Buch lesen: «Die Farben einer parallelen Welt»
Mikola Dziadok
DIE FARBEN
EINER PARALLELEN WELT
Aus dem Russischen
von Wanja Müller
Mit einer Vorbemerkung von Felix Ackermann
und Erläuterungen von Christian Ganzer
INHALT
Felix Ackermann Das Gefängnis als Echokammer
Vorwort
SCHISO
Opjer
Das Regime
Die Unberührbaren
Der Geruch
Der Aufstand gegen die göttliche Hierarchie
Die Strafe Gottes
Aufstand in der Quarantäne
Mogli
Die „Verflogenen”
Der Hexer
Das Leben ist schön
Offener Brief
Die äußerste Maßnahme
Die Freilassung
Schlusswort
Postskriptum
Christian Ganzer Im Schatten des Gulag
Vorbemerkung
DAS GEFÄNGNIS ALS ECHOKAMMER
Felix Ackermann
Mikola Dziadoks konzise Beschreibungen des Alltags in belarusischen Gefängnissen und Straflagern geben einen Einblick in eine Welt, die sich weniger als 1000 Kilometer von Berlin entfernt östlich der Außengrenze der Europäischen Union auftut. Mit dem scharf gezeichneten Bild vom Innenleben der Strafanstalten in der Republik Belarus wird einem Staat der Spiegel vorgehalten, der seine eigenen Bürger inhaftiert und foltert, allein weil sie für Grundrechte, Selbstbestimmung und freie Wahlen einstehen. Dziadok zeigt in seinen lakonischen Essays, wie im Alltag belarusischer Gefängnisse die in Belarus geltenden Gesetze missachtet werden. Er berichtet, wie politische Gefangene Opfer staatlicher Gewalt werden. Und er zeichnet minutiös nach, dass Willkür kein abstrakter Zustand allgemeiner Rechtlosigkeit ist, sondern die aktiv herbeigeführte, bewusste Überschreitung von Grenzen des Rechts, die auch in der Verfassung sowie den Gesetzen der Republik Belarus festgeschrieben sind.
Mikola Dziadok ist heute Geisel eines illegitimen politischen Regimes, dem das Vertrauen durch die eigene Bevölkerung seit dem Sommer 2020 entzogen ist. Die psychischen und physischen Misshandlungen, die Dziadok für den Zeitraum 2010 bis 2015 dokumentiert, erfolgen heute in ähnlicher Weise – jeden Tag mitten in Europa. Sie werden ihm und den anderen inzwischen mehr als 800 politischen Gefangenen stellvertretend zugefügt, um die über neun Millionen Einwohner der Republik vor der Gewalt des Staats zu warnen. Damit zeigt der Blogger und Aktivist auch, unter welchen Bedingungen heute Maria Kolesnikowa, Sergei Tsichanowskij und viele andere im belarusischen Strafvollzug leben.
Zugleich macht Dziadok in seinen Texten deutlich, dass es eine Möglichkeit gibt, die Gewaltherrschaft im Gefängnis selbst vorzuführen und sie gegen die Institutionen des illegitimen Staats zu wenden. Auch wenn er heute abgeschirmt von der Öffentlichkeit und weitgehend ohne Kontakt zu seiner Familie hinter Gittern ist, gelang es ihm mit seinem Buch sowie aus dem Strafvollzug geschmuggelten Berichten, das Gefängnis in eine Echokammer des Widerstands zu verwandeln. So werden das mit den Händen geformte Herz einer Maria Kolesnikowa während der Gerichtsverhandlung ebenso wie die Texte von Mikola Dziadok zum Aufruf, weiterhin einzustehen gegen die Gewalt von Alexander Lukaschenkos maskierten Unterstützern.
Das vorliegende Buch wirft auch die Frage auf, wie es die Menschen im westlichen Europa mit Staatsverbrechen mitten in Europa halten. Wer heute die Zustände in belarusischen Gefängnissen auch außerhalb der Landesgrenzen anprangert, unterstützt die Inhaftierten ebenso wie die belarusische Demokratiebewegung. Deshalb fließt der Gewinn aus dieser Publikation vollständig in die Arbeit des Vereins Razam, in dem sich nach Deutschland Geflüchtete aktiv für politisch Verfolgte in Belarus einsetzen. Der Verein Liberecco listet auf seiner Homepage die aktuellen Adressen der politischen Gefangenen in Belarus auf – es ist möglich, ihnen auch aus dem Ausland auf Russisch und Belarusisch Briefe zu schreiben. Die Schweizer Parlamentsabgeordnete Tamara Funiciello übernahm eine Patenschaft für Mikola Dziadok. Unter #westandby gibt es im Internet zudem Stimmen ganz unterschiedlicher Zeitgenoss:innen zur Willkür in Belarus – einer Willkür, deren systematischen Charakter Dziadok am Beispiel der Haftanstalten seziert.
