Mississippi Melange

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Kapitel 4

»Smiljan! Wie schön, dass du einmal hereinkommst und nicht nur draußen herumlungerst. Wie geht es deiner Schwester?«

Es war, als hätte ich nicht einen Kiosk, sondern ein Kino in der Mitte des Films betreten. Ich stand dieser fröhlichen Blondine mittleren Alters gegenüber und hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie überhaupt redete. Schwester? Ich hatte keine Schwester.

»Sie wird doch nicht etwa krank geworden sein, oder? Sie war schon ein paar Tage nicht mehr bei mir.« Die blonde Kioskbesitzerin legte ihre Stirn in Dackelfalten und sah mich gespannt an.

»Nein, krank ist sie nicht«, antwortete ich und hoffte, nicht so komplett ratlos auszusehen, wie ich mich gerade fühlte.

»Na, dann ist ja gut. Wenn sie nur verhindert ist, dann bin ich beruhigt. Hat sie dich geschickt, um die Zigarre für den alten Dommer abzuholen? Das finde ich wirklich mutig von dir.« Jetzt strahlte sie über das ganze Gesicht, als wäre ich ein kleiner Junge, der sie mit einem Strauß selbst gepflückter Blumen überrascht hatte.

»Mutig«, wiederholte ich und konnte nicht verhindern, dass ich etwas fragend klang.

Das strahlende Lächeln der Kioskbesitzerin wurde noch breiter. »Ach, bitte nicht böse sein, Smiljan. Katalie hat mir von deinem kleinen Problem erzählt. Ich finde es toll, dass sie hierhergezogen ist, um in deiner Nähe zu sein. Es ist bestimmt nicht immer leicht für dich.«

»Nein«, antwortete ich und atmete ein paar Mal tief durch. »Das ist es nicht.« Jetzt fügte sich das Bild für mich langsam zusammen. Ich war also Katalies Bruder. Und ich hatte ein Problem, das sich mir noch nicht ganz erschloss. Aber ich hatte eine liebende Schwester, die sich meiner angenommen hatte.

»Hier ist die Zigarre. Aber zerbrich sie nicht, sie ist teuer. Nicht einfach in die Jackentasche stecken.« Sie schüttelte den Kopf und reichte mir eine kleine Papiertüte. »Niklas Dommer kann sich nur eine Zigarre in der Woche leisten. Früher habe ich sie ihm immer selbst in den Jeppesvej gebracht. Nach Feierabend, versteht sich. Doch jetzt kümmert sich ja Katalie darum. Sie ist wirklich ein Engelchen. Glaubst du denn, dass du es bis zum Jeppesvej schaffst? Und wirst du auch hineingehen können zum alten Dommer?«

Statt einer Antwort hob ich fragend eine Augenbraue. Machte ich etwa einen fußkranken Eindruck auf sie? Der Jeppesvej verlief parallel zur Gammelgade und begann nur einen Steinwurf von diesem Kiosk entfernt.

Doch bevor ich sie daran erinnern konnte, redete die Frau auch schon weiter. »Ist es sehr schwer für dich? Besonders glücklich wirkst du gerade nicht auf mich. Klaustrophobie muss etwas ganz Schlimmes sein. Aber in so einem Kiosk sind die Verhältnisse eben ein wenig beengt.«

»Klaustrophobie«, wiederholte ich, und ein weiteres Puzzleteil rutschte an seinen Platz. Katalies Bruder stand bei ihren regelmäßigen Besuchen im Kiosk immer draußen auf dem Gehsteig herum, weil er nicht hineingehen konnte. Wegen seiner Angst vor engen Räumen. Was für eine fürsorgliche Schwester ich doch hatte.

Die Kioskbesitzerin wedelte mit den Händen. »Ja, nun aber raus mit dir, bevor dir schlecht wird. Katalie sagt, dass du bei deinen Anfällen immer ganz fürchterlich kotzen musst, und das wollen wir ja beide nicht, oder?«

Noch immer leicht verwirrt, aber auch unsagbar verärgert, trat ich den Rückzug an. Katalies dreiste Lügen hatten dazu geführt, dass ich jetzt nicht schlauer als zuvor draußen vor dem Kiosk stand und mir Gedanken machte, wie ein Niklas Dommer aus dem Jeppesvej jetzt wohl zu seiner Zigarre kam, die ich in einer Papiertüte mit mir herumtrug. Weder waren mir der Mann noch seine genaue Adresse bekannt, und der Jeppesvej war erschreckend lang.

