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Arena Eins: Die Sklaventreiber

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Aus der Reihe: Trilogie Des Überlebens #1
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Nach wenigen Momenten ist das Zimmer hell erleuchtet und ich kann schon die Wärme fühlen. Wir stehen am Feuer und ich strecke meine Hände aus, reibe sie und lasse die Wärme meine Finger durchdringen. Langsam kehrt das Gefühl in sie zurück. Allmählich kann ich den langen Tag im Freien ablegen und ich fühle mich wieder wie ich selbst.

„Was ist das?“, fragt Bree dann und zeigt quer über den Boden. „Es sieht aus wie ein Fisch!“

Sie rennt herüber und ergreift ihn, hebt ihn hoch, und schon rutscht er ihr aus den Händen. Sie lacht, und Sasha, der nichts entgeht, fasst wieder mit ihren Pfoten danach, so dass er wieder quer über den Boden schlittert. „Wo hast Du ihn gefangen?“, fragt Bree aufgeregt.

Ich hebe ihn auf, bevor Sasha noch mehr Schaden anrichten kann, öffne die Tür und werfe ihn nach draußen in den Schnee. Dort wird er sich besser halten und außerhalb der Schusslinie sein. Dann schließe ich die Tür hinter mir.

„Das war meine andere Überraschung“, sage ich. „Wir werden heute ein Abendessen haben!“

Bree rennt herüber und umarmt mich. Sasha bellt, als verstünde sie. Ich umarme sie zurück.

„Ich habe noch zwei weitere Überraschungen für Dich“, kündige ich mit einem Lächeln an. „Die gibt es zum Dessert. Soll ich bis nach dem Abendessen warten? Oder willst Du sie jetzt?“

„Jetzt!“, ruft sie aufgeregt.

Ich lächele, ebenfalls aufgeregt. Das wird sie bis zum Abendessen auf den Beinen halten.

Ich greife in meine Tasche und ziehe das Marmeladenglas hervor. Bree sieht es seltsam an, unsicher zumindest, und ich schraube den Deckel ab und halte ihn unter ihre Nase. „Öffne Deine Augen“, sage ich.

Das tut sie. „Und jetzt atme ein.“

Sie atmet tief und ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. Sie öffnet ihre Augen.

„Es riecht nach Himbeeren!“, ruft sie aus.

„Es ist Marmelade. Mach schon. Probier sie.“

Bree steckt zwei Finger hinein, nimmt eine große Portion und isst sie. Ihre Augen strahlen.

„Wow“, sagt sie, als sie noch einmal hineingreift, noch eine große Portion herausnimmt und sie Sasha hinhält, die herüberrennt und diese ohne Zögern herunterschluckt. Bree lacht hysterisch und ich schließe den Deckel, dann packe ich das Glas hoch auf die Mauer, weg von Sasha.

„Ist das auch aus unserem neuen Haus?“, fragt sie.

Ich nicke, erleichtert, zu hören, dass sie das schon als unser neues Zuhause begreift.

„Und es gibt noch eine letzte Überraschung“, sage ich. „Aber diese eine muss ich wohl bis zum Abendessen aufsparen.“

Ich nehme die Thermoskanne aus meinem Gürtel und stelle ihn noch weiter oben auf die Mauer, wo sie nicht sehen kann, was es ist. Ich kann sehen, wie sie ihren Hals reckt, aber ich verstecke es gut.

„Vertrau mir“, sage ich. „Du wirst es mögen.“

*

Ich will nicht, dass das Haus nach Fisch stinkt, also entschließe ich mich, der Kälte zu trotzen und bereite den Lachs draußen vor. Ich nehme mein Messer mit nach draußen und beginne zu arbeiten, dafür lege ich den Fisch auf einen Baumstumpf und knie mich davor. Ich weiß nicht genau, wie ich das machen soll, aber ich weiß genug, damit mir klar ist, dass man weder Kopf noch Schwanz isst. Also fange ich damit an, diese abzuschneiden.

Die Flossen werden wir auch nicht essen, also hacke ich die auch ab – und die Schuppen entferne ich auch, so gut es geht. Dann gehe ich davon aus, dass man ihn öffnen muss, um ihn zu essen, also schneide ich, was übrig ist, sauber in zwei Hälften. Zum Vorschein kommt ein dickes, rosafarbenenes Innen, gefüllt mit vielen kleinen Gräten. Ich weiß nicht, was man sonst noch tun sollte, also nehme ich an, es ist bereit zum Kochen.