Felix Ackermann ist Historiker, Kulturwissenschaftler und Stadtanthropologe. Seit 2016 forscht er am Deutschen Historischen Institut Warschau.
VORWORT
Als Kind habe ich im Vorwort zu irgendeinem Buch eine treffende Bemerkung gelesen: „Kaum verbringt ein Intellektueller eine Nacht auf einer Polizeistation, schreibt er gleich ein Buch darüber“. Ich weiß nicht, ob ich mich als Intellektuellen bezeichnen kann, und in den Kerkern des Systems habe ich mehr als nur eine Nacht verbracht, doch diese Bemerkung finde ich sehr passend. In der Tat gibt ein Gefängnis, der Freiheitsentzug und alles, was damit verbunden ist, einem Menschen ein so breites Spektrum an Gefühlen und Eindrücken wie kaum etwas anderes. Und für jemand, der gewohnt ist, das Erlebte kritisch zu analysieren, ist das auch noch ein unglaublich fruchtbarer Boden für Beobachtungen, Reflexionen und tiefes Nachdenken.
Diese Textsammlung, so die Idee, die ich hoffentlich realisieren kann, soll nur ein Zwischenschritt zu einer umfassenden Geschichte sein, bloß eine Skizze auf der Leinwand, die erst noch mit Farben bemalt werden muss – sie vermittelt einen allgemeinen Eindruck, lässt aber noch nicht die Fülle des Gesamtbildes erkennen. Ein solches Bild wird, wie ich hoffe, ein Buch sein, das über meine Zeit im Gefängnis vom ersten bis zum letzten Tag erzählt.
Warum habe ich mich entschieden, „Die Farben einer parallelen Welt“ zu schreiben? Erstens: Die Machthaber hatten und haben Angst davor, dass das, was in Gefängnissen geschieht, an die Öffentlichkeit dringt, und sie tun bewusst alles, um die Gefängnisse so weit wie nur möglich von der Außenwelt zu isolieren. Das heißt: Die Zustände in Gefängnissen und Strafkolonien öffentlich zu machen, kann ihrem moralischen Ansehen und ihrer Reputation schaden. Und wenn wir die Möglichkeit haben, solchen Schaden zu verursachen, müssen wir diese Möglichkeit nutzen. Jeder Gauner versucht, seine Taten zu verbergen oder, wenn es ihm nicht gelingt, irgendwie zu rechtfertigen: mit dem Gesetz, dem Recht des Stärkeren, der „revolutionären Notwendigkeit“, der Moral … Die Wahrheit zu sagen und die Verbrechen aufzudecken, ist hier ein Imperativ, die moralische Pflicht eines jeden Menschen. Zweitens ist wichtig zu dokumentieren, was wir gesehen und erlebt haben. Denn nichts und niemand ist ewig. Viele könnten in Zukunft sagen: „Wir haben nichts getan … Wir haben bloß Befehle befolgt“, oder: „Wir wussten nicht, dass sowas passiert, sonst hätten wir etwas unternommen!“ Oder sie werden gleich alles abstreiten: „Das ist eine Lüge, so was gab es nicht! Wo sind die Beweise?“ Und auch wenn kein Volksgericht und kein Gericht eines Staates je über sie urteilen wird, so ist das Urteil der Geschichte selbst viel wichtiger.
