Buch lesen: «Einmal Steinzeit und zurück ...»
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Einmal Steinzeit
und zurück ...
Monika Arend
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Impressum:
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2020 – Herszprung-Verlag
Mühlstraße 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM
Coverbild gestaltet von Yari Kart
ISBN: 978-3-96074-363-7 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-364-4 - E-Book
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Inhalt
Prolog
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Nachwort
Die Autorin
Danksagung
Buchtipp
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Prolog
„Ich gehe fort.“ Seine Stimme bebte. Es gab kein Zurück mehr. Er nahm ihre Hand. Ihre Gesichtszüge wirkten wie eingefroren und die Mundwinkel hingen herab.
Bevor er weitersprach, holte er tief Luft. „Keine Sorge, ich komme wieder. In Gedanken bin ich immer bei dir.“
*
1
„Du hast mir gar nicht zugehört!“ Vanessa schaute Toni ins Gesicht und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Seit einigen Tagen trug er Kinnbart und Seitenscheitel. Stand ihm gut. Der Teddyblick aus dunklen Augen erschwerte es ihr, empört zu klingen. „Ich habe dich gefragt, ob wir nach dem Essen einen Strandspaziergang machen können.“
Toni schwieg.
„Och bitte!“, sagte sie. „Spätestens, wenn du wieder im Küchendunst stehst, wirst du dir wünschen, Meeresluft schnuppern zu können.“
Anlässlich seines Geburtstages hatte Vanessa den Platz mit der schönsten Aussicht reserviert.
Der Vollmond stand über der Praia da Dona Ana. Von den massiven Felsen, die die Bucht umgaben und teilweise als Inseln aus dem Meer ragten, erkannte sie nur die Umrisse. In der Ferne sah sie orange Punkte, die wie Glühwürmchen auf dem Wasser tanzten. Die Lichter der Nachbarstadt. Das Signal eines Leuchtturms zuckte durch die Nacht.
Vanessa hatte das kurze Schwarze angezogen, das Haar mit ihrer Lieblingsspange hochgesteckt und ein bisschen mehr Parfüm als sonst aufgelegt. Ihre Haut war bereits leicht gebräunt. Doch Toni nahm offensichtlich nichts von alledem wahr. Also verfiel auch sie ins Grübeln.
Sie erinnerte sich, wie sie ihm um den Hals gefallen war, als er ihr Weihnachten die Buchungsbestätigung präsentiert hatte. Zwei Wochen Urlaub in einem Hotel in Lagos, in der Felsalgarve. Im Doppelzimmer! Weit weg vom Alltag und dem oft unbeständigen Märzwetter im Rheinland. Seit mehr als einem Jahr – so lange wie Vanessa im Lepelaars arbeitete – endlich einmal Zeit für die Zweisamkeit!
„Wir sind das perfekte Team“, behauptete Toni oft.
Sie teilte diese Meinung absolut. Hatte sich von der Restaurantmanagerin zu seiner persönlichen Assistentin hochgearbeitet.
Während er zahlreiche Dienstreisen unternahm, hielt sie die Stellung im Betrieb und in der Maisonette in bester Lage Düsseldorfs. In dieser Zeit bestand der Kontakt vorwiegend aus langen Telefonaten und Skype-Sitzungen. Vanessa wuchs mit ihren Aufgaben. Hielt er sich doch einmal in der Heimat auf, begegneten sie sich fast ausschließlich im Betrieb.
Sobald sie gemeinsam in der Öffentlichkeit auftraten – was gar nicht selten vorkam – änderte sich Tonis Verhalten schlagartig. Er überhäufte Vanessa mit Küssen und umfasste ihre Taille. Ein tolles Gefühl, vom Maître umgarnt zu werden! Toni war erfolgreich und sah gut aus. Warum war er nicht immer so anschmiegsam? Vanessa schob es auf die kräftezehrende Arbeit im Sternerestaurant.
Doch schließlich hatten sie im Flieger nach Faro gesessen und Vanessa hatte gehofft, der Funke würde nun überspringen. Leider war es anders gekommen: Nach dem Frühstück verschanzte sich Toni hinter dem Laptop oder lief mit dem Handy am Ohr durchs Zimmer. Wie immer drehte sich alles nur um die Arbeit.