Bevor ich wieder hineingehe, habe ich das Bedürfnis, mir die Hände zu waschen. Ich greife einfach etwas Schnee und spüle meine Hände damit ab, dankbar für den Schnee – normalerweise muss ich zum nächsten Bach gehen, weil wir über kein fließendes Wasser verfügen. Ich erhebe mich, und bevor ich reingehe, halte ich einen Moment inne und nehme meine Umgebung auf. Zuerst lausche ich, wie ich es immer tue, auf Zeichen von Lärm, von Gefahr. Nach mehreren Sekunden erkenne ich, dass die Welt so still ist, wie sie nur sein kann. Schließlich entspanne ich mich langsam, atme auf, fühle die Schneeflocken auf meinen Wangen, genieße die absolute Ruhe und merke wieder, wie einfach umwerfend schön meine Umgebung ist. Die thronenden Kiefern sind mit Weiß bedeckt, der Schnee fällt endlos aus einem violetten Himmel und die Welt scheint perfekt, wie im Märchen. Das Feuer des Kamins scheint durch das Fenster, und von hier aus sieht unser Haus wie der gemütlichste Ort auf der Welt aus.

Ich nehme den Fisch mit ins Haus, schließe die Tür hinter mir, und es ist ein gutes Gefühl, in einen Raum zu kommen, der so viel wärmer ist. Das weiche Licht des Feuers reflektiert alles auf allem. Bree hat das Feuer gut gepflegt, wie immer, die Holzscheite geschickt nachgelegt, und jetzt lodert es sogar noch höher. Sie legt Gedecke auf den Boden, am Kamin, mit Messern und Gabeln aus der Küche. Sasha sitzt aufmerksam neben ihr und beobachtet jede Bewegung.

Ich trage den Fisch zum Feuer hinüber. Ich weiß nicht wirklich, wie man ihn kocht, also werde ich ihn einfach eine Weile über das Feuer legen, ihn garen lassen, ein paar Mal umdrehen und hoffen, dass das funktioniert. Bree kann meine Gedanken lesen: Sie läuft sofort in die Küche und kehrt mit einem scharfen Messer und zwei langen Holzspießen zurück. Sie spießt beide Fischstücke auf, nimmt dann ihre Portion und hält sie in die Flamme. Ich tue es ihr gleich. Brees häusliche Instinkte waren meinen schon immer überlegen, und ich bin ihr sehr dankbar für Ihre Hilfe. Wir waren schon immer ein gutes Team.

Wir stehe beide da und starren auf die Flammen, wie hypnotisiert, und halten den Fisch über dem Feuer, bis unsere Arme schwer werden. Der Geruch nach Fisch erfüllt den Raum, und etwa zehn Minuten später habe ich schon Magenschmerzen und werde ungeduldig vor Hunger. Ich beschließe, dass mein Fisch fertig ist: Schließlich habe ich Leute schon rohen Fisch essen sehen, so schlimm kann es also nicht sein. Bree scheint derselben Meinung zu sein, also legen wir unsere Portionen auf unsere Teller und setzen uns auf den Boden, lehnen uns mit dem Rücken an die Couch und legen unsere Füße vor das Feuer.

„Vorsichtig“, warne ich sie. „Da sind immer noch sehr viele Gräten drin.“

Ich ziehe die Gräten heraus, Bree macht es genauso. Sobald ich genug von ihnen draußen habe, nehme ich ein kleines Stück von dem rosafarbenen Fleisch, das noch heiß ist, und bin gespannt auf den Geschmack.

Tatsächlich schmeckt es gut. Es könnte etwas Salz brauchen, oder irgendein Gewürz, aber zumindest schmeckt es gar und so frisch, wie es nur sein kann. Ich kann spüren, wie mein Körper das dringend notwendige Protein aufnimmt. Bree verschlingt ihren Fisch ebenfalls, und ich sehe die Erleichterung auf ihrem Gesicht. Sasha sitzt neben ihr, schaut sie an und leckt sich die Lippen. Bree wählt ein großes Stück aus, entgrätet es sorgfältig und füttert Sasha dann damit. Sasha kaut gründlich und schluckt dann, leckt ihr Maul und guckt wieder, sie will mehr.

„Sasha, hier“, sage ich.

Sie rennt zu mir herüber und ich ein Stück von meinem Fisch, entgräte ihn und füttere sie damit. Sie schluckt es innerhalb von Sekunden. Bevor ich weiß, ist mein Fisch schon weg – der von Bree auch – und ich bin überrascht, dass mein Magen schon wieder knurrt. Ich wünschte, ich hätte mehr gefangen. Dennoch war das ein größeres Abendessen, als wir seit Wochen hatten, und ich versuche, mit dem zufrieden zu sein, was wir haben.

