DIE DODERER-GASSE

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Verletzt und verwirrt saß sie neben ihrer Freundin, die keine Notiz von ihr nahm, als sich ein blonder Bursch vor ihr aufbaute. Etwa fünf Jahre alt, von zarter Statur, hing ihm sein dünnes Haar von einem unordentlichen Mittelscheitel über Stirn und Ohren. Ihn bekleidete eine Latzhose, ein Träger war ihm von der Schulter gerutscht. Sein Leibchen wies Flecken auf. An den Knien war die Hose mit Kirsch-Aufnähern geflickt. Er trug seine Hauspatschen verkehrt herum, was sogar Marie auffiel. Das Absonderlichste an seiner Erscheinung war die grün-gelbliche Substanz, die sich von seinen Nasenlöchern bis zur Oberlippe zog. Der Bub hieß Stefan, wie Marie durch häufiges Ausrufen seines Namens seitens Autoritäten bereits wusste. Stefan schleckte über seinen Oberlippenrotz, ohne dessen Präsenz zu mindern. Zusätzlich versuchte er ihn lautstark, aber ebenfalls erfolglos, in seine Stirnhöhlen aufzuziehen. Wie Marie an eindeutigen Spuren auf Stefans Ärmeln erkannte, benutzte er selbst diese zur Beseitigung des Sekrets. Maries Gesicht verzog sich angeekelt. Ihr Blick suchte nach der knabbernden Tante, die zwar unsympathisch war, aber bei Eskalation dieser Situation hilfreich werden könnte.

Stefan sagte etwas, Marie verstand nicht. Ihre Mutter hatte ihr eingebläut, nicht über andere Kinder zu lachen, sondern um gegenseitiges Auskommen bemüht zu sein. Marie jedoch bemühte sich, ihm zu entkommen. Doch er streckte ihr seinen mit eingetrocknetem Rotz beschmierten Ärmel entgegen, woraus eine nicht minder verklebte Hand ragte, die einen abgerissenen Zettel hielt. Stefan sagte etwas und grinste dabei. Sie getraute sich das Präsent nicht anzunehmen. Mit welchen Körperflüssigkeiten mochte es in Kontakt gekommen sein? Ihr Argwohn war nicht unbegründet.

Einem Quelle-Katalog, der auf unerfindlichem Wege in die Bücherecke gelang war, hatte er eine Seite entnommen. Auf dieser waren Unterwäsche-Sets der freizügigeren Art abgebildet. Marie kannte Versandhauskataloge aus elterlichem Hause. Sie hatte die gesellschaftliche Tabuisierung von Reizwäsche intuitiv wahrgenommen und in vorauseilendem Gehorsam jene Stellen stets überblättert. Der dünnhaarige Rotzlöffel allerdings hatte mit gleicher Intuition die Abbildungen herausgearbeitet und in missionarischem Eifer unters Volk beziehungsweise zu Marie gebracht. Die wollte allerdings nicht von Stefan missioniert werden. Da konnte er noch so lange mit seinem angefeuchteten Bildchen einer barbusigen Frau in Strapsen vor ihr stehen und über seine Oberlippe lecken.

Sie setzte zu einem Schrei nach dem Wachpersonal an, da verpasste ihr jemand von hinten eine Kopfnuss, dass ihr die Schädeldecke brannte. Der geplante Schrei erstarb. Marie rieb sich die Fontanelle und fragte den Aggressor, der sich frohgemut vor sie hinstellte, ob er verrückt sei. Dieser antwortete auf unverhoffte Weise. Er packte Maries Unterarm mit beiden Händen und drehte sie gegengleich. Brennnessel, hieß diese Behandlung zu meiner Zeit, weil die solcherart malträtierte Hautstelle ähnlich schmerzte wie bei besagtem Pflanzenkontakt.

Marie konnte sich dem Angreifer nicht entziehen. Er war größer als sie, außerdem fand er in Stefan einen tatkräftigen Unterstützer. Der versenkte seine langen Fingernägel in ihrem Arm und machte Drehbewegungen, als wollte er eine Zecke entfernen. Katharina hatte sich mit ihrer Beute in unbekannte Gefilde zurückgezogen, Marie war also völlig auf sich und mich gestellt. Sie trat gegen Stefans Schienbein und biss den Brennnessel-Verabreicher wohin sie nur konnte.