Über das Gefängnis ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Und manchmal scheint es schwer, Neues beizutragen, denn Unfreiheit ist Unfreiheit, und in allen Ländern der Welt, von den Diktaturen Asiens bis zu den bürgerlichen Demokratien des Westens, sind die Gefängnisse gefüllt mit Verzweiflung, Bitterkeit, Angst, Schmerz, Gemeinheit und Selbstaufopferung, Freundschaft und Verrat, Barmherzigkeit und Grausamkeit, und natürlich mit der institutionalisierten Gewalt, die eine Art Sprache des Gefängnisses ist. Werde ich also in der Lage sein, etwas Neues beizutragen? Global betrachtet natürlich nicht, denn das belarusische Gefängnis ist nicht etwas Einzigartiges, vor allem nicht für den postsowjetischen Raum, und die allgemeine Logik und Philosophie des Gefängnisses ist, wie gesagt, überall gleich. Doch im lokalen Maßstab schon, denke ich. Ohne falsche Bescheidenheit kann ich sagen, dass meine Erfahrung im Maßstab von Belarus einzigartig war. Meine Freunde und ich waren die ersten Anarchisten in Belarus, die seit der Unabhängigkeit des Landes wegen politischer Aktionen zu Haftstrafen verurteilt wurden. Nicht weniger einzigartig waren auch die Umstände unserer Freilassung. Ich weiß nicht, ob es andere Beispiele in der Weltgeschichte gibt, wo die höchsten Vertreter europäischer Staaten, von Präsidenten und Premierministern bis zu Senatoren in den USA, von einem anderen Staat die Freilassung politischer Gefangener, und zumal von Anarchisten, gefordert hätten, die wegen direkter Aktionen verurteilt worden waren – und interessanterweise wurden wir unter anderem auch aufgrund dieser Forderungen tatsächlich freigelassen – obwohl es auch in ihren jeweiligen Ländern genug „eigene“ Anarchisten gibt, die im Gefängnis sitzen.
In den fünf Jahren meiner Gefangenschaft war ich in vier verschiedenen Gefängnissen und in drei Strafkolonien inhaftiert. Nur wenige Gefangene in Belarus ereilt ein solches Schicksal. Insgesamt mehr als ein Jahr habe ich in Einzelhaft verbracht, konnte aus der Nähe die Subkultur der Kriminellen und ihrer Vertreter beobachten – Berufsverbrecher oder auch „Vagabunden“, wie sie sich selbst nennen. Ich war der zweite Gefangene, der in der zweiundzwanzigjährigen Geschichte des Gefängnisses von Mahiljou nach Art. 411 des Strafgesetzbuches1 verurteilt wurde; erlebte ausnahmslos alle „Besserungsmethoden“, vom Entzug der Paketzustellung bis zur Überführung in ein Hochsicherheitsgefängnis und probierte ausnahmslos alle Methoden des Gefangenenprotests aus, von schriftlichen Beschwerden, über Hungerstreiks, bis zur Selbstverletzung. Deshalb hoffe ich, dass meine Erfahrungen und die Informationen, die ich aus den Kerkern mitgenommen habe, nützlich sein werden. Für die einen, um die kommenden Bewährungsproben zu bestehen, für die anderen, um nicht die Fehler zu wiederholen, die ich gemacht habe, und für andere wiederum womöglich als Material soziologischer und anthropologischer Forschung.
Aus dem Gefangenenjargon sind einige hundert, wenn nicht tausend Wörter in die russische Sprache eingegangen. Dieser Gefangenenjargon wurde in diesem Buch beibehalten.
Danke, dass Sie bis hierher gelesen haben. Ich hoffe dieses kleine Buch wird für Sie von Interesse sein.
Für die Entstehung dieses Buches möchte ich meinem Vater und meinen Genossen danken: Dank ihrer Bemühungen konnte ich ein halbes Jahr früher freikommen, als nach dem Urteil vorgesehen war. Ich danke meinem Lehrer Uladsislaw Iwanow für die Ermutigung und Motivation, meiner Frau Lera für Rezensionen und Kritik. Ich danke Oberstleutnant Aljaxandr Heorhiewitsch Lizwinski – dank dessen Rachsucht und Hass ich dorthin gekommen bin, wo ich war, um zu sehen, was ich gesehen habe. Ebenfalls möchte ich dem gesamten Strafsystem der Abteilung für Strafvollzug des Innenministeriums danken, dessen totale Schwachsinnigkeit und Unmenschlichkeit für mich eine Quelle der Inspiration war und bleiben wird.
SCHISO
Der Strafisolator
„Wer nicht im Militärknast war, der hat nicht in der Armee gedient“, sagen ehemalige Soldaten oft. Ähnlich kann man sagen: „Wer nicht im Strafisolator saß, der war nicht im Gefängnis“.
Ohne zu verstehen, was der Strafisolator ist – oder Kitscha, wie es im Gefangenenjargon heißt – ist es weder möglich, das Wesen des Gefängnissystems zu verstehen, noch viele der Handlungen der Gefangenen.