Vanessa machte das Beste aus ihrem Aufenthalt in dem exklusiven Haus. Zog etliche Bahnen im beheizten Pool, nahm Wellnessangebote in Anspruch und faulenzte auf der Sonnenterrasse. Die erste Woche war wie ein Windhauch verflogen.
Erneut betrachtete sie Toni. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Vom Charisma, das ihn im Betrieb umgab, dem Glanz in seinen Augen und dem sympathischen Lächeln fehlte jede Spur.
War er krank? Eigentlich sah er topfit aus. Hatte rosige Wangen. Er aß gut und das Hemd spannte wie immer ein wenig über dem Bauch.
Plagten ihn finanzielle Sorgen? Ebenfalls unwahrscheinlich. Das Geschäft boomte. Er war nicht nur ein ausgezeichneter Koch, sondern verfügte auch über fundierte kaufmännische Kenntnisse.
Gab es eine andere? Siedend heiß fiel Vanessa eine Begebenheit ein, die nicht lange zurücklag. Sie hatte auf Tonis Handy die Uhrzeit gecheckt und eine SMS von einer Manu mit zahlreichen Herzchen erblickt. Das war nicht außergewöhnlich. Er bekam körbeweise Post von Verehrerinnen und unzählige anzügliche Nachrichten.
Die Puzzleteilchen setzten sich jedoch zusammen und sein befremdliches Verhalten war der Leim, der alles fixierte.
Vanessa stürzte den Espresso hinunter und sprang auf. Schluss mit den negativen Gedanken! Sie durfte sich von Toni nicht den Urlaub vermiesen lassen. Nahm seine linke Hand – mit der rechten umklammerte er das Smartphone – und zog ihn vom Stuhl.
„Komm, Schatz, der Atlantik ruft. Er wartet auf das Geburtstagskind.“ Hand in Hand verließen sie das Hotel und schlenderten zur Plattform über der Bucht.
„Ist das nicht traumhaft? Die Sterne funkeln und der Mond zwinkert uns zu“, sagte Vanessa.
Sie stiegen die lange, steile Holztreppe hinab. Fledermäuse sausten lautlos an den Felswänden entlang. Toni schwankte leicht, obwohl er kaum Alkohol getrunken hatte. Das Meer empfing sie mit einem Gurgeln.
Als sie durch den feuchten Sand stapften, spürte Vanessa, wie Tonis Hand zitterte. Ein kalter Wind wehte ihr ins Gesicht. Plötzlich nahm er sie in den Arm. Der herbe Geruch seines neuen Aftershaves, der nicht zur romantischen Umgebung passte, stieg ihr in die Nase. Egal. Gleich würde er sie küssen.
*
2
Leon blinzelte in die Sonne. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er durchgeschlafen. Er schälte sich aus dem Schlafsack und reckte sich. Sein Blick glitt über die Bucht, in der unzählige Möwen den Boden und die Felsen bevölkerten. Er ließ sich auf der Sitzgelegenheit nieder und genoss die Einsamkeit.
Schaumkrönchen tanzten auf den Wellen. Die Flut hatte ein Muster gezeichnet und den Strand mit winzigen Muscheln dekoriert. Er sog die Luft in die Lungen. Seine Haut prickelte und der Magen knurrte.
Wochenlang hatte Leon in dem Unterschlupf wie in einer Schale gehockt. Das sollte nun anders werden. Er schlüpfte in die Jeans, legte sich ein Handtuch um die Schultern, kletterte die Felsstufen hinab und sprang in den feuchten Sand.
Der Hund hüpfte aufgeregt vor ihm her. Sie kletterten über den Steinwall am Ende der Bucht. Auf der anderen Seite zog Leon sich aus und stürzte sich in die Fluten. Drehte sich im Kreis und spritzte sich das kühle Nass ins Gesicht. Der Vierbeiner blieb im seichten Wasser und sah ihm mit schräg gelegtem Kopf zu.
Dann kleidete Leon sich wieder an. Rannte mit dem Hund im Gefolge zur Felswand zurück und die Steinstufen hinauf.