Dann fällt mir der Saft wieder ein. Ich springe auf, hole die Thermoskanne aus ihrem Versteck und halte sie Bree hin.

„Na los“, lächle ich, „der erste Schluck ist für Dich.“

„Was ist das?“, fragt sie, schraubt die Kanne auf und hält ihre Nase daran. „Es riecht nicht nach irgendetwas.“

„Es ist Ahornsaft“, sage ich. „Wie Zuckerwasser. Aber besser.“

Sie nippt zögernd daran, sieht mich dann, die Augen weit geöffnet vor Freude. „Das ist köstlich!“, ruft sie aus. Sie nimmt mehrere große Schlucke, hält dann inne und gibt mir die Kanne. Ich kann nicht widerstehen und nehme selbst mehrere große Schlucke. Ich kann den Zuckerschock spüren. Ich beuge mich vor und gieße vorsichtig etwas in Sashas Schüssel. Sie leckt sie komplett aus und scheint es auch zu mögen.

Aber ich bin immer noch hungrig. In einem seltenen Moment der Schwäche denke ich an das Marmeladenglas und frage mich, warum nicht? Schließlich gehe ich davon aus, dass es in dem Häuschen auf dem Berggipfel noch viel mehr davon gibt – und wenn wir heute Abend keinen Grund zum Feiern haben, wann dann?

Ich hole das Marmeladenglas herunter, schraube es auf, fasse mit meinen Fingern hinein und nehme eine große Portion heraus. Ich lege sie auf meine Zunge und lasse sie in meinem Mund ruhen, so lange, wie ich kann, bevor ich schlucke. Es ist himmlisch. Den Rest vom Glas, immer noch halb voll, reiche ich Bree. „Mach“, sage ich. „Iss sie auf. In unserem neuen Haus gibt es noch mehr.“

Brees Augen öffnen sich weit, als sie danach greift. „Bist Du sicher?“, fragt sie. „Sollten wir sie nicht aufheben?“

Ich schüttele den Kopf. „Es ist an der Zeit, dass wir uns etwas gönnen.“

Bree braucht keine weitere Überredung. Innerhalb von wenigen Momenten isst sie alles auf, bis auf eine weitere Portion für Sasha.

Wir liegen dort, an die Couch gelehnt, unsere Füße am Feuer, und schließlich spüre ich, wie mein Körper beginnt, sich zu entspannen. Mit Fisch, Saft und schließlich der Marmelade fühle meine Kraft zurückkehren, allmählich. Ich sehe zu Bree hinüber, die schon einschläft, Sashas Kopf auf Ihrem Schoß, und obwohl sie noch krank aussieht, habe ich das erste Mal wieder das Gefühl, dass sie Hoffnung hat.

„Ich liebe Dich, Brooke“, sagt sie leise.

 

„Ich liebe Dich auch“, antworte ich leise.

Aber als ich hinüberschaue, schläft sie schon fast.

*

Bree liegt auf der Couch gegenüber dem Feuer, während ich nun im Stuhl neben ihr sitze. Eine Gewohnheit, die wir in den letzten Monaten entwickelt haben. Jeden Abend vor dem Schlafengehen rollt sie sich auf der Couch ein, weil sie zu viel Angst hat, in ihrem Zimmer alleine zu schlafen. Ich leiste ihr Gesellschaft, warte, bis sie eingeschlafen ist und trage sie dann ins Bett. An den meisten Abenden haben wir kein Feuer, aber wir sitzen trotzdem hier.

Bree hat immer Alpträume. Früher war das nicht so. Ich kann mich an die Zeit vor dem Krieg erinnern, als sie ganz leicht einschlief. Tatsächlich hatte ich sogar geneckt deswegen und hatte sie „Schlaf-Bree“ genannt, weil sie überall eingeschlafen war – im Auto, auf einem Sofa, bei einem Buch in einem Sessel. Aber jetzt ist es anders. Sie ist stundenlang wach, und wenn sie schläft, dann unruhig. In den meisten Nächten kann ihr Wimmern und ihre Schreie durch die dünnen Wände hören. Wer könnte ihr das vorwerfen? Nach dem Schrecken, den wir erlebt haben, ist es ein Wunder, dass sie nicht verrückt geworden ist. Es gibt zu viele Nächte, in denen ich selbst kaum schlafen kann.