Ich war erprobt in Gefechten, die ich in jungen Jahren mit meinesgleichen auszutragen hatte. Diesen Scharmützeln war unter keinen Umständen zu entkommen, ein Drücken undenkbar. Jeder musste die eigene Stellung innerhalb der Gruppe behaupten, sich eine Position möglichst weit oben in der Rangordnung erarbeiten, damit er künftigen Angriffen weniger exponiert ausgesetzt sein würde. Mädchen waren bei diesen Hahnenkämpfen nicht geduldet. Niemals hätten wir uns an ihnen vergriffen, nicht weil wir edel waren, sondern weil wir uns mit ihnen nicht abgegeben hätten. Sie kamen in unserem Kosmos nicht vor. Selbst wenn eines durch verwandtschaftliche Umlaufbahn zufällig hineingeragt wäre, hätte es lediglich Missachtung geerntet.

Doch diese Lümmel im Gehege der Kinderfreunde (ich wusste, weshalb ich diesem Euphemismus misstraute) hatten es ausschließlich auf Mädchen abgesehen. Als Maries Kräfte schwanden, setzte sie zum Tante-Ruf an, den sie diesmal aus vollen Lungen vollführte. (Wir erinnern uns an diesbezügliche Kubatur und Übungen im Säuglingsalter, denen ich schutzlos ausgesetzt gewesen war.) Der Ruf erreichte zweierlei Ziel, was, wie ich fand, kein geringer Erfolg war. Denn welcher Pfeil kann sich schon rühmen, zwei Orte gleichzeitig zu treffen? Maries Pfeil stach ins Ohr der knabbernden Tante, welche sich daraufhin eiligst zu der um Hilfe Bittenden bemühte. Weiters schlug er die Lackeln in die Flucht. Er landete in deren Mitte, worauf die beiden von ihrem Opfer abließen und sternförmig auseinanderliefen. Als die Tante bei Marie ankam, befand sich diese allein.

Was denn los sei?, wurde seitens Wachpersonal gefragt. Was Marie hier herumbrülle, wo hier niemand herumzubrüllen habe?

»Da«, sagte Marie, im Moment der Not auf verbalem Gebiete retardierend. Sie zeigte ihre geröteten Unterarme. Die Aufsichtsperson sah, allein sie wollte Zwickspuren nicht als Ausrede für Krüditäten gelten lassen. Es müsse hier Ruhe herrschen, lautete ihre Expertise, zumindest ein Lautstärkepegel, der eines Kindergartens, nicht einer Irrenanstalt würdig sei. Neue Gruppenmitglieder hätten sich an hiesige Gepflogenheiten anzupassen, damit sie sich keine Extrawürste – Würschtln, sagte das Personal – herausnähmen. Hier würde jede über den gleichen Kamm geschoren und dieser zeige grobe Zähne. Das solle sich das Fräulein bitte merken.

»Die haben mich gehaut«, verteidigte sich Marie, deren Unterarme noch immer brannten. Mangels ausreichender Tatverdächtiger (die beiden Angreifer saßen getrennt voneinander in unterschiedlichen Bereichen des Zimmers und gaben sich unbeteiligt), wertete die Tante Maries Behauptung als infame Lüge.

Mir war die Verbindung von Inkompetenz und Ignoranz, die häufig zu Ungerechtigkeiten führt, bei sogenannten oder selbsternannten Autoritäten durchaus geläufig. Fast erkannte ich darin eine unausweichliche Ursächlichkeit, als müssten Vorgesetzte jedweder Institution die Fertigkeiten »mangelnde Menschenkenntnis« und »fehlende Wahrnehmung« aufweisen, um ihren Posten auszukleiden, in dessen Folge sie ihre Fehlurteile erbarmungslos exekutierten. Marie jedoch stand dem Verhalten der Tante bar jeden Erfahrungspotenzials schutzlos gegenüber.

Ihr trieb die als ungerecht empfundene Beschuldigung Tränen in die Augen. Ich wollte in dieser heiklen Situation nicht durch Sehbehinderung ausgeschlossen sein, daher bat ich Marie, sich ihre Verzweiflung bloß nicht anmerken zu lassen. Denn es war ausgemachte Sache, dass es in jenem Menschenschlag Wohlbefinden auslöst, wenn sie Gedemütigte leiden sehen. Weshalb ich Marie anriet, auf jedes äußere Zeichen ihres Kummers zu verzichten.

Hing Maries Kopf zunächst noch mutlos zwischen ihren Schultern, blinzelte sie während meiner Erläuterungen die Tränenflüssigkeit aus den Wimpern und richtete ihr Näschen immer weiter nach oben aus. Doch wofür ich Marie lobte, das missinterpretierte die Autorität in standesgemäßer Weise als für diesen Ort unpassenden Hochmut. Und ein solcher musste auf der Stelle mittels Bestrafung ausgetrieben werden. Die Tante führte Marie zu einer Tür, die meiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war. »Bis zum Mittagessen bleibst du hier drin«, schob sie Marie in ein dunkles Kammerl und schloss die Tür hinter ihr.