Trotz schlechter Chancen beschloss ich, in den besagten Weg einzubiegen. Vielleicht kam mir ja an Ort und Stelle eine Erleuchtung. Vielleicht würde ich wissen, wohin ich mich zu wenden hatte, wenn ich erst einmal dort war.

Und es gelang mir tatsächlich ohne große Probleme, das richtige Haus zu finden. Bei meinem Fußmarsch durch den Jeppesvej fiel mir plötzlich auf, wie wenige Ladenlokale es in diesem Seitenweg der Hauptstraße gab. Und hatte mich die Kioskbesitzerin nicht aufgefordert, irgendwo hineinzugehen? Wenn es also nicht ausreichte, die Zigarre in einen Briefkasten zu werfen, so war Niklas Dommer sicher der Inhaber eines kleinen Geschäftes, eines, in dem der Bruder einer gewissen Katalie einen klaustrophobischen Anfall bekommen konnte. Fast sofort fiel mir das hell erleuchtete Fenster der Schusterwerkstatt auf. Nie zuvor hatte ich mir darüber Gedanken gemacht, wie der Schuster, der regelmäßig sein Gehwägelchen durch die Gammelgade schob, wohl heißen mochte, auch wo seine Werkstatt war, hatte mich nicht interessiert. Die Information, dass er ein Schuster war, verdankte ich meiner Nachbarin Fridegard, die mir zur Buttercremetorte auch das eine oder andere Mal Tratsch serviert hatte. Der alte Schuster war seit einem Treppensturz in seinem eigenen Haus nicht mehr gut zu Fuß. Trotzdem flüchtete er sich nicht in den Ruhestand und erledigte auch seine Besorgungen selbst, so hatte sie es mir erzählt. Nun, zumindest seine Zigarre ließ er sich bringen, da wusste ich jetzt einmal mehr als sie.

Das Papiertütchen wie eine Visitenkarte in der Hand betrat ich die Schusterwerkstatt. Ein Geruch von Leder und Klebstoff erfüllte den engen Raum. Auch ohne Platzangst wünschte ich mich wieder zurück auf die Straße. Aber dieses Mal würde ich mich nicht ohne Informationen abspeisen lassen. Irgendjemand musste mir doch sagen können, wo ich nach Katalie suchen musste.

»Ach, da kommt ja meine Zigarre, wie schön. Pünktlich zum Feierabend.« Niklas Dommer, das Gesicht so zerfurcht wie das Leder, das er zu bearbeiten pflegte, grinste mir entgegen. Wie er da so hinter der Ladentheke hockte, ein Kreuzworträtsel vor und ein Regal mit getragenen Schuhen hinter sich, bot er ein Bild der Ruhe und Behaglichkeit. Wäre der Gummigeruch nicht gewesen, hätte ich mich bei diesem Mann wohlfühlen können. Jetzt aber stieg tatsächlich eine leichte Übelkeit in mir auf, wie Katalie es vorausgesehen hatte. Hatte sie das? Ich verwarf den Gedanken und reichte die Papiertüte über den Tresen, legte sie direkt in die großen, schwieligen Hände des Mannes.

»Wo ist denn unsere Kleine abgeblieben? Sie wird doch nicht schon aufgebrochen sein?«

»Aufgebrochen?« Ich wurde sofort hellhörig. »Wissen Sie, wohin sie wollte?«

Ein prüfender Blick aus sehr hellen Augen unter buschigen Augenbrauen traf mich. »Wer will das wissen? Bist du etwa dieser Smiljan, dieser Zahnarzt?«

Diese zweiteilige Frage stellte mich bei ihrer Beantwortung vor ein Problem. »Ja und nein«, gab ich gedehnt zurück.

