Buch lesen: «Unbehauste Heimat»
MIRJAM SCHAMBECK
Unbehauste Heimat
Von der Sehnsuchtanzukommen
Franziskanische Akzente
Für ein gottverbundenes und engagiertes Leben
Herausgegeben von Mirjam Schambeck sf und
Helmut Schlegel ofm
Band 15
Die Suche der Menschen nach Sinn und Glück ernst nehmen und Impulse geben für ein geistliches, schöpfungsfreundliches und sozial engagiertes Leben – das ist das Anliegen der Reihe „Franziskanische Akzente“.
In ihr zeigen Autorinnen und Autoren, wie Leben heute gelingen kann. Auf der Basis des Evangeliums und mit Blick auf die Fragen der Gegenwart legen sie Wert auf die typisch franziskanischen Akzente:
Achtung der Menschenwürde,
Bewahrung der Schöpfung,
Reform der Kirche und
gerechte Strukturen in der Gesellschaft.
In lebensnaher und zeitgerechter Sprache geben sie auf Fragen von heute ehrliche Antworten und sprechen darin Gläubige wie Andersdenkende, Skeptiker wie Fragende an.
MIRJAM SCHAMBECK
Unbehauste Heimat
VON DER SEHNSUCHTANZUKOMMEN
echter
Herzlicher Dank geht an Dr. Johannes Heger und Adrian Schmider für die sorgfältige Zuarbeit bei den Korrekturen sowie an die Franziskanerinnen der Barmherzigkeit in Luxemburg für die finanzielle Unterstützung.
Das Buch widme ich meiner Mutter Anna Schambeck zum 85. Geburtstag am 27. Juni 2017. Bis heute lässt sie uns erleben, was heimzukommen und Heimat zu finden heißt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2017
© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg
Umschlag: www.wunderlichundweigand.de (Foto: Elisabeth Wöhrle sf) Satz: Hain-Team (www.hain-team.de) eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim (www.brocom.de)
ISBN
978-3-429-04395-7
978-3-429-04936-2 (PDF)
978-3-429-06356-6 (ePub)
Inhalt
1. Heimat – ein belastetes Wort
2. Unbehauste Heimat – eine andere Anthropologie
Heimat ist da, wo die Menschen sind, die ich liebe – Von der Sehnsucht nach Verlässlichkeit in Zeiten zerbrechlicher Beziehungen
Mit „ungebügelter Bluse“ willkommen sein
Work-Life-Balance anders buchstabiert
Heimat ist da, wo man meine Sprache spricht – Von der Sehnsucht, verstanden zu werden
Wo ich verstanden werde, kann ich mich niederlassen
Verstehen braucht Vertrauen
Heimat ist da, wo Erzählungen geteilt werden – Von der Sehnsucht dazuzugehören
Vom Ende der Meta-Erzählungen und von der Suche nach einem neuen Wir
Erzählgemeinschaft als Erinnerungsgemeinschaft
Tell me your story – Warum Erzählen Heimat schafft
Heimat ist da, wo ich wohne – Von der Sehnsucht nach einem Zuhause angesichts von Mobilität und Migration
Auf den Bahnhöfen zu Hause
Die Gesichter erzwungener Migration
Heimat ist da, wo Alltag und Feiern Halt geben – Von der Sehnsucht nach Struktur und Freiheit
Heimat ist da, wo ich bei mir zu Hause bin – Von der Sehnsucht, ich selbst zu sein
Heimat ist da, wo Gott ist – Von der Sehnsucht, die „transzendentale Unbehaustheit“ in Gott zu beheimaten
Heimat ist Nicht-Ort und konkrete Erfahrung zugleich – Zwischen Utopie und Hoffnung
3. Zwischen Fremde und Heimat – Biblische Konturen
Auf der Suche nach Heimat – Erfahrungen aus dem Alten Testament
Abraham als Ur-Figur des Aufbruchs – Heimat ist mehr als Land zu besitzen
Mose, eine Existenz des Dazwischen – Heimat ist dort, wo Freiheit ist
Das „Exils-Wir“ bei Deuterojesaja – the long way home
Von den produktiven Durchkreuzungen menschlicher Sehnsucht