Marie verfiel augenblicklich in Panik, die ich von ihren nächtlichen Martern her kannte. Häufig schreckte sie aus tiefem Schlaf hoch und fühlte sich bedroht von umliegender Dunkelheit. Sie presste die Augenlider zusammen, um das Nichts um sich nicht sehen zu müssen und verkroch sich mit angezogenen Beinen unter die Decke, wo ihre Stofftiere auf sie warteten. »Wir sind in Sicherheit, ihr rückt an mich heran und bleibt unter der Decke«, erklärte sie den Stofftieren, die stumm blieben. Maries Beklemmung zeitigten körperliche Auswirkungen. Sie schwitzte, ihr Herz klopfte, sie hörte Ungeheuer mit scharfen Klauen und gefletschten Reißzähnen ums Bett schleichen. Die Luft unter der Decke wurde zunehmend schlechter. Marie getraute sich dennoch nicht, ihre Zehe unter der Decke hervorzustrecken, auch wenn genau das ihr sehnlichster Wunsch und einzige Maßnahme für etwas Abkühlung war. Aber sie wusste, alle Bestien warteten nur darauf, dass sie es unter der Decke nicht mehr aushielte. Sobald sie ihren Arm hervorlugen ließe, würden sie sich sofort darauf stürzen. Nur regungsloses Verharren schützte. Sie wimmerte leise, was das umherschleichende Knurren und Hecheln übertönte. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Es war unerträglich heiß und bedrückend. Sie packte ihren Stoffhund Johnny und reckte die Nase über den Deckenrand. Die Dunkelheit des Zimmers war vom einfallenden Licht der Straßenlaterne aufgelockert worden. Sie erkannte vertraute Umrisse. Die Ungeheuer waren schlau und duckten sich unter ihr Bett, weshalb Marie sie zwar nicht sehen, aber weiterhin hören konnte. Sie schaute zur angelehnten Tür. Fiel durch den Spalt beim Einschlafen Licht vom Wohnzimmer zu ihr herein und beruhigte sie, sah sie jetzt tiefste Schwärze, in der ihr ein Wolf mit rasselndem Atem auflauerte.

Und in selber Angststarre stand sie im Kindergarten hinter der Kammerltür und harrte aller Übel, die im Schutze der Finsternis über ihr hereinbrächen. Doch anders als gewohnt, schärften sich plötzlich ihre Sinne. Sie hörte, wie Kinder vor der Tür durchs Zimmer liefen, nahm das Trampeln von Hausschuhen auf dem Linoleum aus. Bauklötze fielen zu Boden, ein Kind weinte, jemand musste sich unerlaubterweise Zugang zum Tamburin verschafft haben. Sie hörte die keifende Stimme der Aufsichtsperson. Hölzerne Schienenstränge der Brio-Bahn schepperten, und über allem lag Raunzen, Jammern und Klagen.

 

Dank dieser Klänge legte Marie ihre Furcht ab. Sie war erleichtert, im Kämmerchen vor tobendem Kindergartenleben geschützt zu sein. Gleichzeitig schien ein dünner Lichtstreifen beim Türschlitz herein und erhellte den kleinen Raum. Ihre Augen gewöhnten sich an die spärlichen Lichtverhältnisse. Marie wagte sich umzudrehen. In der Tiefe des Kämmerchens waren Matratzen gestapelt, die für die Nachmittagsruhe bereit lagen. Zusätzlich warteten Decken und Pölster in Regalen auf ihren Einsatz. Marie inspizierte das Kämmerchen auf das Genaueste. Sie kletterte auf den Mattenturm, stieg am offenen Kasten wie auf einer Leiter empor. Sie fühlte sich geborgen. Hier drin herrschte Ruhe und die Aussicht auf individuelle Beschäftigung. Das Kämmerchen bot ihr Freiraum. Nachdem sie ausgiebig herumgeturnt hatte, streckte sie sich auf der obersten Matte aus, deckte sich zwecks gesteigerter Gemütlichkeit mit ein paar Decken zu und war sehr zufrieden mit ihrem Verlies.

Ich war stolz auf Maries Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Sie fasste eine Strafe als Belohnung auf, was ihr einerseits Deutungshoheit verlieh und andererseits lebenslang helfen würde, Autoritäten zu untergraben. Sie lag auf ihrer komfortablen Schlafstätte, die Anleihen bei einschlägigen Märchen nahm, wo Prinzessinnen auf Erbsen zu ruhen beliebten. Von draußen schallte Kinderfreunde-Lärm herein. Sie lauschte dem Hintergrundrauschen wie einer Brandung, die zu Füßen eines sicheren Felsens gischt, und fand leichten Schlaf.

