Buch lesen: «Tschapka»

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Mike Nebel

Tschapka

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Schocklage

Die Wanderheuschrecken

Zeit der Massage

Der halb appe Finger

Moskau

Der Don, ach, der schöne weite Don

Bei den Tataren

Tschapka

Ausgangssperre

Frozen ears in Siberia

Olga

Impressum neobooks

Schocklage

Als Neuntklässler spielte sich für mich im Kunstunterricht folgende Szene ab: Ich wurde – wie all meine Mitschüler natürlich auch – mit einer Aufgabe konfrontiert, welche über das bloße Bemalen eines Malpapieres mit Tusche hinausging. Die Aufgabe lautete: Schüler, malt ein Bild, aus dem nicht nur eine gewisse künstlerische Schönheit, sondern ebenfalls ein von euch frei gewählter kritischer Ansatz erkennbar sein soll. „Von jedem Einzelnen! Auch von dir, Ronny!“ Eine Bemerkung, die er sich wohl nicht verkneifen konnte und die mich bis ins Mark traf. Es gab keine weiteren Vorgaben, weder was das „Womit“, noch was das „Was“ betraf. Ich hatte folglich vollkommen freie Hand und konnte anprangern, was mir gerade durch den Kopf ging. Ob Kritik am System – für einen Moment dachte ich an das mir bekannte größte System, das Sonnensystem –, an der Gesellschaft als solche, oder an misslichen Zuständen in unserem Dorf, von denen ich hörte – es lag ausschließlich an mir. Nur, vollkommen freie Hand bezüglich des „Was“ und „Wie“ zu haben, war für mich als Vierzehnjährigen in der von mir wenig gemochten Kunsterziehung eine komplett neue, und schlimmer noch, eine ausgesprochen unerwartete Herausforderung. Bis zu genau diesem Moment bekam ich für meine künstlerischen Werke lediglich klare Anweisungen vom Lehrer an die Hand, was mir mein Dasein als minderbemittelter Maler sehr vereinfachte. Male einen Baum, Ronny, und ich malte einen Baum. Male einen Strauch, Ronny, und ich malte einen Baum. Alles ging seinen geordneten Gang. Bis genau zu diesem Moment. Ich entschied mich, schon fast am Schluss der ersten Unterrichtsstunde, für Bleistift und Kohle. Dies tat ich, um alle möglichen bildlichen Details, ohne Ahnung zu haben welche, besser zur Geltung bringen zu können. Der eigentliche Grund war jedoch, dass in meinem bereits vollkommen verhunzten Tuschkasten keiner der kleinen Farbbecher mehr in der Lage war, mir seine Ursprungsfarbe anzubieten. Grün war längst nicht mehr Grün und allen anderen Farben ging es nicht besser. Da diese wüste Vermischung in meinen Farbtöpfchen auch meinem Kunstlehrer nicht entging, ließ er in der letzten Unterrichtsstunde bei mir am Tisch die Bemerkung fallen, sollte es in meinem Kopf so zugehen wie in meinem Tuschkasten, wäre ein Gespräch mit meinen Eltern angebracht. Zur Begradigung meiner mangelnden geistigen Struktur, wie er es ausdrückte. Meine einzige Vorstellung von dem was er sagte, waren ziellose Kurvengeschlängel, die vor meinem Auge umherschwirrten, und so schob ich den blechernen kleinen Kasten weit bis ans Tischende von mir. Ich wollte ihn nicht unnötigerweise dazu motivieren, mir einen Brief für Mutter und Vater mitzugeben. Während längst alle anderen Schüler malten, zeichneten oder auch nur so taten, war es genau dieser Umstand, der mir quälend den Hals würgte und mich in einen Zustand geistiger und körperlicher Lähmung versetzte. Die Zeit verrann und verrann und es wurde mehr und mehr schwierig, mein jugendliches und unbedarftes Gehirn zum Thema „Thema“ auszuquetschen. Ich versuchte, das große schwarze Loch in meinem Kopf zu stopfen, doch es blieb groß und schwarz und schließlich entschied ich mich für einen Toilettengang. Ich hoffte, der Blick in eine offene Kloschüssel würde mir zu wundersamen Geistesblitzen verhelfen können. Auf dem Weg zum Schülerklo sah ich, dass an einer Wand Bilder eines Leistungskurses Kunst einer 12ten Klasse wie eine kleine Ausstellung hingen und begafft werden durften. Ich gaffte und betrachtete das Werk der ausgesprochen begabten Künstlerin Ulrike. Unter dem Bild stand neben ihrem Namen der Titel des Werkes: die Skyline von New York. Mehr nicht. New York ist die Hauptstadt von Amerika. Oder auch nicht, ich war mir nicht sicher, es war aber auch nicht entscheidend, denn entscheidend war nur: das Bild war genau das, was mir gerade recht kam. Ich atzte ins Klo, konnte nicht, weil ich auch gar nicht musste, lief zurück zum Malunterricht und stürzte mich in herzpumpender Hast auf mein nun beginnendes, erstes wirkliches Kunstwerk. Ich zeichnete und zeichnete, ließ Bleistiftspitzen wieder und wieder brechen und verkrüppeln, lutschte an dem Klumpen Kohle – wobei die Idee des Lutschens war, eine tiefere Schwärzung bestimmter Stellen hinzubekommen –, stellte fest, dass Kohle auch nur nach Kohle schmeckt und rieb das Kohlestück, mal fest, mal weniger rabiat in das Stück Papier hinein. Am Ende des künstlerischen Werkes angekommen, präsentierte ich dieses Lehrkraft und Klasse an seinem Lehrerpult. Ich wurde von ihm auserwählt, allen und ihm mein Kunstwerk und ganz besonders meine Gesellschaftskritik im Bild, zu erklären. Auf dem Weg nach vorne, überlegte ich mir, was ich mir während des Zeichnens überlegt haben könnte.