Das Einzige, was ihr hilft, ist es, wenn ich ihr vorlese. Bei unserer Flucht hatte Bree glücklicherweise die Geistesgegenwart, ihr Lieblingsbuch mitzunehmen. Der liebende Baum. Jeden Abend lese ich ihr daraus vor. Inzwischen kann ich es auswendig, und wenn ich müde bin, schließe ich manchmal die Augen und rezitiere einfach aus dem Gedächtnis. Glücklicherweise ist es kurz.

Als ich mich im Stuhl zurücklehne, selbst schläfrig, schlage ich den abgegriffenen Buchdeckel auf und beginne zu lesen. Sasha liegt auf der Couch neben Bree, die Ohren gespitzt, und manchmal frage ich mich, ob sie auch zuhört.

„Es gab einmal einen Baum, und der liebte einen kleinen Jungen. Und jeden Tag kam der Junge und sammelte ihre Blätter auf, um Kronen daraus zu machen und König des Waldes zu spielen.“

Ich sehe hinüber und sehe, dass Bree auf der Couch schon fest schläft. Ich bin erleichtert. Vielleicht war es das Feuer, oder vielleicht das Essen. Schlaf ist, was sie jetzt am dringendsten benötigt, um sich zu erholen. Ich nehme meinen neuen Schal ab, der eng um meinen Hals gewickelt war, und lege ihn ihr vorsichtig auf die Brust. Schließlich zittert ihr kleiner Körper nicht mehr.

Ich lege ein letztes Holzscheit ins Feuer, lehne mich in meinem Stuhl zurück und drehe mich zu den Flammen, schaue hinein. Ich sehe zu, wie es langsam ausgeht, und ich wünschte, ich hätte mehr Scheite mitgebracht. Aber jetzt ist es auch egal. So ist es sicherer.

Ein Holzscheit knirscht, als ich mich zurücklehnte, entspannter, als ich es seit Jahren gewesen bin. Manchmal, wenn Bree eingeschlafen ist, nehme ich mein eigenes Buch und lese für mich selbst. Ich sehe es dort liegen, auf dem Boden: Der Herr der Fliegen. Es ist das einzige Buch, was ich noch habe, und es so abgegriffen, es sieht aus, als wäre es hundert Jahre alt. Es ist eine seltsame Erfahrung, nur noch ein einziges Buch übrig zu haben. Es macht mir klar, wie viel ich für selbstverständlich genommen habe, lässt mich nach den Tagen sehnen, in denen es noch Bibliotheken gab.

Heute Abend bin ich zu aufgeregt zum Lesen. Meine Gedanken rasen, Gedanken an Morgen, an unser neues Leben, hoch oben auf dem Berg. Ich gehe wieder alle die Dinge durch, wie wir von hier nach dort werden bringen müssen, und wie ich es anstellen werde. Da sind unsere Basics –unsere Utensilien, die Streichhölzer, was von unseren Kerzen, Decken und Matratzen übrig ist. Ansonsten haben wir beide kaum etwas, das man als Kleidung bezeichnen könnte, und außer unseren Büchern haben wir keinen anderen Besitz. Dieses Haus war ziemlich kahl, als wir angekommen sind, es gab keine Erinnerungen. Ich würde gerne diese Couch und diesen Sessel mitnehmen, obwohl ich dafür Brees Hilfe brauchen werde, das wird also warten müssen, bis sich gut genug fühlt. Wir werden das eins nach dem anderen machen müssen, erst nur die wesentlichen Sachen mitnehmen, die Möbel zum Schluss. Das ist in Ordnung; solange wir dort oben sind, sicher und geborgen. Das ist das Wichtigste.

Ich denke an alle möglichen Methoden, das Häuschen sogar noch sicherer zu machen, als es schon ist. Ich werde auf jeden Fall etwas brauchen, woraus ich Läden für die offenen Fenster machen kann, damit ich sie schließen kann, wenn es notwendig ist. Ich sehe mich um, überlege, was aus dem Haus ich verwenden kann. Ich werde Scharniere brauchen, und im Moment habe ich die Scharniere an der Wohnzimmertür im Auge. Vielleicht kann ich diese entfernen. Und wenn ich schon dabei bin, vielleicht kann ich die Holztür zersägen.

Je mehr ich mich umschaue, desto mehr fange ich an zu begreifen, wie viel ich hiervon noch gebrauchen kann. Ich erinnere mich, dass mein Vater einen Werkzeugkoffer in der Garage hatte, mit einer Säge, einem Hammer, einem Schraubendreher und sogar einer Box Nägel. Das gehört zu den wertvollsten Dingen, die wir haben, und ich mir eine geistige Notiz, den zuerst mitzunehmen.