Er schaute sich um. Anfang Januar hatte er sich in diese Grotte geflüchtet, die ihn wie ein Rettungsboot empfangen hatte. Er erinnerte sich an den Überlebenskampf. Er hatte versucht, Kälte und Nässe zu ignorieren. Auch Einsamkeit und Dunkelheit hinderten ihn nicht daran, zu bleiben. Tage- und nächtelang verharrte er im Schlafsack dicht an der Felswand, mit Blick zur Decke.
Er bekam selten ein Auge zu. Manchmal nickte er ein. Das Geräusch des aufgepeitschten Meeres ließ den Traum von einem herannahenden Zug stets wiederkehren. Leon schreckte etliche Male aus dem Schlaf hoch. Die erste Zeit hatte er weder Hunger noch Durst. Der Verstand ließ sich jedoch nicht ausschalten. Man starb nicht einfach so.
Einige Tage später erschien der Hund mit den Schlappöhrchen in der Höhle. Eine Körperhälfte war braun, die andere weiß. Er kuschelte sich an Leon. Der streckte die Hand aus und streichelte das warme, weiche Fell. Spürte die feuchte Zunge auf der Haut und wusste, dass er noch lebte. Am nächsten Morgen hatte er ihm den Namen Sparky gegeben, nach dem tierischen Hauptdarsteller in einem Kinderfilm.
„Ich glaube, ohne dich hätte ich es nicht geschafft“, flüsterte Leon nun. Er streichelte Sparky, der die Schnauze in die Sonne hielt, ausgiebig. Dann wandte er sich dem Kater zu, der sich auf dem Schlafsack rekelte. „Dich hab ich auch lieb, Tschaikowski“, sagte er.
Leon erinnerte sich daran, wie er eines Abends ein Miauen vernommen hatte. Erst kam der schwarz-weiße Vierbeiner mit den hellgrünen Augen und dem runden Gesicht nur gelegentlich vorbei, später täglich und inzwischen verließ er diesen Ort nur noch selten. Tagsüber saß er reglos am Ausgang und starrte aufs Meer, nachts wärmte er Leons Füße.
Leon strich den Schlafsack glatt, räumte ein Kleidungsstück beiseite und schob den verrosteten Kugelgrill in eine Ecke. Griff zum Wasserbehälter, nahm kräftige Schlucke und setzte ihn wieder ab. Wie lange wollte er noch so leben? Ein paar Tage? Wochen? Monate? Er kratzte sich am Kinn.
Um sich nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, schnappte er sich die Angel sowie den verbeulten Eimer und lief mit großen Schritten zu einem Felsplateau, auf dem er tagsüber hockte, um Nahrung für sich und die Tiere zu beschaffen. Sein Vater hatte ihm vor vielen Jahren an der Nordsee gezeigt, wie man mit einer Rute Fische fing. Diese Fähigkeit kam ihm nun zugute. Die tägliche Ausbeute reichte, um den größten Hunger zu stillen. Schwieriger war die Flüssigkeitsaufnahme. Im Winter hatte Leon Regenwasser gesammelt. Inzwischen fielen jedoch kaum noch Niederschläge. Er würde demnächst Wasser kaufen müssen.
Leon probierte an diesem Tag einen anderen Köder aus. Er kratzte kleine Muscheln von den Steinen und öffnete diese mühsam. Zwischendurch ließ er den Blick durch die Bucht schweifen. Die Zeit, in der sich nur wenige Menschen hierher verirrt hatten, gehörte der Vergangenheit an. Von Tag zu Tag kamen nun mehr Besucher über die lange Holztreppe, fotografierten die Felsformationen und setzten sich einen Moment in den Sand.
Die Sonne senkte sich bereits und die letzten Touristen verschwanden. Leon machte sich auf den Rückweg zur Höhle. Sparky folgte ihm.
Schon bald entfachte er ein Feuer und grillte Sardinen. In der Höhle breitete sich eine behagliche Wärme aus. „Jungs, gleich gibt es Abendessen“, sagte er an seine Mitbewohner gewandt. Der Kater leckte sich die Pfoten. Sein Schnurren hallte durch die Höhle.
