter an. Die Erklärungen stehen in einem unversöhnlichen Gegensatz zueinander und wetteifern innerhalb der Gesellschaften der Ukraine, Russlands und der Krim eifrig um das Recht auf Wahrhaftigkeit.
Wir erfahren dort von der Rückkehr, dem Wiederaufbau, der historischen Gerechtigkeit, dem wachsenden Wohlstand der Staatsbeamten und von der Erholung der Touristenströme; man erzählt uns von den Stätten patriotischer Heldentaten – damals im Zweiten Weltkrieg, heute im Widerstand gegen die „nationalistische Offensive“ vom ukrainischen Festland. Die Krim ist zu einer Art politischem Laboratorium geworden, wo die Grenzen des Völkerrechts ausgelotet und die Militarisierung des Bewusstseins erprobt werden. Ein solches Bewusstsein ermöglicht es, die Zugeständnisse an die Bürger gering zu halten und gleichzeitig einen hohen Grad an Loyalität sicherzustellen.
Im kollektiven Gedächtnis der Ukraine stellt die Krim eine Wunde dar, die für den Kriegsbeginn und den Verlust des Zuhauses steht. In unserem medialen Kontext wird die Krim häufig auf einen Punkt auf der Landkarte reduziert, der bisweilen neurotisch aufblitzt – ebenso neurotisch, wie die Ukrainer sich und anderen die eine Frage stellen: wem gehört die Krim? Gegenwärtig ist das Sprechen darüber, dass die Krim ein Teil der Ukraine ist, das vielleicht einzige wirksame Schmerzmittel gegen die Wunde, die der Verlust der Krim bedeutet. Gleichzeitig hat der Raub der Halbinsel historische Traumata – insbesondere das Trauma der Deportation der Krimtataren – wieder zutage gefördert. Dieses Trauma fällt mit der gegenwärtigen ethnischen Verfolgung der Krimbevölkerung durch die russischen Sicherheitsbehörden zusammen und bringt unaussprechliches Leid hervor, welches die ukrainische Seite zu überwinden nicht in der Lage ist. Infolgedessen wird die Krim immer mehr zu einem Sinnbild des Schweigens und verschwindet allmählich aus dem politischen Bewusstsein.
Paradoxerweise versucht ausgerechnet Russland, den verlorenen Status der Halbinsel wiederherzustellen. Dabei stellt der utopische Bau der Brücke von Kertsch (der „Krim-Brücke“) nicht nur einen physischen, sondern auch einen mentalen Ausgangspunkt für ein neues Kapitel in der Geschichte dar; darin wiederum ist die jüngste ukrainische Vergangenheit als Sinnbild des Schweigens vorgesehen.
Dieses eiserne Schweigen gilt es zu brechen, und die diskursiven Rahmenbedingungen, in die die Krim und ihre Einwohner geraten sind, zu verändern. Seit der Annexion reist Natalija Gumenyuk regelmäßig auf die Krim, stets bestrebt, den Kontakt mit der Realität nicht zu verlieren – einer Realität, die komplexer ist, als die angebotenen Narrative uns glauben machen. Diese Komplexität ist nicht nur das Resultat ihrer eigenen Ansichten, sondern auch ihres journalistischen Ansatzes. Die Autorin wendet sich an Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Gemeinschaften, sozialer und ethnischer Herkunft und politischer Lager. Im vollen Bewusstsein ihrer eigenen politischen Position stellt sie Fragen und sucht nach Antworten, ohne dabei Partei zu ergreifen; ihr Tasten richtet sich nicht nur an ihre Leserschaft, sondern gilt auch ihr selbst. Der aufrichtige Wunsch, sich ein Bild von der Lage auf der Krim zu machen, spricht aus den in diesem Band versammelten Texten Natalija Gumenyuks. Was verrät uns nun das so verfertigte Stimmungsbild?
Bezeichnenderweise ist es in gewisser Hinsicht ein Klangbild, hervorgerufen durch die Vielstimmigkeit derjenigen, die zurückgeblieben sind. Darunter finden sich „schweigende“ ukrainische Oppositionelle, die Wahlen boykottieren, ihre Kinder von russischen Schulen fernhalten und die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche besuchen; da gibt es Unternehmer und Sozialarbeiter, ebenso wie Befürworter der Annexion, die sich mit russischen Korruptionsschemen herumschlagen. Eine andere Woge spült die Geschichten der Nachkommen der unterdrückten Krimtataren – und mit ihnen die Erinnerungen an die Deportation – an die Oberfläche. Zwischen diesen Geschichten schimmert eine neue Inselidentität durch: den Gefangenen, Verlassenen, Vertriebenen fällt die Bürde zu, ihr Dasein unter extremen Restriktionen zu behaupten.