Danach natürlich das Motorrad. Das ist mein vordringlicher Gedanke: wann und was wie mitzunehmen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, es zurückzulassen, nicht einmal für nur eine Minute. Das werde ich auf unserer ersten Tour nach oben mitnehmen. Ich kann nicht riskieren, den Motor zu starten und Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen – außerdem ist der Berghang zu steil, ich könnte nicht hochfahren. Ich werde es schieben müssen, direkt den Berg hoch. Ich kann schon jetzt voraussehen, wie anstrengend das wird, besonders im Schnee. Aber ich sehe keinen anderen Weg. Wenn Bree nicht krank wäre, könnte sie mir helfen, aber in ihrem aktuellen Zustand wird sie nichts tragen, ich gehe eher davon aus, dass ich sie sogar tragen muss. Mir wird klar, dass wir keine andere Wahl haben, als bis morgen Abend zu warten, auf den Schutz der Dunkelheit, um umzuziehen. Vielleicht bin ich nur paranoid – die Chancen, dass jemand uns beobachtet, sind winzig, aber dennoch ist es besser, vorsichtig zu sein. Besonders, weil ich weiß, es gibt noch andere Überlebende hier. Ich bin sicher.

Ich erinnere mich an den ersten Tag, als wir ankamen. Wir waren beide verängstigt, einsam und erschöpft. In der ersten Nacht gingen wir beide hungrig ins Bett und ich fragte mich, wie wir jemals überleben sollten. War es ein Fehler gewesen, Manhattan zu verlassen, unsere Mutter zurückzulassen, alles zu verlassen, was dort war?

Und dann unser erster Morgen. Ich erwachte, öffnete die Tür und war sehr überrascht, den Kadaver eines Rehs zu finden. Zuerst hatte ich Angst. Ich nahm es als Bedrohung wahr, nahm an, dass jemand uns sagte, wir sollten gehen, dass wir nicht willkommen seien. Aber nach dem ersten Schock wurde mir klar, dass es das auf jeden Fall nicht war: Es war eigentlich ein Geschenk. Jemand, ein anderer Überlebender, musste uns beobachtet haben. Er musste gesehen haben, wie verzweifelt wird waren, und in einem Akt äußerster Großzügigkeit beschlossen haben, uns seine Beute zu geben, unsere erste Mahlzeit, genug Fleisch für Wochen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wertvoll es für ihn gewesen sein muss.

Ich erinnere mich, wie ich nach draußen ging, mich umsah, den Berg hoch und hinunter, in die Bäume schaute, in der Erwartung, jemand würde auftauchen und winken. Aber niemand tauchte auf. Alles, was ich sah, waren Bäume. Und obwohl ich minutenlang wartete, hörte ich auch nichts, nur Stille. Aber ich wusste, ich wusste es einfach, dass ich beobachtet wurde. Da wusste ich, dass es hier oben andere Menschen gab, die überlebt hatten, genau wie wir.

Seit damals empfinde ich ein Art von Stolz, fühle mich als Teil einer schweigenden Gemeinschaft von isolierten Überlebenden, die in diesen Bergen leben, für sich bleiben, niemals miteinander kommunizieren, aus Angst, gesehen zu werden, aus Angst, für einen der Sklaventreiber sichtbar zu werden. Ich nehme an, so haben die anderen so lange überlebt: Indem sie nichts dem Zufall überlassen haben.  Zuerst habe ich es nicht verstanden. Aber jetzt weiß ich es zu schätzen. Aber seitdem fühle ich mich nicht mehr allein, obwohl ich nie jemanden sehe.

Jedoch hat es mich auch wachsamer werden lassen. Diese anderen Überlebenden, wenn sie noch leben, müssen jetzt ebenso hungrig und verzweifelt sein wie wir. Besonders in den Wintermonaten. Wer weiß, ob der Hunger, die Notwendigkeit, ihre Familien zu füttern, einen von ihnen dazu bringen würde, die Grenze zu überschreiten, wenn ihr reiner Überlebensinstinkt ihre Großzügigkeit ersetzt hatte? Ich weiß, dass der Gedanke daran, dass Bree, Sasha und ich selbst verhungern könnten, mich schon auf ziemlich verzweifelte Ideen gebracht hat. Ich werde also nichts dem Zufall überlassen. Wir werden nachts umziehen.