In der Unbehaustheit zu Hause – Jesuanische Akzente
Wo wohnst du? (Joh 1,38f) – oder: heimisch werden bei Gott
Unmenschliche Bedingungen – oder: Die alten Rollen passen nicht mehr
Vom Beten und Handeln – oder: Contemplatio und Compassio gehören zusammen
Anderswo zu Hause – oder: Du in mir und ich in Dir
4. Franziskanische Spiritualität – Ein Modell, in zeiten von Mobilität und (erzwungener) Migration heimat zu finden
Leben nicht hinausschieben, sondern jetzt leben
Denk daran, Gott weiß, was Du brauchst (1 C 29)
Was zu ändern ist, ändere, was nicht, gewinne lieb, und kümmere dich darum, beides voneinander zu unterscheiden
Trau dem Unscheinbaren und Trivialen zu, lebenswert zu sein
Vom Privileg, kein Privileg zu brauchen – Das Privilegium Paupertatis heute leben
Leben nicht festhalten müssen, sondern verschenken können
5. „A g’steckt volle hütt’n“ (Reinhold Stecher) – oder: Heimat ist ein anderes Wort für himmel
6. Anmerkungen
7. Zum Weiterlesen
8. Abkürzungsverzeichnis
1. Heimat – ein belastetes Wort
Heimat ist ein belastetes Wort geworden. Während Jüngere wieder selbstverständlich über Heimat reden, wissen die Älteren um die verhängnisvolle Geschichte dieses Wortes. Befrachtet durch nationalsozialistische Propaganda, beladen mit Ideologien, die Heimat mit Nationalismus, dem richtigen Stammbaum, Grund und Boden und einer abstrusen Idee von Volk-Sein verbinden, steht das Wort Heimat nicht mehr unschuldig da.
Das gilt heute umso mehr, als rechte Kreise mit ihren geschichtsvergessenen Agitator/-innen wieder anfangen, das Wort Heimat zu missbrauchen. Pegida- und AfD-Leute, Rechtspopulisten und Rechtsradikale wollen erneut und nicht weniger krass und dumm als damals verfügen, wer Heimat haben darf und wer nicht, wer dazugehört und wer nicht. Wer Heimat aber auf irgendwelche von außen definierten Kriterien wie Nation, Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Staatsbürger/ -innenschaft reduziert, der hat schon verloren; denn Heimat ist mehr und meint Existentielleres. Heimat und Zuhausesein sind etwas grundlegend Menschliches. Wer also Menschen die Heimat abspricht, der nimmt ihnen etwas von ihrem Menschsein. Auch deshalb muss dem alten und neuen rechtsradikalen Denken umso schärfer widersprochen werden. Heimat hat mit dem einzelnen Menschen, seiner Geschichte, seinem Empfinden, seinen Hoffnungen und seinen Bildern vom Glück zu tun.
Das Buch spannt vor diesem Hintergrund den Bogen und lotet aus, was Heimat bedeutet und warum sie in unserer von Migration, Mobilität und Globalisierung geprägten Welt ein so sehr ersehntes Gut geworden ist. Dazu wird in einem ersten Teil die Sehnsucht nach Heimat in ihren vielfältigen Bildern in den Blick genommen, die wir alle zumindest irgendwie kennen, auch wenn Heimat eher zum unbehausten Ort geworden ist.
Im zweiten Teil werden diese aufgedeckten Facetten von Heimat mit biblischen Figuren und Erfahrungen verbunden. Auch an ihnen wird einerseits deutlich, wie sehr das Ausschauhalten nach Heimat die Menschen seit Urzeiten begleitet. Andererseits machen sie erlebbar, wie Gott uns gerade in diesem Suchen nach Ankommen und einem Daheim selbst zur Heimat werden will, die nicht auf einen bestimmten Ort, eine ausgewählte Zeit oder Sprache begrenzt bleibt, sondern uns überall und ohne jede Vorleistung geschenkt ist.