»Jetzt hör mir mal zu, Jungchen: Frauen müssen nicht alle gleich aussehen und sie müssen schon gar nicht gleich lachen, verstanden?«

Ich nickte.

»Unterlasse es, diesem Mädchen Blödsinn einzureden. Ihre Zahnlücke ist wunderhübsch. Manch andere würde morden, um so eine tolle Zahnlücke zu bekommen.«

»Davon bekommt man aber auch keine«, stellte ich sachlich fest und versuchte, mich auf dieses neue Rätsel einzulassen. Zweifellos war ich bei diesem Herrn auf andere Weise eingeführt worden als noch zuvor bei der Kioskbesitzerin. Obwohl ich Katalie niemals zum Schuster hatte gehen sehen, musste sie einige Male bei ihm gewesen sein. Oft genug, um ihm eine haarsträubende Geschichte über mich und etwas über Reisepläne zu erzählen. »Ich schwöre bei meiner Zahnarztehre, dass ich Katalie nicht an ihre Lücke will«, verkündete ich und hob zwei Finger. Die schmaler werdenden Augen des Alten machten mir klar, dass ich mich ungeschickt ausgedrückt hatte. »Ich würde nur gerne wissen, wohin sie wollte. Hat sie von ihren Plänen erzählt?«

Die buschigen Brauen hoben sich und die Andeutung eines Lächelns wurde sichtbar. »Wo sie hinwollte? Na, um die ganze Welt natürlich. Katalie spart für eine Weltreise, deswegen hat sie auch diese Arbeit im Supermarkt angenommen. Dabei ist sie eigentlich viel zu schlau, um ihre Zeit mit dem Einsortieren von Haferflocken zu vertrödeln. Sie hat mir versprochen, dass sie mir eine Havanna aus Havanna mitbringen wird. Und ich glaube ihr. Wenn es eine schafft, dann ist es Katalie. Die Kleine macht alles möglich.« Niklas Dommer zog die einzelne Zigarre aus der Papiertüte und knibbelte an ihrer Plastikverpackung. »Meine kleine Freude«, flüsterte er, und mir war nicht ganz klar, ob er von Katalie oder der Zigarre sprach. »Früher kam Edita selbst vorbei, um sie mir zu bringen. Edita ist lustig, ja, aber ein bisschen dumm, wenn du verstehst, was ich meine.«

Dumm war mir die Kioskbesitzerin keineswegs vorgekommen. Einfach vielleicht, aber nicht dumm. Und einfach war das Wort, das ab heute nicht mehr zu Katalie passte. Nicht für mich. Ich hatte geglaubt, das Mädchen wenigstens ein bisschen zu kennen, und jetzt stellte sich heraus, dass ich sie überhaupt nicht kannte. Weder kannte ich meine fürsorgliche Schwester noch die Weltenbummlerin. Erstaunlich, dass man einem Menschen tagein, tagaus auf den Teller gucken konnte, und gleichzeitig nichts über ihn herausfand.

»Mit Katalie kann ich große Gespräche führen.« Niklas Dommer kam ins Schwärmen, während er an seiner Zigarre schnupperte. »Kleine Gespräche mit Edita, aber große mit Katalie. Das Kind hat eine große Seele.« Er legte die Zigarre auf den Tresen, griff sich ein scharf aussehendes Messer und trennte die Spitze ab. Jetzt öffnete er eine Schublade zu seiner Rechten, suchte in einem Wust aus Kleinteilen und fand ein Feuerzeug. Trotz aller Vorsätze entschied ich, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, um die Schusterwerkstatt zu verlassen. Sollte sich zu dem bereits vorherrschenden Geruch nach Gummi auch noch der von Zigarrenrauch hinzugesellen, würde ich mich wirklich übergeben müssen.

 

»Eine große Seele vielleicht, aber ob das auf ihren Verstand zutrifft, ist noch nicht geklärt. Ich werde dem und der Zahnlücke auf den Grund gehen. Einstweilen vielen Dank und viel Spaß mit der Zigarre«, sagte ich zum Abschied und schloss die Werkstatttür hinter mir. Noch draußen auf dem Gehweg hörte ich Niklas Dommer eine Antwort brüllen. Ich aber kümmerte mich nicht darum, sondern ging in Richtung Norden davon. Eine Adresse blieb mir noch. Ein Ort, an dem ich mehr über das mir plötzlich so fremde Mädchen Katalie erfahren konnte.