Was sowieso perfekt ist. Ich werde den Morgen brauche, um noch ein letztes Mal alleine dort hinzugehen, zu prüfen, dass niemand ein- oder ausgegangen ist. Ich muss auch wieder zu der Stelle zurück, wo ich das Reh getroffen habe, und darauf warten. Ich weiß, dass es nur ein Versuch ist, aber wenn ich es wiederfinden kann und töten, kann es uns wochenlang ernähren. Dieses erste Reh damals habe ich verschwendet, das wir vor Jahren bekommen haben, weil ich nicht wusste, wie man es häutet, oder wie man es richtig zerstückelt oder aufbewahrt. Ich habe nur ein Gemetzel veranstaltet und nur geschafft, eine einzige Mahlzeit daraus zu machen, bevor der Kadaver verrottete. Es war eine schreckliche Verschwendung von Lebensmitteln, und ich bin entschlossen, dass mir das nicht wieder passiert. Dieses Mal, besonders mit dem Schnee, werde einen Weg finden, das Fleisch zu konservieren.

Ich fasse in meine Tasche und nehme das Taschenmesser heraus, das mein Vater mir gab, bevor er ging. Ich reibe den abgenutzten Griff, auf dem seine Initialen eingraviert sind und auf dem das Logo des Marine Corps prangt, wie ich es jeden Abend, seit wir hier angekommen sind, mache. Ich sage mir selbst, dass er noch am Leben ist. Sogar nach all den Jahren, obwohl ich weiß, dass die Chancen gering bis Null sind, ihn jemals wiederzusehen, kann ich mich nicht durchringen, die Idee ganz fallenzulassen.

Ich wünsche mir jeden Abend, mein Vater wäre niemals abgereist, hätte sich nicht freiwillig für den Krieg gemeldet. Es war von Anfang an ein dummer Krieg. Ich habe nie wirklich verstanden, wie alles begann, und ich habe immer noch keine Ahnung. Mein Vater hat es mir erklärt, mehrfach, aber ich habe es nicht verstanden. Wahrscheinlich war ich noch zu jung. Vielleicht war ich einfach noch nicht alt genug, um zu wissen, was für sinnlose Dinge Erwachsene sich gegenseitig antun können.

So, wie mein Vater es erklärte, war es ein zweiter Amerikanischer Bürgerkrieg – dieses Mal aber nicht zwischen dem Norden und dem Süden, sondern zwischen den politischen Parteien. Zwischen den Demokraten und Republikanern. Er sagte, es war ein Krieg, der schon lange vorherzusehen gewesen war. Über die letzten hundert Jahre, sagte er, hätte sich Amerika in zwei Nationen gespalten: Die ganz Rechten und die ganz Linken. Im Laufe der Zeit hätten sich die Positionen so verhärtet, dass es ein Land der entgegengesetzten Ideologien wurde.

Mein Vater sagte, dass die Linken, die Demokraten, eine Nation wollten, die von einer immer größeren Regierung geführt wurde, einer, die die Steuern auf 70 % erhöhte, und sich in alle Aspekte des Lebens der Menschen einbringen konnte. Er sagte, die Rechten, die Republikaner, hätten eine kleinere und kleinere Regierung gewollt, eine, die Steuern ganz abschaffte, sich aus dem Leben der Leute heraushielt und ihnen ermöglichte, selbst für sich zu sorgen. Mein Vater sagte, im Laufe der Zeit wären diese beiden unterschiedlichen Ideologien, statt sich einander anzunähern, noch weiter auseinander gedriftet, noch extremer geworden – bis zu dem Punkt, an dem nichts mehr ging.

Was die Situation noch schlimmer machte, sagte er, war, dass Amerika so überbevölkert war, dass es für jeden Politiker schwieriger wurde, landesweite Aufmerksamkeit zu bekommen, und die Politiker in beiden Parteien begann zu erkennen, dass extremen Positionen die einzige Möglichkeit waren, nationale Sendezeit zu bekommen – die sie für ihren persönlichen Ehrgeiz brauchten.

Daher waren die prominentesten Menschen aus beiden Parteien die extremsten, die jeweils versuchten, die anderen auszustechen. Sie nahmen Positionen ein, an die sie selbst gar nicht wirklich glaubten, die sie aber einnehmen mussten, weil sie in eine Ecke gedrängt waren. Natürlich konnten die beiden Parteien, wenn sie diskutierten, nur aneinandergeraten – und die Auseinandersetzungen wurden heftiger und heftiger. Zunächst waren es nur Beschimpfungen und persönliche Angriffe. Aber im Laufe der Zeit eskalierte die verbale Kriegsführung. Und dann, eines Tages, wurde eine Grenze überschritten.