Die franziskanische Spiritualität wird am Ende als Modell einer Spiritualität entfaltet, die hilft, die eigene Unbehaustheit anzuerkennen, mit der Sehnsucht nach einem Zuhause behutsam und bedacht umzugehen und zugleich das eigene Engagement zu schärfen, auch anderen Heimat zu geben.
2. Unbehauste Heimat – eine andere Anthropologie
Wir Menschen sind Wesen in Raum und Zeit. Uns gibt es nicht abstrakt, im Irgendwo und Irgendwann, sondern nur konkret und geschichtlich, als Frau oder Mann, als diese oder jener. Von daher ist es nicht beliebig, an welchen Orten wir uns aufhalten, in welcher Kultur wir aufgewachsen sind, mit wem wir zusammenleben, welche Alltäglichkeiten wir pflegen und welche Feste wir feiern – kurz: wo wir zu Hause sind. Auch wenn wir nicht in der Vermessung unserer Lebensbedingungen und Lebensmöglichkeiten aufgehen, lässt ein genaueres Zusehen, was Heimat bedeutet, doch eine Ahnung darüber entstehen, wer wir Menschen sind, was uns antreibt und woraufhin wir angelegt sind. Über Heimat zu schreiben heißt also auf gewisse Weise, Anthropologie zu betreiben.
Wenn im Folgenden Heimat in ihren vielfältigen Bildern aufgeschlüsselt und an unseren, nicht selten eingeschränkten Lebensrealitäten gespiegelt wird, dann ist dies auch ein Weg, dem Menschen, seinen Vorstellungen vom Glück und sich selbst mehr auf die Spur zu kommen.
Heimat ist da, wo die Menschen sind, die ich liebe – Von der Sehnsucht nach Verlässlichkeit in zeiten zerbrechlicher Beziehungen
Heimat ist untrennbar mit Menschen verbunden. Für viele gilt, dass sie dort zu Hause sind, wo Menschen auf sie warten, die ihnen wichtig sind. Das ist im Vergangenheitsmodus genauso richtig wie für die Gegenwart. Selbst wenn schon viele Jahre seit dem Auszug aus dem Elternhaus vergangen sind, ist dort immer noch ein Stück Heimat, wo die Eltern leben und die abgelegte Kindheit obendrein in den Wänden hängt. Bei heutigen Beziehungen verhält es sich nicht anders. Gesucht, ersehnt, für das Leben als unersetzbar wichtig erachtet, ist zugleich wohl nichts so unter Druck geraten wie gute und verlässliche Beziehungen.
Mit „ungebügelter Bluse“ willkommen sein
Fragt man Menschen, was für sie Glück bedeutet, dann rangieren an oberster Stelle die Nennungen : Familie, Freund/-innen, Partnerschaft. Das ist bei Kindern und Jugendlichen nicht anders als bei Erwachsenen.1 Noch vor so wichtigen Werten wie Autonomie und Freiheit gelten verlässliche Beziehungen als Inbegriffvon Glück. Das mag in Zeiten, in denen nur die etwas herzumachen scheinen, die jung sind, erfolgreich und über eine Menge Geld verfügen, beruhigen. Zugleich verwundert es, denn nichts ist heute so zerbrechlich geworden wie Beziehungen, Familie und Partnerschaft. Vielleicht liegen die Dinge aber doch näher beieinander.
Immer wieder ist zu sehen, wie sehr gerade der Druck von außen nach einem Ausgleich im Privaten suchen lässt. Zu funktionieren, die To-do-Listen schnell und akribisch genau abzuarbeiten, in Meetings und Briefings mit aller Aufmerksamkeit und Freundlichkeit präsent zu sein kostet Kraft – auch wenn der Job eigentlich Spaß macht. Da braucht es Menschen, bei denen es nicht darauf ankommt, dass jedes Wort gewogen und gefeilt ist, und Freund/-innen, die jede/-n Einzelne/-n auch mit „ungebügelter Bluse“ in ihrer Mitte willkommen heißen.