Bei Brugsen, wo man viel längere Öffnungszeiten hatte als in kleineren Läden, herrschte am frühen Abend Hochbetrieb. Noch bevor ich eine Verkäuferin aufspüren konnte, waren mir zwei überforderte Hausfrauen mit ihren Einkaufswagen in die Hacken gefahren. Ich nahm ihre wortreichen Entschuldigungen entgegen und sah mich gleichzeitig suchend nach einem Menschen in farbenfroher Weste um. Endlich, zwischen Käseregal und Kühlschränken voll mit Quark und Joghurt, entdeckte ich jemanden, der sich hier auskennen musste. Und wer sich mit dem Warensortiment auskannte, kannte auch Katalie. Mit einem großen Satz sprang ich der Supermarktangestellten in den Weg. Diese zuckte erschrocken zurück und drückte eine Hand auf ihre Brust.

»Müssen Sie mich so erschrecken? Meine Güte nochmal! Ich kann doch auch nichts dafür, dass der Vanillequark schon fast ausverkauft ist. Hier: der letzte.« Sie hielt mir eine gelbe Plastikverpackung unter die Nase, die ich keines Blickes würdigte.

»Ihr Vanillequark ist mir egal«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Es geht um Katalie.«

»Oh.« Sie riss überrascht die Augen auf, ließ die Packung zwischen den Havarti plumpsen und umklammerte mein Handgelenk. »Sind Sie etwa der Geheimagent, für den sie spioniert? Ist sie jetzt untergetaucht?«

Hatte ich es doch geahnt. Auch im Supermarkt hatte Katalie eine neue, sagenhafte Geschichte ersonnen, und mit meinem Flüstern war es mir gelungen, diese auch noch zu stützen. Geheimagent also. Das kam mir gelegen. Dieses Mal würde ich die Gesprächsführung übernehmen.

Leider war ich im Erfinden von Geschichten nicht so talentiert wie Katalie und so knurrte ich nur eine recht vage Botschaft in das Ohr der sommersprossigen Verkäuferin mit Goldrandbrille: »Das Codewort lautet ›Lakritz-Eis‹. Sie müssen mir jetzt bedingungslos vertrauen.«

»Wirklich?« Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch.

Ich hatte mir eine etwas andere Reaktion erhofft, aber ich spielte meine Rolle weiter und nickte grimmig. »Wir müssen Agentin Katalie finden. Sie gefährden den Auftrag, wenn Sie mir nicht alles erzählen, was Sie wissen.«

Die Angestellte schob eilig ihre Brille zurecht und musterte mich. »Ich habe immer geglaubt, Sie wären größer. Und auch weniger blond. Eher dunkel, verstehen Sie? Dunkel und unheimlich.«

»Alles Tarnung, Teuerste. Eigentlich bin viel größer.«

»Oh«, entfuhr es ihr, und ich überlegte kurz, ob es mir tatsächlich auf Anhieb gelungen war, das dümmste Mädchen im Laden aufzutreiben, als sie plötzlich breit grinste. »Sie spielen das wirklich gut. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so ablaufen würde. Aber Katalie hat mich ja vorgewarnt. Sie meinte, ich würde einfach in das Spiel hineingeschubst werden.«

»Spiel?« Ich vergaß vor Überraschung zu knurren.

»Das Agentenspiel.« Sie grinste noch etwas breiter. »Früher habe ich ja nur bei Mittelalterspielen mitgemacht. Aber das wurde mir auf die Dauer wirklich zu aufwändig: Jedes Wochenende das volle Kostüm anlegen und aus der Stadt rausfahren, um in irgendwelchen kalten Fellhütten zu übernachten. Nein, das war nichts mehr für mich. Da ist das hier doch viel lustiger und spontaner. Was muss ich also tun?«

Ein Agentenspiel, das sich fröhlich in den Alltag integrieren ließ, war also meine neue Bühne. Ich verfluchte Katalie und auch mich selbst, weil ich einfach nicht spontan genug für diese Welt war, und log aufs Geratewohl drauflos.