Plötzlich zerriss eine Stimme die Stille: „Sag, dass es nicht wahr ist!“ Was war da unten los? Leon sah die Umrisse eines großen, kräftigen Mannes und einer schlanken, nur wenig kleineren Frau, die wild gestikulierte.
Auf einmal packte der Typ ihre Hände. Sie versuchte, sich von ihm zu befreien, was ihr schließlich auch gelang. Doch dann umschlang er ihren Oberkörper mit seinen Armen.
Leons Puls beschleunigte sich. Sollte er der Frau zu Hilfe eilen?
Das Feuer knisterte und er bemühte sich, es einzudämmen, was ihm nicht auf Anhieb gelang.
Als er wieder auf den Strand blickte, fehlte von dem Paar jede Spur. „Menschen sind seltsame Wesen, nicht wahr?“ Er gab Sparky ein Stückchen Fisch. Der Kater näherte sich unauffällig.
Worüber konnte man an so einem Ort streiten? Unter normalen Umständen hätte Leon sich gewünscht, hier den Urlaub mit einer Partnerin zu verbringen. Doch die Umstände waren nicht normal. Er befand sich in einer Grauzone. Hatte sein altes Leben hinter sich gelassen. Der Neuanfang lag in weiter Ferne.
*
3
Vanessa hatte von einem Riesen mit Kochmütze und Kinnbart geträumt, der traurig den Kopf schüttelte. Sie öffnete die Augen. Erst nach und nach erkannte sie den hellen Kleiderschrank, den Flachbildschirm und den Schreibtisch. Ihre Kehle war trocken und sie verspürte leichte Übelkeit. Sie tastete nach dem Smartphone, das vom Nachttisch auf den Boden plumpste. Widerwillig schlug sie die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und schaute sich um. Ihre Kleidungsstücke lagen überall im Raum verteilt. Keine Spur mehr von Toni.
Sie schlich ins Bad. Zahnbürste, Aftershave, Rasierapparat, alles verschwunden. Vanessa wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Ging zurück zum Bett und hob das Handy auf. Ein Blick aufs Display verriet – kurz vor Mittag! Wenn sie in der Bude nicht verrückt werden wollte, sollte sie unbedingt frische Luft schnappen. Vorher musste sie jedoch etwas trinken. Sie warf einen Blick in die Minibar und erstarrte. Das Alkoholsortiment war fast restlos geplündert!
Hatte sie das alles getrunken? Das erklärte den Filmriss. Sie nahm ein paar Schlucke Wasser und fühlte sich sofort besser. Mit einem Ruck zog sie die Vorhänge beiseite und riss die Verandatür auf. Stapfte auf die Terrasse. Atmete tief durch. Bloß nicht durchdrehen!
Die Erinnerung an den Vorabend tropfte in Vanessas Gedächtnis. Sie sah noch einmal den Vollmond, der ein breites, goldenes Band auf das Meer warf. Toni hatte sie in den Arm genommen und dabei verlegen zu Boden geblickt. Dass er sie küssen wollte, war ein Trugschluss gewesen.
„Du musst endlich die Wahrheit erfahren!“, sagte er mit bebender Stimme. Der Name Manu hing in der Luft. Also doch! Vanessa hatte gedacht, dass sie für eine Manuela den Platz räumen müsse. Die Erkenntnis traf sie hart: Manu war ein Mann!
Danach erschien ihr alles unwirklich. Toni, der wie ein Wasserfall redete. Die dunkle Felswand, die funkelnden Sterne. Im ersten Moment wollte sie ins Wasser flüchten. Immer weiter hinausschwimmen, bis sie vor Erschöpfung untergehen würde. Aber Toni umklammerte ihre Hände, redete mit ihr wie mit einem Kind. Sie versuchte, sich zu befreien. Als es ihr gelang, trommelte sie wie eine Besessene gegen seine Brust. Schrie ihn an, bis ihr die Stimme versagte.
Schweigend kehrten sie in das Hotelzimmer zurück. Dort erzählte Toni mit weicher Stimme von Manuel, den er vor zwei Monaten auf einem Gastronomie-Kongress kennengelernt hatte. Die Begegnung mit dem jungen Koch habe ihm die Augen geöffnet. Immer wieder sagte er: „Kleines, verzeih mir. Ich bin ein Schuft. Aber es ändert nichts daran, dass wir ein tolles Team sind.“
„Du hast mich getäuscht! Was ist heutzutage denn dabei, zur Homosexualität zu stehen?“, hatte Vanessa ihn angeschrien.