Wie wichtig es ist, ungefragt, einfach so, sich einfinden zu dürfen, und zwar als eine, die man kennt, beschreibt Reiner Kunze schlicht, aber überaus treffend in einem seiner Gedichte:
„Heimat ist für mich überall dort, / wo ein Mensch ist, / zu dem ich kommen kann, / ohne gefragt zu werden, / weshalb ich da bin. / Der mir einen Tee anbietet, / weil er weiß, daß ich Tee trinke, / und wo ich bei dieser Tasse Tee schweigen darf.“2
Dieses Gedicht ist nicht nur eine Einladung, keine Show abziehen zu müssen, um gern gesehen zu sein, und auch nicht nur ein Hinweis, dass wir da zu Hause sind, wo man weiß, was dem anderen wohl und wehe tut. Die ältere Version dieses Gedichts in „Jasmintee“3 galt in DDR-Zeiten als Erkennungszeichen für Leute, die sich dem Regime gegenüber kritisch verhielten. An die Eingangstür geheftet, wusste jeder sofort Bescheid, ob er drinnen reden und schweigen durfte, wie ihm zumute war, oder ob es sich um Stasi-Terrain handelte. Sich bei Menschen einzufinden, bei denen man sein kann, wie man ist, hatte hier nochmals eine andere Brisanz gewonnen. Es entschied, ob man weiterhin mehr oder weniger unbehelligt leben konnte oder doch irgendwann abgeführt, weggesperrt, eingeschüchtert oder sogar ausgeschaltet wurde.
Work-Life-Balance anders buchstabiert
Gerade diese Erfahrungen vermögen die Aufmerksamkeit für die gegenseitige Abhängigkeit von privatem Daheimsein und öffentlichem Leben zu schärfen.Je mehr das Private zum Ort des Lebens und damit zum Inbegriff von Daheimsein und Heimat wird oder – wie in Kunzes DDR- Zeiten – werden muss, je weniger es auch im Außen der Öffentlichkeit möglich ist, bei mir selbst zu sein und in Verbindung mit den eigenen Lebensquellen, desto größer ist die Gefahr, das Private zu überfrachten und letztlich zu überfordern. Sosehr uns die Beziehungen zu den Menschen, die wir lieben und die uns lieben, zu denen machen, die wir sind, so wichtig ist es für gesunde Beziehungen, den Radius zu erweitern bzw. zu vertiefen. Wer zwei Drittel vom Leben – und mindestens so viel nimmt die Erwerbsarbeit an Zeit und Gedanken ein – ausblenden muss, um dann endlich anzukommen und heimzukommen, stresst das restliche Drittel Zeit und die Menschen, die darin vorkommen.
Aktuelle Trends, wie z. B. deutlicher auf die Work-Life-Balance zu achten, resultieren aus diesen oder ähnlichen Entdeckungen. Was aber können die tun, deren Job es nicht zulässt, weniger zu arbeiten? Work-Life-Balance könnte auch bedeuten, die Zeit, die wir alltäglich verbringen – sei es mit den Arbeitskolleg/-innen, am Schreibtisch, mit Dritten –, aufmerksamer daraufhin abzutasten, wo die Geborgenheit von zu Hause in den Alltagsabläufen zu finden ist, die wir öffentlich, also außerhalb von zu Hause, zubringen. Alltägliches zu unterbrechen, innezuhalten, auch mal humorvoll auf das zu schauen, was gerade läuft, ist eine wichtige Chance, mit sich selbst und den eigenen Lebensquellen in Kontakt zu sein. Nicht umsonst ist Unterbrechung die wohl kürzeste Definition von Religion (Johann Baptist Metz). Zu unterbrechen ermöglicht, die Dinge auf ihren tieferen Grund hin abzutasten, das Innen und Außen, das Private und die vielen Lebenswelten, in denen wir uns aufhalten, darauf abzusuchen, was wirklich wichtig ist, und Ausschau zu halten nach dem, der alles umfängt. Das beruhigt und lässt gelassener werden, auch weil Gott nicht nur dort ist, wo alles gut läuft und sich sicher anfühlt, sondern sich mitten im Leben und das heißt eben auch dort finden lässt, wo das Leben nicht glatt aufgeht.