Natalija Gumenyuk setzt alles daran, den Veränderungen sämtlicher Aspekte des materiellen Lebens, der wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit sowie den Migrationsbewegungen nachzuspüren – denen also, die die Krim verlassen, und denen (vorwiegend Mitglieder der Sicherheitsbehörden), die sich dort ansiedeln. Zugleich schildert die Autorin die Metamorphose des kollektiven historischen Gedächtnisses, befeuert von einer vorsätzlichen Instrumentalisierung, die einige Jahre zuvor noch unvorstellbar gewesen wäre. Dieses neue Gedächtnis erscheint als eine Art Monolith, der das Gefühl der Isolation gleichsam zementiert. Es sieht nicht danach aus, als wären in diesem neuen historischen Überbau drastische Brüche vorgesehen.
Die Isolation wird auch über die Grenzen der Krim hinausgetragen. Davon zeugen die Reportagen über das Schicksal von Oleh Senzow und Oleksandr Koltschenko, deren Überstellung und anschließende Freilassung uns dazu zwingen, die Distanz und Verlassenheit der Krim in aller Schärfe nachzuempfinden. Dieses Buch ist ein Versuch, die Isolation zu durchbrechen und Geschichte in ihrem Werden zu begreifen – mit all ihren Widersprüchen, ihrer Gewaltförmigkeit, ihren Zusammenstößen ideologischer Narrative und ihren Praktiken des täglichen Überlebens und der Adaption.
Natalija Gumenyuk begreift Geschichte aus einer humanistischen Warte heraus als ein Mosaik aus Mikroerfahrungen der Inselbewohner, die für sich selbst stehen. Solch eine inklusive Position verlangt nach einem offenen Ende der ukrainischen Geschichte der Krim. Gleichzeitig schlägt die Auseinandersetzung mit den sozialen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens eine Brücke nicht nur zur fernen Krim, sondern fördert auch das Verständnis der Realitäten auf dem ukrainischen Festland. Dieses Buch handelt nicht nur vom Widerstand der Vergessenen und Zurückgelassenen. Sein Erscheinen ist selbst ein Akt des Aufbegehrens gegen die Alternativlosigkeit der Krim-Annexion. An die Stelle des Schweigens muss eine Sprache der Rückkehr treten. Die Artikulation einer solchen Sprache ist eine unermüdliche und akribische Arbeit, die neben der Tatkraft der Autorin auch Empathie und Offenheit für das Menschliche in all seinen Facetten erfordert.
Die Krim ist im Kontext des russisch-ukrainischen Krieges unfreiwillig zur möglicherweise größten Herausforderung für die ukrainische und internationale Politik geworden. Diese Herausforderung erfordert eine ethische Positionierung und eine radikale Vorstellungskraft, die es ermöglichen würde, die Krim wieder anzueignen und zurückzuholen. Vor Ihnen liegt die Einladung, das Gespräch über die Rückkehr fortzuführen.
Kateryna Mishchenko
Publizistin, Kuratorin
Einleitung
„Wozu schreibst du dieses Buch?“, werde ich von einer Journalistin aus dem Ausland gefragt. Sie macht das nicht der bloßen Kritik wegen: Fragen dieser Art – frei aus dem Bauch – beflügeln das Denken und schärfen den Geist. Ich zögere meine Antwort hinaus, obwohl meine Gedanken ohne Unterlass um diese Frage kreisen.
Ich schreibe dieses Buch, damit die Menschen, die in den vergangenen Jahren nicht auf der annektierten Krim gewesen sind oder dort gelebt haben, zumindest eine vage Vorstellung vom Leben dort bekommen. Dabei geht es nicht unbedingt darum, wie es sein muss, die Mutter, Frau oder Tochter eines politischen Gefangenen zu sein, oder ein Menschenrechtler oder Aktivist, der täglich in Gefahr schwebt; ein Militärangehöriger, der sich entscheiden muss, ob er aus Sorge um seine Familie seinen Eid bricht oder sich in Gefahr begibt oder jemand, der die ukrainische Sprache wertschätzt; ein Priester, dessen Kirche gesetzlich verboten wurde; ein Unternehmer, der vor den Scherben seiner Existenz steht, und so fort. Die meisten Menschen werden weiterhin davon ausgehen, dass diejenigen, die von der Annexion betroffen sind, entweder außergewöhnliche Helden sind, die sich bewusst für den Weg des Kampfes entschieden haben – oder aber, dass sie einfach Pech hatten und sich diesem Kampf nun gezwungenermaßen anschließen. Doch das sind Ausnahmen. Und selbst wenn wir die Helden und die Pechvögel – die bewussten und die umständehalber dazu gewordenen Kritiker der Annexion – als eine Kategorie denken, bilden sie immer noch die Minderheit. Die Mehrheit der Krimbewohner hingegen schlägt sich mit knapper Not durch.