 

Eines Tages vor über zehn Jahren, kam es zum heiklen Punkt, als ein politischer Führer einem andere mit dem tödlichen Wort drohte: „Sezession“. Wenn die Demokraten versuchten, die Steuern auch nur noch um einen Cent zu erhöhen, würde seine Partei sich von der Union abspalten, und jedes Dorf, jede Stadt, jeder Staat würde sich zweiteilen. Nicht nach Land, sondern nach Ideologie.

Sein Timing hätte nicht schlimmer sein können: Zu dieser Zeit befand sich die Nation in einer wirtschaftlichen Depression, und es gab genug Unzufriedene, die ihren Job verloren hatten, so dass er schnell an Beliebtheit gewann. Die Medien liebten die Bewertungen, die er bekam, und sie gaben ihm mehr und mehr Sendezeit. Seine Popularität wuchs. Da niemand ihn aufhielt und die Demokraten keine Kompromisse eingehen wollten, kam die Sache in Schwung und seine Idee manifestierte sich. Seine Partei schlug eine eigene Flagge für die Nation vor, sogar eine eigene Währung.

Das war der erste Wendepunkt. Wenn jemand aufgestanden wäre und ihn damals aufgehalten hätte, hätte vielleicht alles aufgehört. Aber keiner hielt ihn auf. Also eiferte er weiter.

Mutiger geworden, schlug dieser Politiker vor, die neue Union sollte auch eine eigene Polizei haben, eigene Gerichte, eigene Landespolizisten – und ein eigenes Militär. Das war der zweite Wendepunkt.

Wenn der demokratische Präsident zu der Zeit ein guter Anführer gewesen wäre, hätte er die Dinge damals aufgehalten. Aber machte die Situation durch eine schlechte Entscheidung nach der anderen noch schlimmer. Anstatt die Dinge zu beruhigen und sich um die wichtigsten Bedürfnisse der Menschen zu kümmern, ihre Unzufriedenheit, beschloss er, dass es nur einen Weg gab, die „Rebellion“ niederzuschlagen, auf die harte Tour: Er warf der gesamten republikanischen Führung Volksverhetzung vor. Er rief das Kriegsrecht aus, und mitten in der Nacht ließ er alle festnehmen.

Die Dinge eskalierten, und die gesamte Partei stellte sich hinter ihren Anführer. Auch die halbe Armee stellte sich hinter ihn. Die Menschen wurden aufgeteilt, in jedes Haus, in jeder Stadt, in allen Militärbaracken. Langsam baute sich die Spannung auf den Straßen auf, und Nachbarn hassten Nachbarn. Sogar Familien wurden getrennt.

Eines Nachts folgte die militärische Führung, die hinter den Republikanern stand, geheimen Anordnungen und initiierten einen Staatsstreich, bei dem sie ihre Anführer aus dem Gefängnis befreiten.  Es war eine Pattsituation. Und auf den Stufen des Kapitols wurde der erste verhängnisvolle Schuss abgefeuert. Ein junger Soldat dachte, er würde einen Polizisten sehen, der seine Waffe zog, und schoss zuerst. Als der erste Schuss gefallen war, gab es kein Zurück mehr. Die letzte Grenze war überschritten worden. Ein Amerikaner hatte einen Amerikaner getötet. Ein Feuergefecht gefolgt, Dutzenden von Polizisten starben. Die republikanischen Anführer wurden an einen geheimen Ort gebracht. Von dem Moment an war das Militär in zwei Lager gespalten. Die Regierung war in zwei Lager gespalten. Städte, Dörfer, Gemeinden und Staaten, alle in zwei Lager gespalten. Diese Zeit wurde als die Erste Welle bekannt.

In den ersten Tagen bemühten sich Krisenmanager und Regierungsfraktionen verzweifelt, Frieden zu machen. Aber es war zu wenig, zu spät. Nichts konnte den nächsten Sturm verhindern. Eine Gruppe wucherischer Generäle nahm die Zügel in die Hand, weil sie den Ruhm wollten, weil sie die Ersten im Krieg sein wollten, weil sie den Vorteil von Geschwindigkeit und Überraschung wollten. Sie gingen davon aus, dass die ganze Sache sich am besten beenden ließ, indem man die Opposition sofort ausschaltete.