„Ich habe den Zeitpunkt verpasst, mich zu outen“, hatte er geantwortet. „Als du zu mir gezogen bist, haben alle das perfekte Paar in uns gesehen. Mit dir an meiner Seite fühlte ich mich sicher. Natürlich wusste ich, dass du dir Hoffnungen machst. Aber es ergab sich nie die Gelegenheit, in Ruhe zu reden.“
Das längst überfällige Gespräch hatten sie ja nun geführt. Wenn Manuel, der Deckel auf Tonis Topf, nicht in sein Leben getreten wäre, hätte es vielleicht noch Monate oder sogar Jahre gedauert, bis die Wahrheit ans Licht gekommen wäre. Jetzt konnten die beiden Köche sich gegenseitig das Essen abschmecken und sie musste sich ihr Süppchen selbst zubereiten.
Die Sätze „Ich werde immer für dich da sein“ und „Du kannst gerne bei mir wohnen bleiben“ klangen fad. Das Kartenhaus, das sich gemeinsame Zukunft nannte, stürzte in sich zusammen und riss Vanessas Leben mit sich.
Dann lagen sie sich in den Armen. Den sonst so starken Toni weinen zu sehen, war das Schlimmste. Es dämmerte bereits, als er seine Kleidungsstücke in den Koffer warf. Er sagte: „Ich muss zurück nach Düsseldorf. Die Arbeit ruft. Ich versuche, heute noch einen Flug zu erwischen. Kommst du mit?“ Sie hatte den Kopf geschüttelt.
Nachdem die Tür mit einem Schmatzen ins Schloss gefallen war, hatte sie sich betrunken.
„Wie heißt es doch so schön? Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich ein Fenster“, dachte Vanessa jetzt. „Das Fenster habe ich soeben aufgemacht.“
Sie beglückwünschte sich dazu, dass sie Toni nicht gefolgt war. Fühlte sich jedoch antriebslos. Die Beine waren wie Wackelpudding. Sie sank auf einen gepolsterten Liegestuhl und legte die Füße hoch.
Zwei Stimmen diskutierten in ihrem Kopf.
Die eine sagte: „Du bist an einem wunderschönen Ort, das Wetter ist ein Traum, du bist jung und gesund.“
Die andere rief: „Du warst so blind!“
Niemals hätte Vanessa gedacht, dass Toni, ihr Fels in der Brandung, ein großer Feigling und exzellenter Schauspieler gleichzeitig sein konnte.
Bevor sie wegdämmerte, merkte sie, dass ihre Haut brannte. Sie erhob sich träge.
Zurück im Zimmer cremte sie sich sorgfältig ein. Stopfte Badesachen in die große Stofftasche. Gab den Schlüssel an der Rezeption ab, schritt durch das Foyer und spürte dabei förmlich, wie sich der Blick des Rezeptionisten auf ihr Hinterteil heftete.
Vanessa war es gewohnt, dass Männer ihr hinterherschauten. Nach dem Abitur hatte sie mit einer Modelkarriere geliebäugelt. Sie aß allerdings gerne, trank hin und wieder ein Gläschen Wein. Hatte sich schließlich für eine Ausbildung zur Restaurantfachfrau entschieden und sich in diesem Beruf hochgearbeitet.
Nun stand sie vor einem kompletten Neuanfang. Wie eine Katze, die vom Balkon eines Hochhauses fiel, würde sie auf den Füßen landen, davon war sie überzeugt. Auch wenn es ein harter Aufprall werden würde.
Auf der Plattform über der Bucht hielt sie einen Moment inne. Blickte auf den Strand. Abgesehen vom Vorabend hatte sie sich kein einziges Mal an der Praia da Dona Ana aufgehalten. Schlimm genug! Das Meer glitzerte, der Sand schimmerte golden. An diesem Ort würde sie ihre Wunden lecken.
Toni hatte erklärt, er wolle nun Butter bei die Fische tun und sich zur Homosexualität bekennen.