Gemäß der Vollzugsordnung für Haftanstalten und dem Strafvollzugsgesetz ist die Strafisolation eine der schwersten Disziplinarmaßnahmen, die nur wegen grober Verletzung des Vollzugsregimes angewendet werden darf. Da aber niemand definiert hat, was als grober Verstoß gelten soll, liegt es gänzlich in der Hand des Chefs der Strafkolonie, darüber zu entscheiden.
Was ist der Strafisolator? Wie eine Insel befindet sich auf dem Gebiet der Strafkolonie hinter einem zusätzlichen Stacheldraht und einem geharkten Kontrollstreifen eine Baracke: Die Strafisolationsbaracke ist eine Art Spezialgefängnis innerhalb der Kolonie. In der Baracke gibt es, wie in einem ganz gewöhnlichen Gefängnis, wo die Strafzellen sich im Keller befinden, Haftzellen. In eine dieser Zellen wird der Gefangene nach einer Sitzung des Disziplinarausschusses gebracht.
Stellt euch einen Raum von etwa zwei Metern Länge und einem Meter irgendwas in der Breite vor. Der Boden aus Holz. Auf dieser nicht sehr großen Fläche befinden sich: eine Pritsche, hochgeklappt und an der Wand befestigt, die vom Aufseher von außen, aus dem Korridor, heruntergelassen wird; ein Hocker; ein kleiner Tisch zur Nahrungsaufnahme; eine Toilette – eine Kloschüssel gibt es nicht –, es ist ein Loch im Boden, das von einer Seite von einer etwa ein Meter hohen Trennwand verdeckt ist; ein Waschbecken; kleine Regale an den Wänden. Oft ist alles so eingerichtet, dass man keine zwei Schritte gehen kann, ohne gegen irgendetwas zu stoßen. An der Decke hängt eine Glühbirne, und es gibt ein Art Fenster – wenn man es so nennen darf. Von der frischen Luft trennt euch die Glasscheibe, ein Gitter von innen und eine Metalljalousie von außen, damit die Häftlinge nicht etwas von einer Zelle in die andere weitergeben und der psychologische Druck zusätzlich erhöht wird, da weder Sonne noch Himmel zu sehen sind. Doch die Vollzugsverwaltung ist oft kreativ und lässt am Fenster zusätzliche Gitter anbringen. Rekordverdächtig waren da die Bullen aus der Strafkolonie Nr. 9 in Horki, die das Fenster gleich vierfach vergittert haben – das Sonnenlicht kam fast gar nicht mehr durch, und es ist gut möglich, dass dieses Know-how ihnen eine besondere Belobigung der Prüfungskommission von der Abteilung für Strafvollzug eingebracht hat.
Bevor der Häftling die Strafzelle betritt, wird er standardmäßig gefilzt. Das Wichtigste ist, dass man praktisch kein Kleidungsstück mitnehmen darf, außer der Häftlingsuniform. In manchen Strafkolonien ist auch die nicht erlaubt, man bekommt in der Strafisolation eine andere Uniform, mit der Aufschrift SCHISO über den ganzen Rücken. Man erlaubt euch nur, ein Handtuch, Zahnpasta, Zahnbürste und Toilettenpapier mitzunehmen. Sogar Nassrasierer sind nicht überall erlaubt.
In Horki, zum Beispiel, ist es den Insassen des Strafisolators nicht erlaubt, sich im Waschraum zu rasieren, damit sie keine Klingen aus den Rasierern holen und sich damit zum Beispiel aufschneiden. Natürlich denkt niemand daran, die Lebensbedingungen der Häftlinge zu verbessern, damit sie sich nicht aus Protest selbst verletzten, es ist einfacher das Rasieren zu verbieten. Das Ergebnis ist, dass die Gefangenen aus dem Isolator wie Yetis zurückkommen, zugewuchert und verwildert.
Was ihr sonst auch immer mitnehmen wollen würdet – Essen, Zigaretten, Papier, Stifte, Briefe, Zeitungen, Bücher – es ist nicht gestattet. In der Strafzelle müsst ihr mit euch allein bleiben und, so stellen sich das die Kerkermeister vermutlich vor: über das eigene Verhalten nachdenken.