Doch was mag ein Mensch empfinden, der unversehens unter eine Fremdherrschaft geraten ist?
Seit der russischen Annexion der Krim trete ich Jahr für Jahr auf Dutzenden von Konferenzen auf und unterhalte mich mit ebenso vielen ausländischen wie ukrainischen Journalisten und Experten. Und ich muss mit Befremden feststellen, dass selbst die klügsten Köpfe nicht vor der Vorstellung gefeit sind, dass die Krim-Frage als solche ein wenig zurückgestellt werden könne. Schließlich gehe es weder um aktive Kampfhandlungen, die sofort eingestellt werden müssen, noch um Massenfolter oder -verhaftungen von zehntausenden Menschen. Daher sei die Situation auf der Krim nicht sonderlich lebensbedrohlich und die Lösung des Konflikts könne noch warten.
Dabei bleibt der Schmerz der Routine zu keinem Zeitpunkt aus. Dumpf, stechend, bisweilen stumm, und doch ein Schmerz – von jener Sorte, die sich vor Außenstehenden verborgen hält, den du aber jeden Tag verspürst.
Ein Schmerz, an den man sich anpassen und gewöhnen kann, und den man irgendwann als gegeben hinnimmt.
Ein Schmerz, der sich jeden Tag in Erinnerung ruft, da du zum Abendessen wie immer eine zweite Portion zubereitest für deinen Mann, der seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt.
Du spürst ihn, weil du dir angewöhnt hast, mit den Kollegen nur über den Arbeitsalltag zu reden, weil sie dich aus heiterem Himmel anschwärzen könnten und du bestenfalls nur deinen Job verlierst.
Er ist urplötzlich da, wenn dir schlagartig bewusst wird, dass du vor einigen Jahren ein Geschäft geführt und mit Diplomaten zusammengearbeitet hast, und nun suchst du Arbeit als Verkäufer auf dem Markt oder versuchst es deinetwegen als Maler.
Er reiht sich mit dir in die Warteschlange zur Eintragung eines Hauses ins Grundbuchamt ein – deines Hauses, das du vor mehr als fünfzig Jahren mit deinen eigenen Händen gebaut hast, doch dein Antrag wird schließlich abgelehnt.
Er wartet am Checkpoint der Verwaltungsgrenze auf dich, wo du gleich doppelt gedemütigt wirst: erst aus Angst vor den Feind, dann, weil deine eigenen Leute in dir einen potenziellen Feind sehen.
Er sitzt neben dir, wenn die Taxifahrer, die normalerweise ohne Punkt und Komma über Politik reden, nun einfach schweigen, um der Fremden gegenüber keine unbedachte Äußerung fallen zu lassen.
Er begleitet dich, wenn du in der falschen Gegend deiner Heimatstadt unterwegs bist und dir ein Bußgeld für eine Ordnungswidrigkeit aufgedrückt wird, dabei ist das Bußgeld deine geringste Sorge, denn es ist nicht dein erster Verstoß, und nun besteht die Gefahr, dass dein Aufenthaltstitel für die Stadt, in der du dein ganzes Leben verbracht hast, fünf Jahre nach der Annexion nicht verlängert wird.
Er macht sich bemerkbar, wenn du aus Höflichkeit nickst und Nachbarn und Freunde aus Kindheitstagen grüßt, mit denen du dich eigentlich zerstritten hast, weil eure Ansichten unvereinbar sind, es aber besser ist, kein Salz in die Wunde zu streuen.
Ich bin im März 2014, am Tag des sogenannten Referendums, auf die Krim gereist. Die letzte im Buch beschriebene Reise auf die Halbinsel fand im März 2019 – während des fünften Jahrestags der Annexion – statt. Insgesamt unternahm ich in diesem Zeitraum sieben (mal kürzere, mal längere) Reisen auf die Halbinsel. Bei jeder Reise habe ich versucht, möglichst viele Städte und Ortschaften zu besuchen – von Jewpatorija bis Kertsch, von Bachtschyssaraj bis Sudak, und natürlich Sewastopol, Simferopol und Jalta. Dabei habe mir immer vorgenommen, so viele Eindrücke wie möglich zu sammeln, und bin Dutzenden von Menschen begegnet – Ukrainern, proukrainischen Russen, prorussischen Ukrainern, Krimtataren. Ich habe mich mit Politisierten und Apolitischen, mit Staatsangestellten und Unternehmern, mit Rentnern und Schülern, mit Ärzten und Lehrern, mit Militärangehörigen und Anwälten, mit den Gebrochenen und mit den Standhaften unterhalten – und mit solchen, denen es auf den ersten Blick gutzugehen scheint.