Ich gab ihm mein Werk in die Hand, worauf er sich fassungslos an den Kopf schlug und damit begann, sich auf seinem Stuhl wie ein verrücktes Männlein hin und her zu drehen. Dann legte er seinen Kopf in seine aufgestützten Hände und schüttelte mehrmals sein zerzaustes Haupt. Ich stand stumm am Pult neben dem sitzenden älteren Mann und dachte, er würde etwas denken wie: „Oh Gott, dieser Junge zeichnet kindlich wie ein Fünftklässler, von einem kritischen Ansatz mal ganz zu schweigen.“ Doch es kam ganz anders. Nun, was er sah, war eine Ansammlung von Menschen und Autos vor Hochhäusern. Oder anders ausgedrückt – eine viel befahrene Straße in einer Großstadt, auf dem Bürgersteig waren Dutzende umherlaufende Fußgänger hineingemalt. Alle Passanten gingen zügig und jedes Auto fuhr und aus den Auspuffen ließ ich malerisch in sehr realistischer Weise Abgase herausströmen, indem ich dicke Kohlewolken hinter jeder Stoßstange malte, auch waagerechte Striche und Wellen, die für eine Art Wind stehen sollten. Ungefähr so, wie ich es von dem pausbäckigen Gesicht am Himmel kannte, wenn es die Wolken wegbläst. Am rechten Bildrand gab es noch so etwas wie einen Straßenkiosk, aus dem eine Figur Schnaps und Kippen verkaufte, dies an einen Mann, der im Auto sitzend am Bürgersteig parkte und einen langen Arm machte – der Arm wurde allerdings ellenlang, damit der Mann auch nach der Flasche und nach der Packung greifen konnte. Da der Wagen von diesem Mann stand und nicht fuhr, verzichtete ich in diesem Fall gekonnt auf meine gestrichenen horizontalen Wellen am Heck. War das meine Gesellschaftskritik? Ging es dir darum, Ronny? Ging es dir überhaupt um etwas? Ich sah einen letzten, prüfenden Blick der Lehrkraft auf meine Zeichnung, dann sprach sie. Zu mir und in die Klasse hinein.