Geschickte Gefangene, die nicht zehn oder mehr Tage ohne Zigaretten auskommen wollen, stellen sogenannte „Torpedos“ her: Zigarettenrollen, die hermetisch in mehrere Lagen Folie verpackt sind und die sie sich dann in den Enddarm schieben. Auf diese Weise passen natürlich nicht viele Zigaretten rein, deshalb müssen sie im Torpedo sehr eng verpackt werden, was an sich bereits eine hochtechnologische Prozedur ist. Am Ende besteht ein durchschnittlicher Torpedo aus vierzig Zigaretten und hat einen Durchmesser von drei bis vier Zentimetern. Die meisten Häftlinge können nicht mehr als drei Torpedos mitnehmen, aber man hört gelegentlich von besonderes Begabten, die bis zu neun Stück schaffen. Nach der Enttorpedierung muss man die Zigaretten irgendwo lagern, damit sie bei einer routinemäßigen Zellendurchsuchung nicht gefunden und beschlagnahmt werden. Auch das verlangt von einem Häftling ein gewisses Maß an Einfallsreichtum und List.
Durch die Futterklappe der Zellentür wird dreimal am Tag das Essen ausgeteilt. Einen Löffel und eine Schüssel bei sich zu haben, ist ebenfalls verboten – sie werden ausgegeben und wenn du fertig bist, wieder abgenommen. Bis 1998 wurde den Gefangenen im Strafisolator an einem Tag eine reduzierte Essensration gereicht, weniger als der übliche Gefängnisstandard. Am nächsten Tag gab es nur Brot und Wasser. „Einen Tag fliegen, den anderen Tag liegen“ – so nannten das die Gefangenen, von denen die meisten sich an einer Wand festhalten mussten, wenn sie nach fünfzehn Tagen die Strafzelle verließen. Im Jahr 1998 wurde das Gesetz geändert, doch die Norm der reduzierten Essensration im Strafisolator blieb bis 2010 bestehen. Mittlerweile werden die Gefangenen sowohl im Isolator wie auch im sonstigen Vollzug gleich ernährt. Humanisierung!
Der Rhythmus der drei Mahlzeiten am Tag ist fast die einzige Möglichkeit, in der Strafzelle erfahren zu können, wie spät es gerade ist. Denn Uhren sind im Strafisolator ebenfalls verboten. Genau wie alles andere, was irgendwie helfen kann, die Zeit totzuschlagen. Der Insasse des Strafisolators darf keinen Besuch empfangen, Telefonate sind verboten. Es dürfen keine Päckchen, keine Pakete mit Lebensmitteln, keine Briefe empfangen werden. Ein Hofgang findet nicht statt. Vierundzwanzig Stunden, rund um die Uhr, steckst du in einer Betonkammer fest. In aller Ernsthaftigkeit stellt sich dem Gefangenen die Frage: Wie soll ich mich beschäftigen? Und eine Antwort muss er finden, erstens, wenn er nicht durchdrehen will, und zweitens, damit die Zeit sich nicht mit so einer quälenden Langsamkeit hinzieht. Erschwert wird die Situation dadurch, dass man in der Strafzelle meist allein einsitzt. Die Bullen wissen, was sie tun, denn bereits Alexandre Dumas bemerkte einst: „Ein geteiltes Gefängnis ist nur noch ein halbes Gefängnis.“ Die Lagerverwaltung wird euch mit dem größten Vergnügen das Gefühl vermitteln, ein Gefangener des Chateau d’If2 zu sein und euch erst mit einem Nachbar beglücken, wenn alle anderen Zellen gefüllt sind.
Wer raucht, löst das Problem relativ einfach. Solange man eine Zigarette aus dem Versteck holt, solange man darauf wartet, dass der Aufseher am Türspion vorbeizieht, solange man aus dem Fenster raucht, mit einem Handtuch den Rauch in der Zelle verteilt, um nicht aufzufliegen – solange ist man auf eine gewisse Art beschäftigt. Vier bis fünf Zigaretten am Tag und die Zeit vergeht wie im Flug. Wer nicht raucht, hat es schwerer. Doch in jedem Fall ist fast jegliche Form von Zeitvertreib in der Strafzelle durch die Vollzugsordnung verboten und kann zu zusätzlichen Strafen führen, zum Beispiel zu einer Verlängerung der Strafisolation. Gespräche mit Gefangenen in der Nachbarzelle durch Wände, Fenster oder die Abflüsse sind verboten; lesen oder schreiben ist verboten. Selbst wenn ein Wunder geschieht und ihr es schaffen solltet, etwas reinzuschmuggeln, wird man es euch beim allerersten Zellenfilzen wegnehmen. Schlafen ist verboten. Wenn ihr zu zweit einsitzt und auf die Idee kommt, Spielsteine für ein Dame-Spiel aus Brot zu formen, und es dann auch noch zu spielen, dann könnt ihr auch dafür bestraft werden. Nicht gestattet!