»Katalie hat uns verraten. Es muss einen geheimen Ort geben, an dem sie sich derzeit aufhält. Ich muss sie finden.« So schlecht klang das für meine Ohren gar nicht.

»Spannend.« Die Sommersprossige klatschte in ihre Hände. »Das hat bestimmt irgendetwas mit Bosse zu tun, meinen Sie nicht?«

»Bosse? Wer ist denn Bosse?« Ich war aus der Rolle gefallen, doch es wurde mir nicht allzu übel genommen.

»Na, Bosse ist doch der tote Briefkasten. Dort kann man Nachrichten für Katalie hinterlassen oder auch bekommen, wenn sie abgetaucht ist.«

Ein toter Briefkasten. War das Teil des Spiels oder gab es diese Person und ihre Funktion wirklich? Wenn ja, dann konnte das bedeuten, dass ich bereits seit geraumer Zeit einer Schnitzelspur folgte, die Katalie eigens für mich ausgelegt hatte. War das möglich? Handelte ich nach einem von ihr ausgeheckten Plan? Der Gedanke hatte etwas Beunruhigendes. Denn wenn ja, dann kannte Katalie mich viel besser als ich sie.

»Wer ist Bosse?«, wiederholte ich noch einmal.

Jetzt zuckte eine Spur des Zweifels in ihrem Gesicht. Ihre Augenlider begannen nervös zu flattern, und schon hielt sie Ausschau, sah über meine Schulter hinweg in den Laden hinein, um sich zu vergewissern, dass sie nicht allein mit mir war. Dann ließ sie mein Handgelenk los, griff nach dem Vanillequark, der noch immer zwischen den Käsepackungen lag, und antwortete eine Spur zu laut: »Na, wenn du das nicht weißt, wer denn dann?«

Aus. Das Spiel war aus, ich war meiner Rolle nicht gerecht geworden, und jetzt war ich aus dem Stück geflogen. Die Sommersprossige nutzte die erstbeste Gelegenheit in Form einer ratlosen Kundin, um mir zu entkommen. Langsam verließ ich Brugsen und schwankte zwischen Niedergeschlagenheit und Hoffnung. Noch gab es eine Spur. Wer war dieser Bosse?


»Und du hast uns wirklich keinen Havarti mitgebracht?« Mein Vater saß mit unglücklichem Gesicht am Küchentisch, während ich selbigen umkreiste und ihm dabei eindringlich schilderte, was mir an diesem Abend widerfahren war.

»Hast du mir überhaupt zugehört?« Für den Fall, dass nicht, fasste ich meine Gedanken noch einmal zusammen. »Katalie war für jeden, den ich befragte, jemand anderes. Und auch ich war jedes Mal jemand ganz anderes.«

»Es ist doch gar nicht wichtig, wie andere sie sehen«, antwortete mein Vater und signalisierte mir damit, dass ich doch nicht nur tauben Ohren gepredigt hatte. »Wichtig ist doch, wie du sie siehst.«

»Ich kenne sie doch gar nicht!« Meine Selbstbeherrschung schwand, da half auch keine Atemübung mehr.

»Dann, mein lieber Junge«, sagte mein Vater und stand auf, »wirst du auch nicht in Erfahrung bringen, wer Bosse ist, und somit auch das Mädchen nicht wiederfinden, was wiederum zur Folge haben könnte, dass ein großer Kerl namens Maiberg hier auftaucht und dir die Knochen bricht.«

»Hat er schon angerufen?«, fragte ich erschrocken.

»Nein. Und er war auch noch nicht hier. Aber dein Postfach lässt dich wissen, dass er dir eine Nachricht geschrieben hat.« Mein Vater verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du warst an meinem Rechner?«

»An den Fernseher durfte ich ja nicht.«

Ich gab ein leises Stöhnen von mir, ging zum Schreibtisch und öffnete voller Unbehagen Maibergs ungelesene Nachricht. Sie war kurz.