Entlarvender Essensgeruch drückte sich mit Dreistigkeit sowie einem Zweiklang aus Geschirr- und Besteckklirren durch den Türschlitz und kündigte bevorstehendes Mittagessen an, was Marie erwachen ließ. Schon hörte sie die bedrohlichen Schritte des in Holzschlapfen steckenden Wachpersonals. Sie sprang vom Matratzenturm, stopfte das Bettzeug dorthin zurück, woher sie es genommen hatte, und stellte sich mit gesenktem Haupt vor die Tür, als hätte sie reumütig auf ihre Befreiung gewartet.

Die Tür tat sich auf. Im Gegenlicht sah Marie den Umriss der Autorität, von der sich krauses Haar abhob. Im Hintergrund wuselten Kinder auf der Suche nach dem geeigneten Platz am Mittagstisch umher. Andere starrten Marie entgegen, begierig, eine Rückkehrerin aus dem Schattenreich zu erspähen. Marie schritt aus der Finsternis wie Orpheus aus der Unterwelt. Einige wichen respektvoll zurück, andere suchten Spuren des Kampfes, der Verzweiflung, zumindest der Niedergeschlagenheit. Die Wachperson hielt vergeblich nach Gesten der Reue Ausschau, stieß aber auf unleugbare Anzeichen von Selbstsicherheit, welche ihr nicht genehm waren, dünsteten sie doch Widerstand, Aufmüpfigkeit und den beängstigenden Geruch des Machtverlusts aus. Marie ließ sich nicht ablenken. Sie hielt ihre Augen geradeaus, vermied Blickkontakt, steuerte auf einen leeren Tisch zu, an dem sie sich niederließ und ihre Beine ausstreckte. Sie genoss die neu erworbene Aura der Unberührbaren.

Nach durchlebter Szene fiel meine Befürchtung von mir, ich könnte in der Zeit der Kinderverwahrung ungenügend Muße für meine Arbeit finden oder müsste mich ständig mit flegelhaften Fünf- bis Sechsjährigen auseinandersetzen. Da ich Maries Willen zur Anpassung und ihre Gefallsucht hinlänglich kannte, hatte mich die Vorstellung ewiger Anbiederung und damit einhergehender Enttäuschung in den vergangen Wochen stärker belastet, als ich mir eingestehen wollte. Nun war ich über Maries kurze, wenn auch schmerzhafte Läuterung und die daraus resultierende Isolation froh. Sie würde mir wieder voll und ganz für meine Zwecke zur Verfügung stehen. Gerade in der gewonnenen Einsamkeit erhob sich neue Möglichkeit für künftige Arbeit an R7/III – ein neuer Habitus.

Doch meine Freude währte nicht lange. Noch bevor die Suppe serviert wurde, stand ein pummeliges, auffallend schlecht gekleidetes Mädchen an Maries Tisch. »Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte es. Marie zuckte mit den Schultern. Das Mädchen nahm ihr gegenüber Platz. Dabei stieß sie an Maries Fuß. Dem Mädchen war ihr Missgeschick peinlich, es entschuldigte sich sofort. Gleichgültig zog Marie ihre Beine an und musterte ihre Tischnachbarin. »Ich heiße Isa«, sagte sie.

Hinter Isas braun-grünem Kleid mit Rüschenbesatz vermutete ich die minder begabte Schneiderskunst ihrer Oma. Die zu kurz geratenen Ärmel waren jedoch Isas Wachstum geschuldet. Der Haarschnitt, für den sicherlich ihre Mutter verantwortlich zeichnete, betonte durch asymmetrische Stirnfransen auf unglückliche Weise Isas runde Gesichtsform. Die finanzielle Impotenz ihrer Eltern war Isa so plakativ eingeschrieben, dass ihr der unterste Rang in hiesiger Hackordnung gesichert war, dafür hätte es ihres leichten Übergewichts sowie ihrer offenkundigen Tollpatschigkeit nicht bedurft.