So bleibt nicht viel übrig: In der Zelle auf und ab gehen, aus einer Ecke in die andere, wenn die „Möbel“ es erlauben. Normalerweise sind es fünf kleine Schritte in eine Richtung. Man kann Sport treiben, wenn man unter Sport Übungen versteht, die in einem Raum fast ohne Zufuhr von frischer Luft ausgeführt werden. Oder man sitzt einfach da und denkt nach. Mich persönlich haben Yoga, Meditation, Träume über die Zukunft und lange Zellenwanderungen gerettet.
Aber das alles gehört zum Tag. Das Interessanteste beginnt im Strafisolator in der Nacht. Gemäß Vollzugsordnung sind dem Strafisolationsgefangenen eine Matratze sowie weiteres Bettzubehör nicht gestattet; stattdessen wird für die Nacht die Pritsche von der Wand gelöst. Doch die Gefangenen schlafen nie darauf – sie schlafen auf dem Boden, weil es da wärmer ist. Wenn draußen nicht gerade dreißig Grad plus und mehr sind, dann erwartet euch in der Nacht ein wunderbares Abenteuer unter der Überschrift: Versuch mal einzuschlafen. Nicht nur, weil ihr auf Brettern schlafen müsst – was bei fehlender Gewohnheit nicht gerade einfach ist –, sondern vor allem, weil die Kälte euch selten mehr als dreißig-vierzig Minuten schlafen lässt. Nach einer halben Stunde Schlaf, wacht ihr abhängig von der Raumtemperatur der Zelle vor Kälte zitternd auf und stellt fest, dass ihr nicht mehr schlafen könnt, und ihr versteht zugleich sehr schnell, warum euch bei der Eingangsinspektion all die warmen Sachen abgenommen wurden. Der Überlebensinstinkt wird euch zielsicher einen Rat geben: Wenn es nicht möglich ist, die Umgebungstemperatur zu erhöhen, dann muss man wenigstens die Temperatur des eigenen Körpers steigern. Dann fangt ihr an, all die Übungen aus dem Sportunterricht in der Schule durchzunehmen, um das Blut wenigstens etwas in Bewegung zu bringen und es in die durchgefrorenen Gliedmaßen zu treiben. Habt ihr diese Aufgabe erfolgreich bewältigt, dann könnt ihr noch eine halbe Stunde schlafen. Die Kombination aus Sport und Schlaf werdet ihr bis zum Morgen durchhalten müssen, wenn der Brühenträger euch zum Frühstück, falls ihr Glück habt, etwas warmen Tee und eine Schüssel Brei bringt.
Mit der Zeit wird man erfahrener. Wenn du die Zelle betrittst, verklebst du das Fenster mit Toilettenpapier. So bekommst du zwar gar keine frische Luft mehr, aber es ist wärmer. Du suchst nach den Plätzen, an denen es am bequemsten ist zu schlafen. Ich identifiziere sie nach dem Abrieb der Bodenfarbe. Wo die Farbe am deutlichsten weggescheuert ist, genau da musst du dich schlafen legen, das ist der Hinweis, dass die meisten vor dir genau dort geschlafen haben. Du steckst die Hosenbeine in die Socken, um auch die letzten Krumen Wärme bei dir zu behalten und bastelst aus deinen Latschen und den Rollen Klopapier ein Kissen.
Auf jeden Fall wacht ihr ziemlich kaputt auf, und ihr werdet den ganzen Tag schlafen wollen. Schließlich gebt ihr diesem Wunsch nach und legt euch auf den Boden. Mit Freude wird der Aufseher ein Protokoll über einen Verstoß verfassen. Schon vergessen? Tagsüber schlafen ist verboten. Einige Tage später öffnet sich die Tür und man teilt euch mit: „An jenem Tag, zu jener Stunde, hat der Gefangene soundso auf dem Boden der Strafisolationszelle Nummer soundso geschlafen, womit er den Punkt soundso der Vollzugsordnung verletzt hat“. Dann dürft ihr für weitere zehn Tage im Strafisolator unterschreiben. Als besonders schick gilt es bei den Bullen, euch ein solches Papier in den letzten Stunden, sogar Minuten vor der Entlassung vorzulegen, wenn du schon voller Vorfreude bist, gleich in deinen regulären Haftblock zurückzukehren, einen heißen Kaffee mit einem Stück Schokolade zu trinken und diese Nacht in einem warmen und weichen Bett zu schlafen.