Was ist passiert?

Tja, das hätte ich auch gern gewusst, und noch viel lieber hätte ich es ihm gesagt, aber das war nicht so einfach. Oder sollte ich es einfach mit der Wahrheit versuchen? Probehalber tippte ich ein paar Wörter:

Ich habe Katalie verloren.

Ich las mein Geschreibsel noch einmal und drückte nicht auf Senden. Stattdessen löschte ich die Mail Buchstabe für Buchstabe und blieb noch lange vor dem leeren Bildschirm sitzen.

»Was soll ich ihm bloß schreiben?«, fragte ich meinen Bildschirm, doch die Antwort gab mir mein Vater.

»Füttere ihn ein bisschen. Gib ihm ein kleines bisschen Wahrheit, das ihn dir für eine Weile vom Leib hält.«

»Und wenn das nicht funktioniert?«, fragte ich lahm.

»Dann würde ich es an deiner Stelle mit einem guten Versteck versuchen. Hat bei mir auch geklappt.«

Einige Minuten lang starrte ich unverwandt auf Maibergs Zeilen. Dann formulierte ich eine Antwort, die mir entweder Zeit verschaffen konnte oder direkt in eine Katastrophe führte.

Katalie hat eine Hundeleine gekauft und schleift sie hinter sich her, wenn sie durch die Straßen geht.

Ohne noch einmal darüber nachzudenken, schickte ich die Nachricht ab.

»Petze.« Die Stimme meines Vaters klang heiter, als er das Zimmer verließ und pfeifend in Richtung Schlafzimmer verschwand.


Polizeimeister Henk Mandven wischte gerade seinen verschütteten Kaffee vom Fußboden auf, als die dunkelhaarige Frau zur Tür der Polizeiwache im Stengårdsvej hereingewankt kam. Schon die Art und Weise, wie sie sich die linke Hand seitlich an den Hals presste, ließ Henk nichts Gutes vermuten. Er hatte so etwas erst vor wenigen Stunden schon einmal beobachtet.

»Helfen Sie mir.« Ihre Stimme klang seltsam kraftlos. »Ich wurde angegriffen.« Die Worte waren kaum ausgesprochen, als sie auch schon zu taumeln begann.

Augenblicklich war die Kaffeelache zu Henks Füßen vergessen. Er sprang vor und packte sein Gegenüber an den Oberarmen, wobei er die Frau bereits zu einer der nahen Sitzbänke dirigierte. Mit einem einzigen Blick erfasste der Polizeimeister die Situation: Eine feine Blutspur war der gutgekleideten Endzwanzigerin zwischen Ring- und Mittelfinger bis auf den Handrücken gelaufen, wo sie bereits antrocknete. Die Frau war blass und zitterte merklich.

»Was ist da bei dir los, Henk?«

Der Kollege Anders war also endlich aufmerksam geworden, wie schön. Wenn es darum ging, sich über seinen verschütteten Kaffee lustig zu machen, ja da war er flink, der Anders. Kam aber das noch blutende Opfer einer Gewalttat zur Tür herein, ließ er sich gern Zeit mit einer Reaktion.

»Ruf mal die Kollegen von der Ambulanz, Anders. Ich glaube, hier ist wieder jemand unserem speziellen Freund in die Hände gefallen.« Unbeholfen tätschelte Henk der Frau die andere Hand. »Sie sind nicht die Erste, die der Kerl mit seiner Spritze erwischt hat. Es war doch eine Spritze, nicht wahr?«

»Ich glaube schon.« Schwach nickend, rieb sie sich über den Hals. Jetzt konnte Henk einen flüchtigen Blick auf die Einstichstelle erhaschen. Der Täter war ein bisschen grob vorgegangen, was vermutlich daran lag, dass sein Opfer sich gewehrt hatte. Die Nadel der Spritze hatte eine hässliche Kratzspur auf der blassen Haut fast hoch bis zum Ohrläppchen hinterlassen. Die Blutung war auf eben jenen Kratzer zurückzuführen. Henk ging davon aus, dass die Frau daran nicht sterben würde. Und hoffentlich auch nicht an der mit Gewalt aufgezwungenen Injektion. Aber der Schreck war ihr sichtlich in die Glieder gefahren, und dafür hatte Henk vollstes Verständnis.