Heimat ist da, wo man meine Sprache spricht – Von der Sehnsucht, verstanden zu werden
Zu sprechen und verstanden zu werden macht in vielerlei Hinsicht Heimat aus. Nicht nur weil dort, wo man drauflosreden kann und jeder mich versteht, die Welt einfacher ist, sondern auch weil Sprache Ich-Sein und Du-Sein und Wir-Sein und Mensch-Sein ermöglicht.
Wo ich verstanden werde, kann ich mich niederlassen
Es ist eine Szene aus dem Film Almanya.4 Hüseyin hat sich endlich das Geld zusammengespart, um seine Familie nach Deutschland zu holen. Fatma und die Kinder sind mehr als skeptisch, denn anders als in Anatolien ist es doch in Deutschland so kalt. Außerdem sollen die Deutschen dreckig sein, Schweinefleisch und sogar Menschen essen, wie Muhameds Schulfreund behauptet. Als Fatma dann zum ersten Mal in dem Laden an der Ecke einkaufen geht, hört sie nur Wirrwarr auf sich einprasseln. Niemand spricht ihre Sprache und der Verkäufer reagiert unerfindlich komisch, obwohl sie doch – für die Zuschauer/-innen klar verständlich, weil auf Deutsch transkribiert – nur Milch und Brot verlangt. Unweigerlich zum Lachen reizend und doch höchst tiefsinnig spielt dieser inzwischen zum Kult gewordene Film mit dem, was in den jeweiligen Kulturen selbstverständlich ist, für jeden anderen aber befremdend wirkt. Der Sprache kommt dabei eine große Bedeutung zu. Wahrscheinlich schafft nichts so sehr Heimat wie der Klang der nicht umsonst so bezeichneten Muttersprache.
Menschen, die längere Zeit im Ausland gelebt haben, erzählen oft davon, wie sie sich plötzlich von einem Tischnachbarn ins Gespräch verwickeln lassen, obwohl sie sich nie zuvor begegnet sind und auch sonst wohl nicht viel gemeinsam haben, nur weil der andere Deutsch spricht und nach längerer Zeit im ausländischen Sprachgewirr die Melodie vertraut klingt. Kein Wunder, dass sich Geflüchtete, die gerade erst ankommen und sich kaum in alltäglichen Dingen verständlich machen können, geschweige denn das mitzuteilen vermögen, was sie wirklich umtreibt, allein wegen der Sprache ausgeschlossen und fremd fühlen.
Sprache ist Brücke zum anderen und damit in die Welt. Wo die Worte und Gesten nicht einfach im Leeren und Unverständlichen verklingen, wo sie richtig gedeutet und verstanden werden, da passiert mehr als eine Übermittlung von Informationen. Da wird Begegnung möglich und da findet Ich-Sein und Du-Sein und Wir-Sein und Mensch-Sein statt. Sprechen können und verstanden werden ist wie kaum etwas anderes Ausdruck von Menschsein. Cordelia Edvardson, die Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, die vierzehnjährig nach Theresienstadt und Auschwitz verschleppt wurde, bringt dies angesichts der Grausamkeiten in den Konzentrationslagern unmissverständlich zum Ausdruck. Sie schreibt in ihrem Roman „Gebranntes Kind sucht das Feuer“5 davon, dass dort, wo die Sprache erstirbt, das Menschsein verlorengeht. In den Konzentrationslagern wurde es immer stiller, beobachtet sie. Die Worte, selbst die kleinen, geschweige denn die großen wie „Danke“ oder „Bitte“, wurden den Gefangenen vorenthalten. Und später, als alles vorbei war und sie überlebt hatte, war diese Zeit in den Konzentrationslagern lange ein „Land, das nicht ist“, weil es „das Land der ungreifbaren, unerlösten Angst ohne Sprache und ohne Worte“ geblieben war. Wo aber gesprochen wird, wo Menschen miteinander reden, wo jemandem zugestanden wird, das Wort zu ergreifen, und andere ihm zuhören, da entsteht Heimat. Wenn wir in Deutschland gerade dabei sind, Integrationspakete zu schnüren, und Geflüchteten ermöglichen, Deutsch zu lernen, dann geschieht hier mehr als der Erwerb von Verständigungskompetenz. Wer sprechen kann, der kann sich eine Stimme verschaffen, und wo miteinander zu reden möglich ist, da können Menschen auch leben, sich niederlassen und Heimat finden.