Wie lange darf ein Gefangener im Strafisolator gehalten werden? Bis 2008 waren es fünfzehn Tage. Nach einer weiteren Welle der „Humanisierung“ wurde der Zeitraum auf zehn Tage reduziert, aber de facto hat sich nichts geändert, denn hier ist die Rede von einer einmaligen Strafe für ein einzelnes Vergehen. Aber bei sogenannten Vergehen in der Strafisolation kann ein Gefangener so lange dort festgehalten werden, wie es beliebt. „Schläft auf dem Boden“ ist dafür nicht der einzige Grund. In jeder Strafkolonie gibt es eine eigene Standardbegründung, die für einen Häftling zurechtgebastelt wird, um seinen Aufenthalt in der Strafzelle zu verlängern. Irgendwo heißt es dann, er habe nicht aufgeräumt, irgendwo anders ist es ein nicht zugeknöpfter Knopf …
Ich werde nie vergessen, wie ich in der Strafkolonie Nr. 17 in Schklou bereits zwei Stunden nach meiner Ankunft im Strafisolator landete und mich entschied, dass ich ihnen keinen weiteren Vorwand liefern und alles strengstens nach Vorschrift machen werde! Nichts wird es zu bemängeln geben, und nach zehn Tagen werden sie mich raus lassen. Mit einem winzigen Lappen putzte ich die ganze Zelle. Ich beseitigte die Spinnweben, den Staub, den Schmutz, sogar an den Stellen, an denen ich sicher war, dass sie seit dem Bau der Baracke nicht mehr sauber gemacht wurden. Dann erfolgt die Abendkontrolle. Die Zellentür öffnet sich, gleich drei Aufseher und der diensthabende Vertreter des Koloniechefs stürmen buchstäblich in die enge Kammer und fangen an rasend ihre Köpfe hin und her zu drehen, mit den Händen über die Regale, die Kanten der Pritsche, den Heizkörper, über den Tisch zu fahren, sie bücken sich, klettern unter den Tisch und kriechen fast schon auf allen Vieren, suchen nach Staub und wenigstens einem kleinen Fleckchen Schmutz. Alles vergeblich, die Zelle glänzt. Dann drückt einer der Aufseher, der zuvor mit der Hand über das Regal gefahren ist, auf die Stelle, wo die alte Farbe abgeblättert ist und verreibt sie zwischen seinen Fingern – winzige Farbpartikel bleiben auf seiner Hand.
„Oh! Da haben wir es ja: Staub! Dann setzen wir aber gleich mal ein Protokoll auf.“
Was ich denen geantwortet habe, weiß ich nicht mehr. Aber dieser Vorfall erledigte endgültig den Glauben, ein politischer Gefangener könne in der Zone3 so leben, dass man ihn in Ruhe lässt.
Ein anderer Fall aus der Strafkolonie Nr. 9, in Horki. Ein Gefangener, der wusste, dass die Bullen wütend auf ihn waren und seine Strafisolation sehr wahrscheinlich verlängern wollten, verhielt sich vorbildlich. Er knöpfte seine Uniformjacke bis zum letzen Knopf zu, schlief tagsüber nicht. Und so bricht ein weiterer Tag an. Die Mittagszeit ist vorüber. Ein paar der Jungs, die mit ihm in der Zelle saßen, strecken sich auf dem Boden aus und schnarchen vor sich hin. Die Zellentür öffnet sich und der Vertreter des Koloniechefs tritt ein. Die da schlafen, beachtet er gar nicht. Mit dem vermeintlich vorbildlichen Gefangenen findet aber ein Gespräch statt:
„Und warum schläfst du nicht?“
„Ich halte mich an die Vollzugsordnung!“
„So so, du hältst dich dran … Na, das gibt ein Protokoll – ein Protokoll!“
Und dann kann der Gefangene vor der Disziplinarkommission versuchen, so lange zu beweisen, wie er will, dass er nicht geschlafen und auch sonst nichts verbrochen hat. Ich habe von keinem einzigen Fall gehört oder einen solchen erlebt, bei dem solche Erklärungen jemals, auch nur ein einziges Mal, irgendjemandem geholfen hätten, die Strafe wenigstens zu reduzieren, geschweige denn sie ganz abzuwenden.