Im Teller vor Marie schwammen aufgequollene Backerbsen. Mir setzte der Geruch von Fertigsuppe zu. Marie ekelte es vor der aufgeweichten Masse. Dennoch löffelte sie die Suppe leer und schaute dabei geradewegs auf Isa. Diese aß und starrte zurück. Als Hauptspeise wurde Cremespinat mit Salzerdäpfeln gereicht. Ein Gericht, dessen Einverleibung ich früher strikt verweigert hätte. Marie schmeckte es. Sie hielt Isa unter Beobachtung und hatte schon Etliches gesammelt, um eine ausgereifte Aversion gegen sie aufzubauen. Isas Schmatzen störte genauso sehr wie die unmögliche Art, mit der sie ihren Löffel hielt. Marie vermutete, dass sie noch nicht einmal mit Messer und Gabel umgehen konnte. Zu ihrem größten Ärgernis hing Spinat in Isas Mundwinkel. Maries Abneigung schwoll bis zu einem Ausmaß an, das nach körperlicher Energieabfuhr verlangte.

Marie kickte ihren Fuß von sich und traf Isas Schienbein. Diese schrie auf, ließ ihren Löffel fallen, was Spinat auf Tischplatte und Großmutterkleid verspritzte. Marie trat erneut zu. Isa schrie: »Au!« Beim nächsten Tritt zuckte sie nur noch lautlos zusammen. Ich las zunehmende Traurigkeit von ihrem Gesicht ab, die sich mit jedem Stoß zu einer Enttäuschung über die Grausamkeit der Menschheit steigerte. Und Marie setzte ihr gewalttätiges Handeln fort. Sie wartete darauf, dass Isa sich zur Wehr setzen, zurückschlagen würde. Doch die sank in sich zusammen, als ließe ihr jemand Luft aus, und faltete sich zu einem Häufchen, in der Hoffnung, bald nicht mehr getroffen zu werden.

Diese Situation erfordert zusätzliche Stellungnahme zu meiner Person. Ich sah meine Aufgabe in Maries Präparation für meine Arbeit. Ich wollte sie bei allen Teilschritten auf dem langen Weg zum Schrifttum unterstützen, ihr meine Erfahrung und mein Wissen beim Verfassen meines Werks zur Verfügung stellen. Doch für ihre moralische Entwicklung fühlte ich mich weder zuständig noch geeignet. Ich bin keiner, der sich rühmt, zeit seines Lebens besonnen und integer gehandelt zu haben. Ich enthielt mich daher der Einmischung auf diesem Gebiet vorsätzlich.

Ganz unverhofft hob Isa den Blick, heftete ihre Augen auf Marie, sagte nichts, fixierte sie nur. Mir war, als funkelte ein seltsam smaragdenes Blitzen auf, so kurz, dass es sich auch um optische Täuschung handeln konnte. Marie hörte zu treten auf und erwiderte Isas Blick. Ihre grüne, klare Iris erinnerte mich an die Weiten sibirischer Wälder und an meine Kriegsgefangenschaft. Ich empfand Sentimentalität, Schwermut und unermessliche Traurigkeit.

»Entschuldige«, hörte ich Marie plötzlich sagen. »Es tut mir leid, ich werd’s nie wieder tun.« Sie versuchte zu lächeln. Vielleicht war da eine Prise Schuld, etwas schlechtes Gewissen und womöglich noch eine Nuance Mitleid, jedenfalls wallte ein Gefühlsgemisch durch Maries Herz. »Willst du meine Freundin sein?«, fragte sie. Weil Isa noch immer nur schaute und schwieg, formulierte Marie ihre Frage um. »Wollen wir Freundinnen sein?«

Es passt so einiges in ein Kinderherz, nur keine Rührseligkeit. Isa willigte der angetragenen Freundschaft durch Nicken zu, lächelte, wischte sich mit ihrem kurzen Ärmel Spinatreste vom Mund. Marie grinste, schnappte ihren Teller und leckte ihn sauber. »Schau«, sagte sie, legte ihre Hände an den Tellerrand und verdeckte das rote Emblem der Kinderfreunde, welches dort appliziert war. »Wo ist das Herz? Rate!«, forderte sie auf. Isa tippte auf Maries linke Hand, welche angehoben wurde und Sicht auf das rote Symbol gab. »Gewonnen!«, rief Marie und strahlte Isa an.

Plötzlich stand Marie auf. »Komm«, sagte sie und wollte Isa die Funktionsweise ihrer Sprechpuppe vorstellen, welche sie bei Katharina glaubte. Diese saß auf dem Boden vor dem Puppenhaus, betraut mit dessen Interieur. Als Marie sie fragte, wo die Puppe sei, zuckte Katharina mit den Schultern und meinte, zuletzt habe sie sie in der Spielecke gesehen. Marie ging mit Isa zu besagtem Ort, fand dort ihre Puppe verwaist und unbeaufsichtigt. Was sie zusätzlich entdeckte, war die Malfunktion des Abspielmechanismus beim Demonstrationsversuch. Es stellte sich sozusagen ein umgekehrter Vorführeffekt ein. Offensichtlich hatte jemand die filigrane Plastiknadel abgebrochen. Wer sonst außer Katharina der Bösen konnte diesen Akt mutwilliger Zerstörung ausgeführt haben? Gerade sie, die in fachmännische Handhabung und umsichtige Nutzung eingeweiht worden war, hatte die Puppe zu ewiger Stummheit verdammt. Ein Verrat war begangen worden.