Verstehen braucht Vertrauen
Reden können und verstanden werden bedeutet aber noch mehr, als das gleiche Idiom zu sprechen. Von Blaise Pascal wird folgender Satz überliefert, mit dem er einen Brief an die „ehrwürdigen Väter“ einleitet, wie er die Jesuiten bezeichnet: „Ich habe diesen Brief nur deshalb länger gemacht, weil ich nicht Muße hatte, ihn kürzer zu machen.“6 Pascal bringt damit nicht nur auf den Punkt, dass es oft viel schwieriger ist, sich kurz zu fassen, ein umfassendes Problem prägnant und knapp darzulegen, als über viele Seiten hinweg umfassende Analysen anzustellen. In diesem einfach daherkommenden Gedanken schwingt noch mehr mit. Sich auf kurze Mitteilungen beschränken zu können, in wenigen Worten auszudrücken, wie es um mich steht, setzt Vertrauen und ein tiefes Wissen umeinander voraus. Sich zu verstehen, ohne lange Worte machen zu müssen, ist nur möglich, wenn vorher viel Zeit miteinander geteilt wurde und jeder weiß, was den anderen bewegt. Wo das nicht der Fall ist, wo über längere Zeit kein Kontakt war, braucht es „lange Briefe“, weil sich allzu leicht verwischt, was vorher als gemeinsame Sprache und unmittelbares Verstehen existierte.
Wenn es zu oft passiert, dass kurze Erklärungen und dazwischengeschobene Infos überhört oder falsch interpretiert werden, wenn Anmerkungen des anderen zu sehr die Gedankenblase „Was soll das?“ auslösen oder der Unmut wächst, weil der andere schon wieder zu spät kommt, obwohl doch 18:00 Uhr als Treffpunkt vereinbart ist, dann ist es höchste Zeit, wieder länger miteinander zu sprechen und voneinander zu hören. Nicht selten kommen dann Geschichten heraus, die eher beschämen als den anderen belasten, weil deutlich wird, dass beim anderen ein Kind krank ist, die Eltern auf Hilfe angewiesen sind und der Einkauf schnell vor dem Meeting erledigt werden musste, damit überhaupt noch etwas im Kühlschrank ist. So zu sprechen, dass wir einander verstehen, ist ein hohes Gut, das Freundschaft braucht.
Heimat ist da, wo Erzählungen geteilt werden – Von der Sehnsucht dazuzugehören
Vielleicht kennen Sie das auch. Bei Klassentreffen beginnen Gespräche nicht selten so: „Weißt du noch, damals …“ Dann werden Erinnerungen über gemeinsame Erlebnisse von früher ausgetauscht und erst viel später ist es vielleicht auch möglich, davon zu erzählen, was die Einzelnen heute umtreibt. Sich gemeinsamer Geschichte zu erinnern, an Erzählungen anzuknüpfen, schafft Vertrauen, um eigene Geschichten dazuzugeben und Räume für neu geteiltes Leben aufzustoßen. Für soziale Systeme gilt Ähnliches. Erzählgemeinschaften stiften Kulturräume und damit Heimat. Sie eröffnen Möglichkeiten, sich zu vergewissern, woher wir kommen, um so, der eigenen Wurzeln gewiss, neue Lebensradien aufzutun. Sosehr geteilte Erzählungen bis in die Moderne hinein Identitäten von Einzelnen und auch ganzen Ländern und Kontinenten ausmachten, so ist es Kennzeichen unserer postmodernen Lebensverhältnisse geworden, dass es solche Meta-Erzählungen, die alles zusammenhalten, nicht mehr gibt.