„Ich muss unbedingt mit Linn reden, bevor sich Tonis Coming-out in den sozialen Netzwerken verbreitet“, dachte sie, zückte das Smartphone und wählte die Nummer. Sprachbox. Vanessa hinterließ eine Nachricht: „Chaos in Lagos! Ruf mich an!“
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4
Ob das Paar sich inzwischen versöhnt hatte? Leon erinnerte sich daran, wie die Frau den Mann angeschrien hatte. Wie ein Tornado war sie dabei über den Strand gefegt. War zwischen den beiden Menschen etwas zerbrochen? Eine Freundschaft, eine Beziehung oder sogar eine Ehe?
Bis vor Kurzem hatte er sich in seine eigene Welt zurückgezogen. Erstaunlicherweise nahm er wieder am Leben der anderen teil.
Er ließ die Beine von der Felskante über dem Wasser baumeln. Die Sonne wärmte sein Gesicht. Sparky kratzte sich hinterm Ohr. Bald verzog er sich in den Schatten.
Die Angel steckte in einem Felsspalt. Drei kleine Fische schwammen in dem mit Meerwasser gefüllten Eimer. Leon gähnte. Das Leben in der Bucht bot nicht viel Abwechslung.
Er sah seine Mutter und Pepe vor sich und hörte ihre Stimmen. Meist lächelte Judith, wenn sie den Erzählungen ihres Mannes lauschte, oder sie strahlte, wenn er ihr ein Kompliment machte. Gab es doch einmal Unstimmigkeiten, fanden sie stets einen Kompromiss.
Nie würde er den Tag vergessen, an dem er Pepe kennengelernt hatte. Leon war damals sieben Jahre alt gewesen. Er hatte seine Mama zu einem Bummel über den Weihnachtsmarkt überreden müssen. Seit dem frühen Tod seines Vaters hatte sie sich in ihr Schneckenhaus verkrochen. Leon hatte gebettelt, dass sie ihm eine Waffel mit Sahne und Schokostreuseln spendiere.
Beim Gedanken an den verführerischen Geruch und den köstlichen Geschmack lief ihm jetzt noch das Wasser im Munde zusammen. Die Mutter hatte außerdem einen Kakao bestellt. Als sie ihm das Heißgetränk anreichen wollte, rutschte ihr der Becher aus der Hand und fiel zu Boden. Der Aufprall wurde durch den Winterschuh eines Mannes gedämpft. Die klebrige Flüssigkeit ergoss sich über sein Hosenbein.
Die Mutter stammelte: „Das tut mir so leid. Ich übernehme natürlich die Reinigungskosten.“
Der Fremde lachte laut. Er hieß Bernd Schudinath. Sofort besorgte er einen neuen Kakao. Als seine Kollegen weiterzogen, stießen Judith und Bernd mit einem Glühwein an.
Leon fragte fast jeden Tag, ob Bernd nicht zu ihnen ziehen könne. Nach zwei Monaten war es dann so weit.
Nach der Hochzeit im kleinen Kreis nannte Leon den Stiefvater Pepe. Das Wort Papa war in seinem Herzen für den verstorbenen Vater reserviert.
Wie lange war das alles her? Fast zwanzig Jahre. Bis zu dem verhängnisvollen Tag Anfang des Jahres waren sie so glücklich miteinander gewesen. Danach hatte Leon sich auf ein Abstellgleis manövriert. Den Kontakt zu Verwandten und Freunden abgebrochen. Stattdessen unterhielt er sich mit Sparky und Tschaikowski über das Wetter und den Fischfang.
Was ihn enorm belastete: Die Musik, seine große Liebe, war seit dem großen Unglück verstummt. Hoffentlich kehrten die Töne bald zurück. Er schüttelte sich, um das Böse zu vertreiben. Betrachtete die Angel. Die Schnur bewegte sich kaum, was nicht ungewöhnlich war. Sollte er zusammenpacken und sich in die Höhle verkriechen?
Er schaute sich um. Nicht weit entfernt saß eine Frau und blickte aufs Meer. Leon kam es vor, als fülle sie die gesamte Bucht mit ihrer Anwesenheit. Alles wirkte auf einmal heller. Kannte er die Frau?