Isa sah ihrer Freundin die Enttäuschung an, denn damit kannte sie sich aus. »Tut mir leid«, sagte sie.

Zuerst nickte Marie und genoss Isas beileidspendende Hand auf ihrem Oberarm als Zeichen vollster Unterstützung. Dann schnaufte sie und war mit einigen entschlossenen Schritten vor dem Puppenhaus. »Warum hast du die Nadel abgebrochen? Das hast du mit Absicht getan!«, schrie sie.

Katharina drehte sich wie in Zeitlupe um, schlug ihre Augenlider auf, fragte ein gedehntes »Waaas?«, als wüsste sie nicht, wovon die Rede war. Ihr liebliches Gesicht machte mich zweifeln. Könnte sie tatsächlich zu solch infamer Bösartigkeit fähig sein? Wohl wissend, dass ein unschuldiges Antlitz allzu oft als willkommene Camouflage für Schändliches diente.

»Du hast meine Puppe kaputt gemacht.«

Wie erwartet, bestritt Katharina die Böse jegliche Beteiligung an Vandalismus, die Beschädigung hätte von jedem der Anwesenden stammen können.

»Warum hast du sie mir nicht zurückgegeben, wie sie noch ganz war?«, fragte Marie. Isa stand schräg hinter ihr als Rückendeckung und Verstärkung für möglichen Ernstfall.

Katharinas Wimpern hingen auf Halbmast, was nicht nur einen schläfrigen, sondern in höchstem Grade ahnungslosen Eindruck vermittelte. Marie habe, so lautete ihre Verteidigung, die wie der Gedankengang einer Somnambulen klang, den Eindruck erweckt, nicht weiter an der Puppe interessiert zu sein, weshalb Katharina nichts Unrechtes an der Vergesellschaftung der Puppe sah. Freilich formulierte Katharina die Böse ihre Worte kindgemäß, was ich mir bei deren Wiedergabe abzuändern erlaubte.

Weniger kindgerecht, dafür umso überraschender war Maries Faust, die einem Hammer gleich auf Katharinas Schädel plauzte. Alle Beteiligten, einschließlich Marie, staunten dabei nicht schlecht, war ihnen doch unklar, von welchem Epizentrum sich dies Gewaltpotenzial speiste. Marie kam weiterer Plombierung nach, verdrosch Katharina die Böse so lange, bis die Stimme der Aufsichtsperson durch den Raum schnitt.

Das Opfer wusste, dass nun die Zeit für Tränen gekommen war, die es in beachtlichen Mengen fließen ließ. Andernorts hätte man ihre Darbietung als übertrieben kritisiert und mit Misstrauen beäugt. Für die Autoritätsperson war es gerade ausreichend, um Opfer von Täter zu unterscheiden. Während sie dieses bedauerte und jenen schimpfte, zogen Marie und Isa die Köpfe ein, was die Autorität in der ihr eigenen Inkompetenz als vorauseilende Angst vor Bestrafung missinterpretierte. In vollem Bewusstsein ihrer Macht deutete ihre ausgestreckte Hand auf die Tür des Kämmerchens. Kein Kind habe es jemals erfordert, zweimal an einem Tag dieser Sanktion unterzogen zu werden, was als Ausdruck höchster Verrohtheit angesehen wurde.

Als die wiederholt straffällig gewordene Marie ihr Verlies erneut betrat, sah ich schadenfrohe Genugtuung über Katharinas Mund huschen, was der Autorität selbstredend verborgen blieb.

»Da haben sich zwei gefunden«, sagte die, schob Isa zu Marie ins Kammerl und ließ die Tür ins Schloss fallen. Finsternis umgab die beiden. Isa hielt den Atem an. »Keine Angst«, sagte Marie und nahm Isas Hand. »Gleich wird’s heller.«

Als die beiden aus ihrer Haft entlassen wurden, blinzelten sie in eine beinahe entvölkerte Kindergartengruppe. Anscheinend waren viele, während Isa und Marie an den Regalen wie kleine Äffchen geklettert und über ausgebreitete Matten gesprungen waren, sowie sich eine lautlose Polsterschlacht geliefert hatten, abgeholt worden.