Vom Ende der Meta-Erzählungen und von der Suche nach einem neuen Wir
Jean-François Lyotard (1924–1998), der mit seiner Schrift „Postmodernes Wissen“7 zu den Vordenkern der Postmoderne gehört, kommt in seinen Analysen zu der Erkenntnis, dass die einstmaligen Meta-Erzählungen nicht mehr funktionieren. Sie waren so etwas wie die allen zur Verfügung stehenden Deutefolien des Lebens und gaben den Kitt vor, der Gesellschaften zusammenhielt. Das Leben heute ist zersplitterter geworden und was Menschen miteinander verbindet, ist nicht mehr mittels einzelner Denklinien auszumachen, sondern vielfältiger und nur in unterschiedlichsten Sprachspielen zu haben.
Diese Auflösung der Meta-Erzählungen kann man einerseits als Freiheitsmoment lesen. Es gilt nicht mehr nur eine einzige Denkfolie, wie z. B. diejenige des Idealismus, der alles notwendigerweise in einen Fortschrittsoptimismus einpasste und damit blind war gegenüber den Gefahren, die eine Technisierung der Lebenswelt mit sich brachte. Zugleich wurde aber der ausgesprochene und unausgesprochene Konsens, was gelten soll, was gesellschaftlich geht und was obsolet ist, immer brüchiger. Es ist heute nicht mehr so leicht zu sagen, was uns miteinander verbindet, warum wir zusammengehören und warum das gut sein soll. Die wiederholten Reden von Wertegemeinschaften, „westlichen Werten“ etc. sind vor diesem Hintergrund eher Indizien, dass es nicht mehr eindeutig auf der Hand liegt, was gesellschaftlich verlässlich ist, als Aussagen, mit denen in verworrenen Situationen wieder Klarheit geschaffen wird. Sosehr also das Auflösen der Meta-Erzählungen als Freiheitsschub gedeutet werden kann und einer Vielfalt von Lebensdeutungen das Feld eröffnet hat, so sehr heißt dies auch, dass die alten Wirs nicht mehr funktionieren und es ansteht, neue Wirs zu entwerfen. Diese neuen Wirs, die parzellierter zu denken sind als die Meta-Erzählungen, haben die Aufgabe, die ausgelöste Vereinzelung und Vereinsamung aufzufangen. Zugleich dürfen sie aber nicht der Gefahr erliegen, sich gegenseitig auszuschließen, abzukanzeln oder sogar, weil sie totalitär geworden sind, andere zu vernichten.
Damit ist ein entscheidender Unterschied angesprochen, der für unsere derzeitige Gesellschaft zukunftsweisend ist. Migrationsstudien und religionssoziologische und -pädagogische Untersuchungen beschäftigen sich zurzeit intensiv mit der Frage, wie es möglich geworden ist, dass sich muslimische Jugendliche mit Migrationshintergrund, die über einen mittleren Bildungsabschluss verfügen, deren Familien Zugang zu Arbeit, Wohnung und Wohlstand haben und damit im Grunde alle Faktoren für einen gelingenden Integrationsprozess erfüllen, trotzdem radikalisieren. Mouhanad Khorchide hat dazu folgende Beobachtungen eingebracht:8 Dort, wo junge Muslim/-innen sich von der Mehrheitsgesellschaft nicht angenommen fühlen, spielt zunehmend der Rückgriff auf Religion eine Rolle. Das geschieht mitunter so, dass Religion als identitätsstiftendes Element genutzt wird, um ein sicheres „Wir-Gefühl“ inmitten einer Welt zu erzeugen, die von den Jugendlichen nichts wissen will. Solange sich dieser Rückgriff lediglich als Ausdruck gestaltet, irgendwo dazuzugehören, dieselben Statusmarker wie die anderen aus der sozialen Gruppe zu pflegen und damit ein Gemeinschaftsgefühl zu garantieren, ist das lediglich eine bestimmte Ausformung eines bestimmten jugendlichen Lebensstils. Wo aber dieses „Religions-Wir“ genutzt wird, um andere Wirs abzuqualifizieren, sie als moralisch schlechter oder sogar als menschlich verwerflich darzustellen, da ist der Schritt zum Fundamentalismus schon vollzogen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für muslimische Jugendliche, sondern auch für alle anderen, die sich radikalisieren.
Der kostenlose Auszug ist beendet.