Der Krieg begann. Schlachten auf amerikanischem Boden folgten. Pittsburgh wurde das neue Gettysburg, mir zweihunderttausend Toten in einer Woche. Panzer wurden gegen Panzer mobil gemacht. Flugzeuge gegen Flugzeuge. Jeden Tag, jede Woche eskalierte die Gewalt. Linien wurden im Sand gezogen, Militär und Polizei waren geteilt, und die Kämpfe weiteten sich auf alle Staaten der Nation aus. Überall, jeder kämpfte gegen jeden anderen, Freund gegen Freund, Bruder gegen Bruder. Es kam an einen Punkt, an dem niemand mehr wusste, weshalb man eigentlich kämpfte. Die ganze Nation wurde in Blut ertränkt, und niemand schien dem ein Ende bereiten zu können. Diese Zeit wurde als die Zweite Welle bekannt.

Bis zu diesem Zeitpunkt, schlimm, wie es war, war es immer noch konventionelle Kriegsführung. Aber dann kam die Dritte Welle, die schlimmste von allen. Der Präsident, der verzweifelt von einem geheimen Bunker aus operierte, beschloss, dass es nur einen Weg gab, um das zu unterdrücken, was er weiterhin hartnäckig als die „Rebellion“ bezeichnete. Er rief seine besten Offiziere der Streitkräfte zusammen. Sie rieten ihm, die stärksten Waffen zu nutzen, die er hatte, um die Rebellion ein für alle Mal zu beenden: Er sollte Nuklearraketen ausrichten. Der Präsident stimmte zu.

Am nächsten Tag wurden nukleare Sprengladungen über strategischen Hochburgen der Republikaner in ganz Amerika abgeworfen. Hunderttausende starben an diesem Tag, an Orten wie Nevada, Texas, Mississippi. Millionen starben am zweiten.

Die Republikaner reagierten. Sie griffen zu ihren eigenen Waffen, griffen aus dem Hinterhalt mit NORAD an und warfen ihre eigenen nuklearen Sprengladungen über demokratischen Hochburgen ab. Staaten wie Maine und New Hampshire wurden größtenteils zerstört. Innerhalb der nächsten zehn Tage wurde fast ganz Amerika zerstört, eine Stadt nach der anderen. Es gab Welle auf Welle der schieren Verwüstung, und die, die nicht direkt bei den Angriffen starben, starben kurz danach am Gift in der Luft und im Wasser. Innerhalb von einem Monat war praktisch niemand mehr übrig, der kämpfen konnte. Die Straßen und Gebäude leerten sich, als die verbliebenen Menschen gegen ihre ehemaligen Nachbarn kämpften.

Aber mein Vater hat nicht einmal auf die Einberufung gewartet – deshalb hasse ich ihn. Er war schon lange zuvor gegangen. Vor dieser ganzen Geschichte war er zwanzig Jahre lang ein Offizier im Marine Corps gewesen, und er hatte das alles früher als die meisten kommen sehen. Jedes Mal, wenn er die Nachrichten schaute, jedes Mal, wenn er sah, wie sich zwei Politiker respektlos anschrien, immer noch eins draufsetzten, schüttelte mein Vater seinen Kopf und sagte: „Das wird zum Krieg führen. Glaub mir.“

Und er hatte Recht. Ironischerweise hatte mein Vater seine Zeit abgedient und war schon Jahre vor diesen Ereignissen aus dem Corps ausgeschieden. Aber am Tag, als der erste Schuss fiel, ließ er sich erneut einziehen. Noch bevor überhaupt die Rede von einem wirklichen Krieg war. Wahrscheinlich war der allererste Freiwillige für einen Krieg, der noch nicht einmal begonnen hatte.

Und deshalb bin ich immer noch wütend auf ihn. Warum musste er das tun? Warum konnte er es nicht einfach belassen, dass sie sich alle gegenseitig umbrachten? Warum konnte er nicht zu Hause bleiben und uns beschützen? Warum war ihm sein Land wichtiger als seine Familie?

Ich erinnere mich noch lebhaft an den Tag, an dem er uns verlassen hat. Ich kam an dem Tag aus der Schule nach Hause, und noch bevor ich die Tür öffnete, hörte ich Schreie von drinnen. Ich riss mich zusammen. Ich hasste es, wenn Mama und Papa sich stritten, was eigentlich die ganze Zeit der Fall war, und dachte, es wäre nur ein weiterer Streit.

Ich öffnete die Tür und wusste sofort, dass es dies Mal anders war. Etwas war ganz, ganz verkehrt. Mein Vater stand in voller Uniform da. Das machte keinen Sinn. Er hatte seine Uniform jahrelang nicht getragen. Warum sollte er sie jetzt tragen?