»Ambulanz ist unterwegs«, rief Anders ihnen aus ­sicherer Entfernung zu, und Henk Mandven beobachtete die beruhigende Wirkung dieser Worte. Plötzlich fand die Frau die Sprache wieder. Der Polizeimeister vermutete, dass nichts ihren Redefluss in den nächsten Minuten würde stoppen können, und so beschloss er, geduldig zuzuhören.

»Thomsen heiße ich. Agnes Thomsen. Ich jobbe als Kellnerin im Lawrence, einem Restaurant in der Innenstadt. Da wird es häufig mal spät. Auch heute Abend habe ich lange gearbeitet. Und als ich endlich heimgehen konnte, war nicht mehr viel los auf den Straßen. Gar nichts, um genau zu sein. Aber das macht mir nichts aus, das bin ich gewohnt. Aber heute, heute Nacht hat mich jemand von hinten angesprungen, an der Schulter gepackt und mir mit etwas in den Hals gestochen. Ich habe mich natürlich gewehrt, habe versucht, das Ding aus meinem Hals zu ziehen …« Ein heftiges Zittern durchlief den Körper der drahtigen Kellnerin.

In Henk wuchs die Befürchtung, dass Agnes Thomsen einen Schock erlitten hatte, und er bat die Frau, sich lang auf der Bank auszustrecken, bevor sie weitersprach. Dann holte er eine der goldfarbenen Rettungsdecken aus dem Erste-Hilfe-Kasten, legte sie ihr über Bauch und Beine und stopfte das Sitzkissen vom Stuhl eines gerade abwesenden Kollegen unter ihre Füße.

 

Die Gelegenheit nutzend, stellte er Agnes Thomsen dabei eine Frage: »Haben Sie den Angreifer sehen können?«

Die Antwort wurde von einem Wimmern begleitet. »Er hat mich zu Boden gestoßen und ist dann weggelaufen. Ich weiß, dass es ein Mann war. Ein großer, dünner Mann. Um die vierzig. Und er trug einen Mantel.«

Henk nickte. Die Beschreibung deckte sich mit der, die andere Opfer des Spritzenmannes der Polizei bereits geliefert hatten. Leider traf sie auf unzählige Männer in Esbjerg zu. »Ist Ihnen sonst noch irgendetwas aufgefallen?«

Agnes Thomsen wollte, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gerade verneinen, als ihr offensichtlich etwas einfiel. »Der Kerl roch seltsam.«

Henk wurde hellhörig. Von einem Geruch hörte er im Zusammenhang mit dem Spritzenkerl zum ersten Mal. »Roch seltsam? Wie roch er denn?«

»Ein bisschen so, wie es in einer Arztpraxis oder einem Krankenhaus riecht.«

Henk Mandven überlegte, wie es üblicherweise in Krankenhäusern oder Arztpraxen roch. »Sie meinen, er roch nach Desinfektionsmitteln?«

»Genau.« Agnes Thomsen brachte ein kräftigeres Nicken zustande.

»Na, das lässt doch hoffen, dass seine Spritze sauber ist.« Der Polizeimeister hörte das Horn eines Krankenwagens, der sich der Wache mit hohem Tempo näherte. »Jetzt werden Sie erst einmal in ein Krankenhaus gebracht, Frau Thomsen. Keine Angst, die werden sicher nur ein paar harmlose Untersuchungen machen. Blutproben und so. Sicher auch eine kleine Gewebeprobe von der Einstichstelle. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind bald wieder auf den Beinen.«

»Wirklich?« Sie klang erleichtert. »Es war also nicht das Attentat eines Wahnsinnigen? Ich bin nicht vergiftet worden? Oder infiziert? Ich hatte schon an Aids gedacht oder an Hepatitis.«

Henk versuchte zuversichtlich zu klingen. »Der Kerl ist vermutlich nur ein armer Irrer und seine Spritze nur eine Art Wasserpistole.«