In der Strafkolonie Nr. 17, in Schklou, in den alten Zeiten, als man in der Zone noch öfter Handys finden konnte, hämmerten die gefängnisinternen operativen Ermittler5 den Häftlingen ein: Wer mit einem Handy erwischt wird, wandert für dreißig Tage in den Strafisolator! – Aber wie können es denn dreißig Tage sein, laut Gesetz sind doch maximal fünfzehn zulässig? Das heißt: Jemand ist noch gar nicht im Isolator gelandet, und die Bullen wissen schon, dass er dort einen „Regelverstoß“ begehen wird und man ihm noch weitere fünfzehn Tage drauflegen wird?
Die Unverschämtheit der Aufseher und die Gewöhnung der Häftlinge an die Willkür erreicht absurde Dimensionen. Ein ehemaliger Insasse der Strafkolonie Nr. 8 in Orscha erzählte mir, wie er zusätzliche Tage in der Strafisolation bekam. Bei einer Zellenkontrolle kommt der diensthabende Vertreter des Koloniechefs und geht die Liste der Zelleninsassen durch. Er schaut, welcher Gefangene laut Liste als zuständiger Zellenältester ausgewiesen wird, und wenn es derjenige ist, den die Operativen abzuschießen befohlen haben, sagt er ohne den Blick von der Liste zu heben: „Iwanow6 – Spinnennetzchen“ und geht wieder raus. Das bedeutet, dass in der Zelle unter der Decke eine Spinnwebe hängt. Wenn der Diensthabende meint, da ist eins, spielt es überhaupt keine Rolle, ob da wirklich eines hängt oder nicht. Die Schuld daran trägt der zuständige Zellenälteste, der schlecht aufgeräumt hat. Das bedeutet, gegen ihn wird ein Verstoßprotokoll verfasst, das vom Chef der Strafkolonie bei der Sitzung der Disziplinarkommission geprüft wird und dann entscheiden die anwesenden Vollzugsbeamten, ob gegen Iwanow4 eine Disziplinarmaßnahme verhängt werden muss. Aber diese lange Erklärung braucht der Gefangene nicht. Das Wort Spinnennetzchen neben seinem Namen in der Liste bedeutet nur eines: Sein Aufenthalt im Strafisolator verlängert sich um mindestens zehn Tage. Im Verlauf dieses Spektakels stellt keiner der Anwesenden irgendwelche Fragen, es herrscht völliges Einvernehmen.
Wie sehr ich auch danach gesucht habe, ich habe keinen Rechtsakt gefunden, der die Gesamtaufenthaltsdauer eines Gefangenen im Strafisolator irgendwie beschränken würde. Die längste Zeit, die ich ohne Unterbrechung in der Strafisoloationszelle verbracht habe, betrug zwanzig Tage und die Gesamtzeit bei meiner Entlassung betrug fast ein halbes Jahr. Der ehemalige politische Gefangene Jauhen Waskowitsch verbrachte im Gefängnis von Mahiljou dreißig Tage am Stück in der Strafisolation, ingesamt verbrachte er dort ein ganzes Jahr. Ich selbst wurde Zeuge, wie ein Gefangener für sechzig Tage am Stück im Isolator einsaß, weil er die „Selbstverpflichtung zum rechtskonformen Verhalten“ nicht unterschreiben wollte.
Und mein Zellengenosse in Mahiljou saß 2005 für hundertachtzig Tage am Stück im Strafisolator ein! Alle fünfzehn Tage wurde er in die Gefängnisverwaltung gebracht, um ein weiteres Verstoßprotokoll zu unterschreiben und gleich danach ging’s wieder in die Strafzelle – und das zwölf Mal hintereinander.
Deshalb, solltet ihr jemals von einem Polizisten, einem ehemaligen oder einem dienstaktiven, von einem staatlichen Journalisten oder von einem korrupten Pseudo-Menschenrechtsaktiven etwas über humane und europäische Standards in belarusischen Gefängnissen hören, dann erzählt ihnen einfach von den Liegestützen in der Nacht, hundertachtzig Tagen Betonkammer und den Spinnennetzchen.