 

»Ihr beiden habt es zwar nicht verdient, aber ihr dürft euch aussuchen, ob ihr mit den Kleineren ein Nachmittagsschläfchen halten wollt oder lieber in den Garten geht«, sagte die Aufsichtsperson. Mich erstaunte, dass sie noch immer Knabbereien aus ihrer Manteltasche schöpfte wie aus einer immerwährenden Quelle. Die wenigen noch verbliebenen Kinder lagen unter ihren Decken auf den Matten. Jedes hatte seine Patschen parallel zueinander neben die Schlafstelle gestellt. Sie wussten, wer brav schlief, bekam eine Süßigkeit in den Schuh.

Kaum hatten sich Maries Pupillen an das Licht der Nachmittagssonne gewöhnt, grinste sie Isa an und deutete Richtung Garten. Eine Glastür in der Fensterfront stand offen und führte auf die Terrasse, die sich in fünf Stufen auf die Ebene des Spielplatzes begab und in weitläufige Grünfläche erstreckte. An Sandkiste, Klettergerüst und Wippe gingen die beiden unbeeindruckt vorbei. Ohne Absprache steuerten sie eine Trauerweide an, die sich bereits herbstlich gelb einfärbte. Ihre Äste reichten bis zum Boden und bildeten einen Vorhang um die nahe am Stamm befindliche kleine Hängebrücke mit frei schwingenden Holzsprossen. Sie setzten sich einander gegenüber auf die Holzträger der Konstruktion. Marie legte ihren Kopf in den Nacken und schaute in die von schrägem Sonnenlicht durchflutete Baumkrone, die sich wie ein Schutzschirm über sie spannte. Es roch warm und ein wenig abgestanden, da der Laubsturz Luftzirkulation erschwerte.

Mir war wohl an diesem Ort. Zudem war der Garten kinderfrei und ruhig. An einem Platz wie diesem hätte ich meinen Schreibtisch aufstellen, meine Arbeit angemessen beginnen und durchführen können. Ich sah bereits, wie Marie über den Skripten saß und ich ihr Zeile für Zeile diktierte; wie wir in diesem Idyll meinen Roman vollendeten.

»Schön, oder?«, sagte Isa. Sie schaute ins gewölbte Blätterdach, fing sich einen Zweig, holte ihn zu sich und untersuchte dessen Aufbau. Die Weide war weich, ihre Rinde leicht ablösbar, darunter verbarg sich eine helle, fast weiße Gerte. Isa riss den Zweig ab, was eine Vielzahl an schlanken, gelben Blättern regnen ließ.

»Was machst du da?«, fragte Marie und wischte das Laub von ihrem Kleid.

»Ich bastle mir eine Rute. Das wird unsere Waffe. Damit kann ich uns verteidigen«, sagte Isa und kletzelte die weiche Rinde ab. »Schau!«

Noch bevor sie fertig war – einige Restblätter wedelten am Ende des Zweigs –, ließ sie ihn wie eine Peitsche durch die Luft schnalzen. Marie staunte ihre Freundin an. Als sich ihre Blicke trafen, nahm ich wieder das seltsame optische Phänomen in Isas grünen Augen wahr, ein rasches Hervorfunkeln von etwas, das kostbar wie ein Edelstein aufblitzte, aber bei zweitem Blick, zur Versicherung, ob das Wahrgenommene real sei, nicht mehr auffindbar war und mich mit eingebildetem Trugbild irritiert zurückließ.

»Meinst du, wir werden das wirklich brauchen?«, fragte Marie.

Isa hielt in ihrer Tätigkeit inne. Ich merkte, wie sie ihre Worte mit Bedacht wählte, als wollte sie Maries Naivität nicht allzu grob beuteln. »Heute ist mein erster Kindergartentag«, sagte sie.

»Meiner auch!«, rief Marie.

»Ich hab mein schönstes Kleid an, Mama hat mir extra für heute die Haare geschnitten und trotzdem finden mich alle hässlich.«

»Es tut mir leid, dass ich so gemein zu dir war«, sagte Marie. Isa lächelte kurz.

»Die werden mich nicht in Ruhe lassen, das weiß ich.«

»Glaubst du nicht, dass es mit der Zeit besser wird?«, fragte Marie.

Isa fixierte Marie. Das smaragdgrüne Funkeln war jetzt eindeutig, zwar kurz, nur eine Zehntelsekunde, aber untrüglich, ich hatte mich nicht geirrt, da war etwas in Isas Augen.

»Damit schon«, sagte Isa und deutete auf die Rute.