Der vielleicht nicht schwierigste, aber dafür kniffligste Teil der Arbeit als Journalistin auf der Krim waren für mich nicht die Fragen nach der eigenen Sicherheit oder die Befangenheit der Menschen im Gespräch. In all den Jahren war es jedes Mal dasselbe: immer, wenn ich auf die Krim zurückkehre, hat sich scheinbar nichts verändert – so als gäbe es keinen Lauf der Geschichte mehr. Über die Preise, die Russifizierung, die Ankömmlinge aus Russland wurde bereits erschöpfend berichtet. Wieder werden Krimtataren und Regimegegner festgenommen. Doch ist dies bereits die zwanzigste, fünfzigste, sechsundfünfzigste Verhaftung. Für die betroffene Familie ist jede Verhaftung einmalig, unwirklich, noch nie dagewesen – nicht jedoch für den Leser. Und die absurden Staatsakte mit Militärangehörigen und sowjetrussischen Flaggen am „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“, am Jahrestag des „Referendums“ oder am Tag des Sieges muten zwar bizarr an, aber haben ihren Nachrichtenwert verloren.
Mir scheint jedoch, dass der dumpfe Schmerz der Annexion, den jemand genau in diesem Augenblick verspürt, trotz allem beschrieben werden kann. So, wie man zeigen kann, wie die Besatzung für Millionen von Menschen zu einem neuen Alltag geworden ist. Einem Alltag, an den man sich gewöhnen kann, denn jeden Tag ruft die Arbeit, die Schule, und so fort. Schon das sechste Jahr in Folge erleben die Kinder den Schulbeginn in der Schule eines völlig anderen Staates, und vielleicht wissen sie nicht einmal, dass vor nicht allzu langer Zeit alles noch ganz anders gewesen ist.
Dieses Buch kommt ohne explizite Schlussfolgerungen aus – mit einer Ausnahme: Relatives Glück und Frieden der Mehrheit können nicht erlangt werden, wenn der Preis dafür das Leiden anderer ist, und selbst wenn die relative Mehrheit nicht leidet, so hebt die systematische Unterdrückung der Minderheit diese vermeintliche Stabilität wieder auf.
Ich beabsichtige weder eine Analyse der Ursachen der Annexion noch fertige ich eine Chronologie der Eroberung und der Rechtsverletzungen an. Es ist dies eine Sammlung von Reportagen, basierend auf eigenen Reisen, Interviews und Eindrücken. Es ergab sich, dass nur wenige der Journalisten, die während der Annexion – im Februar/März 2014 – auf der Krim tätig waren, wieder dorthin zurückgekehrt sind. Eine ausländische Journalistin beklagte sich darüber, dass ihre große Redaktion nicht das Risiko eingehen wolle, sie „wegen einer Geschichte, die sich kaum verändert“ zurückzuschicken – auch, weil dies zu viel Zeit koste. Mit sämtlichen Genehmigungen und dem Weg über Tschonhar oder Tschaplinka nehmen Hin- und Rückreise einen ganzen Tag in Anspruch.
Es gibt Kollegen, die ich bewundere, da sie häufiger als ich bei den Gerichtsprozessen gegen politische Gefangene anwesend sind und deren Schicksale genauer verfolgen, die jedoch nicht unbedingt seit den Anfängen der Besatzung auf der Krim gewesen sind. Es gibt diejenigen, die geblieben sind, um im Untergrund weiter tätig zu sein, und es gibt solche, die sich gezwungen sahen, ihren Beruf zu wechseln, wobei die Mehrheit der Lokaljournalisten auf das Festland übersiedelte. Seit fünf Jahren widme ich mich der mir zugefallenen Aufgabe, zu beobachten, was sich auf der Krim ereignet, und zu erkennen, was sich geändert hat, was erstarrt ist, und warum der Schmerz nicht nachlässt. Es gibt also noch eine andere Antwort auf die Frage, warum ich beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben: Da es mir gelungen ist, diesen Menschen zu begegnen und sie mir ihre Geschichten erzählt haben, habe ich einfach nicht das Recht, sie für mich zu behalten.