Agnes Thomsen richtete sich halb auf, als jetzt die Sanitäter zur Tür hereinkamen, und sah Henk Mandven fest in die Augen. »Aber Sie werden ihn doch einfangen und bestrafen, nicht wahr?«

Henk schenkte ihr noch ein freundliches Nicken und überließ dann den Rettungskräften das Feld. Eine Viertelstunde später war auf der Wache im Stengårdsvej wieder Ruhe eingekehrt, und Henk hatte endlich Gelegenheit, seinen Kaffee vom Linoleum zu wischen. Dann rückte er sein Toupet zurecht und nahm hinter seinem leidlich aufgeräumten Schreibtisch Platz. Henk Mandven war ein leicht übergewichtiger Mann, der ungebremst auf die Vierzig zuging. Dass er noch immer Junggeselle war, hatte er sich nicht ausgesucht. Die Damenwelt übersah ihn schon seit Jahren, daran hatte, ganz entgegen aller Werbeversprechen, auch dieses alberne Toupet nichts ändern können. Doch nun hatte er einmal damit angefangen und war zu stolz, um es einfach abzunehmen und sich und allen Kollegen damit zu gestehen, dass nicht einmal Haare seine private Situation verbessern konnten. Immerhin war er mit seiner Karriere bis vor kurzem noch recht zufrieden gewesen.

Bis vor kurzem. Doch seit der Spritzenmann in Es­bjergs Straßen sein Unwesen trieb, war Henk auch diese Zufriedenheit abhandengekommen, und der Grund war einfach: Diese Art von Kriminalität lag nicht in seinem Zuständigkeitsbereich. Als Polizeimeister war er Teil der Lokalpolizei, kümmerte sich um Alltägliches wie Wachbereitschaft, Streifendienste, häusliche Konflikte und Verkehrskontrollen. Der Fall des Spritzenmannes fiel unter personengefährdende Kriminalität. Vielleicht auch organisierte Kriminalität. Oder sogar Wirtschaftskriminalität? Wie auch immer, für solche Dinge waren andere Leute zuständig. Leute, denen er jetzt Meldung machen musste. Er war nur ein Telefonat davon entfernt, auch diesen Fall aus der Hand zu geben. Genau wie den des Mannes, der vor zwei Nächten schreiend in die Wache gestürzt war und immer wieder auf eine Einstichstelle in seinem Oberarm gedeutet hatte. Keine zwei Stunden später hatte sich die Szene wiederholt, nur diesmal war das Opfer weiblich gewesen. Ja, der Spritzenmann war fleißig, doch Henk Mandven verstand nicht, was der Kerl damit bezweckte. Nach langem Bohren an den richtigen Stellen hatte er einem höherrangigen Kollegen die Information aus der Nase ziehen können, dass man nach wie vor im Dunkeln tappte. Man befand sich, wie es von medizinischer und kriminalistischer Seite hieß, in der Findungsphase. Und Henk Mandven war so neugierig wie selten in seinem Leben, was es mit dieser obskuren Geschichte auf sich hatte. Zu gern wäre er an den Ermittlungen beteiligt gewesen, nicht nur, weil dieses letzte Opfer so hübsch gewesen war. Das redete er sich zumindest ein.

Mit einem Seufzer griff er zum Telefon, um an höherer Stelle Meldung zu machen. Wenigstens die Streifendienste konnte er verstärken. Da fiel sein Blick auf die Bank ihm gegenüber, auf der Agnes Thomsen noch kurz zuvor gelegen hatte, und er entdeckte den flachen, schwarzen Gegenstand, der darauf lag. Mandven legte das Telefon aus der Hand und erhob sich. Wieder bei der Bank angekommen sah er, dass es sich ebenfalls um ein Telefon handelte. Ein Handy. Vermutlich war es Agnes Thomsen aus der Manteltasche gerutscht, als sie von ihm in eine bequemere Position gebracht worden war. Er nahm das Handy an sich und ließ es in die oberste Schublade seines Schreibtisches gleiten. Er würde sich persönlich darum kümmern, dass Agnes Thomsen ihr Eigentum zurückbekam.

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