»Außerdem sind wir jetzt Freundinnen«, sagte Marie.

»Genau. Wir halten zusammen«, sagte Isa und hieb mit der Gerte auf den Holzträger; diese klatschte auf, wickelte sich kurz um das Holz und sprang elastisch wieder zurück.

»Komm!«, rief Marie, hüpfte vom Gerüst und lief zur Doppelschaukel. Isa rannte hinterher und setzte sich neben sie.

»Ich kann höher«, sagte Isa, tauchte mit aller Kraft an, indem sie ihren Oberkörper vor und zurück lehnte und den Schwung der Schaukel steigerte. Marie tat es ihr nach, bis die beiden im Gleichklang ihre Bögen auf und ab durch die Luft zogen, zunächst noch angestrengt, um an Höhe zu gewinnen, dann lachend, weil sie die Fliehkräfte genossen. Marie fühlte sich so unbeschwert, dass sie den sogenannten Sommerhit des Jahres anstimmte.

»Neunundneunzig Luftballons auf ihrem Weg zum Horizont«, sang sie. Über Monate hinweg war es unvermeidbar gewesen, das Lied mitanzuhören. Allerorten schallte das Gewinsel aus Lautsprechern und Radios, fand massenhafte Verbreitung. Marie summte die Melodie wann immer sie tagträumte oder Zähne putzte.

Ich litt Qualen.

»Das kenn’ ich«, rief Isa, klammerte sich mit beiden Händen fest an die Ketten der Schaukel, lehnte sich weit zurück, schaute in den Himmel. »Hast du etwas Zeit für mich?«, sang sie.

Marie machte ihrer Freundin den verwegenen Schaukelstil sofort nach. Ich befürchtete, sie könnte hintüber fallen und sich den Schädel entzweischlagen. Körperliche Verletzungen zogen zweifelsohne auch mich in Mitleidenschaft, weshalb ich um Maries Unversehrtheit bangte.

»Dann singe ich ein Lied für dich«, sangen die beiden, »von 99 Luftballons und dass so was von so was kommt.«

»Marie!«, schrie die Aufsichtsperson von der Terrasse zu ihnen herüber. Maries Mutter stand daneben und winkte. Die Mädchen hatten zwar ihren Gesang beendet, wollten aber ihr Schaukeln fortsetzen. »Komm jetzt, Marie!«, rief die Mutter. Ich sah, wie sie mit dem Wachpersonal sprach und beide lachten.

»Na gut«, seufzte Marie und sprang am Scheitelpunkt der Sinuskurve von der Schaukel, ruderte im Flug mit den Armen, setzte beidbeinig auf, federte in der Hocke nach, stand auf und ging auf ihre Mutter zu, während die Schaukel hinter ihr ausschwang. Isa folgte ihr mit einem ebenso gewagten Absprung, wenn auch nicht so eleganter Landung.

»Beeil dich, ich muss noch einkaufen«, sagte die Mutter.

»Ich will noch weiterschaukeln. Hast du gesehen, wie hoch ich schon gekommen bin? Fast bis zum Mond!«, sagte Marie.

Die Mutter versicherte bewundernd, alles gesehen zu haben, und lächelte mit Seitenblick zur Aufsichtstante, die ihrerseits über die Drolligkeit der Kleinen schmunzelte. Bei geänderten Machtverhältnissen ist einer Autoritätsperson die Anbiederung an das Nächsthöhere angeboren. Ihrem Instinkt folgend, verschwieg sie Maries Vergehen. Etwaiges Ausplauern hätte eine Offenlegung ihrer fragwürdigen pädagogischen Maßnahmen nach sich gezogen, war folglich zu vermeiden. Stattdessen lobte sie Maries Lebhaftigkeit und schnelle Auffassungsgabe.

»Das ist übrigens Isa, meine Freundin«, sagte Marie.

Isa schüttelte Maries Mutter artig die Hand. Als die allgemeine Verabschiedung vollzogen und das morgige Wiedersehen vereinbart waren, trat genau zu dem Zeitpunkt, da Marie und ihre Mutter die Terrasse und in weiterer Folge den Kindergarten verlassen wollten, Isas Mutter in Erscheinung. Isa umarmte sie, als kehrte sie aus einem Krieg, zumindest aus langjähriger Gefangenschaft, heim. Es erfolgte erstes Kennenlernen, wobei weder an Oberflächen gekratzt noch an Grundfesten gerüttelt, aber sich der wechselseitigen Sympathie versichert wurde. Die beruhte nicht zuletzt auf dem Ausruf von Isas Mutter: »Ah, Sie holen ihre Tochter auch so spät ab.«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?