„Ronny zunächst bewerte ich deine zeichnerischen Fertigkeiten. Du hast Bleistift und Kohle gewählt, sicherlich aus dem Grund, weil du so jedes einzelne Detail auf deinem Bild feiner darstellen wolltest. Ich bin froh, dass du nicht Tusche wähltest, so ist das Bild nicht, wie sonst bei dir, noch triefend nass.“ Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich alles richtig gemacht, ich kam überraschend gut weg.

„Häuser, Straßen und Autos sind dir ganz gut gelungen, nur mit den Menschen, nun ja, hier sehe ich einen gewissen Hang zur Abstraktion oder vielleicht lief dir einfach nur die Zeit etwas davon, na, wie auch immer.“ Mit fragendem Blick schaute er zu mir auf.

„Ich wollte es einmal mit diesem Abstrakt-Dings probieren …“, versuchte ich die Kurve in die richtige Richtung zu kriegen.

„Nur mit der Kohle, …du bist im Umgang mit Kohle natürlich noch etwas ungeübt, aber wird schon noch Ronny.“ Ja, wird schon noch, irgendwann, murmelte ich in meinem Kopf.

„Nun zum Wesentlichen. Hat dein Werk einen Titel?“

„Einen Titel? Ich wusste nicht, dass wir den Bildern auch Titel geben mussten …, vielleicht „Autos, Menschen, Häuser“?“

„Ronny, das ist doch kein Titel. Weißt du nicht, was ein Titel ist? So etwas wie eine Überschrift.“

„Na gut, ich muss nachdenken …vielleicht …“

„Ronny, wir nennen es Rush Hour. Bist du damit einverstanden?“

Mir fiel sowieso nichts Besseres oder überhaupt irgendein Titel ein und „Rush Hour“ fand ich ganz gut. Ein englischer Titel, immerhin. „Rush Hour, guter Titel, ja, Rush Hour.“

„Gut Ronny, und jetzt erkläre mir deine Gesellschaftskritik in deinem Werk „Rush Hour“. Ich bin mir sicher, dieses Bild strotzt nur so vor Gesellschaftskritik. Ich hefte dein Bild an die Tafel und du beginnst zu erzählen. Drehe dich bitte zur Klasse Ronny. So ist recht.“

Und in diesem Moment bekam ich das, was auch mir in späteren Jahren hinlänglich als Black-Out bekannt wurde. Ich glotzte in die erwartungsvollen Gesichter meiner Mitschüler, dann durch die Fensterfront nach draußen, wo ich in der Raucherecke mir bekannte ältere Schüler sah, die mit ihren Fingern auf mich zeigten, übermäßig grienten, schwatzten, und die üblichen unpassenden Hand- und Mundbewegungen oraler sexueller Andeutungen vollführten. Nur zu gut wussten sie, dass ich mich in einer misslichen Lage befand. Dann wurde es wieder quälend leer in meinem Kopf und ich schwieg unaufhörlich, sicherlich auch peinigend für einige meiner Mitschüler, in den Klassenraum hinein.

„Ronny, ich gebe dir etwas Hilfestellung. Möglicherweise ist deine Form der Kritik so komplex, aber auch so punktiert, dass du selbst kaum die richtigen Worte dafür findest. Geht es dir um die negativen Folgen der urbanen Zivilisationsentwicklung? Ist es deine Kritik an der modernen Zivilisation? Ronny, nun sprich doch!“

„Zivisilation …ja …vielleicht …ganz bestimmt.“

„Ronny, es ist mir egal, ob du es richtig aussprechen kannst oder nicht. Ist es das? Sprich doch! Um welche Aspekte geht es dir genau? Erkläre dich, Junge!“

Jetzt wurde es richtig taub in meinem Kopf und die Gesichter meiner Mitschüler verformten sich immer mehr zu tierischen Fratzen, die nur auf mein weiteres Versagen warteten.

„Ronny, jetzt höre mir zu! Was dein Malen angeht, gehörst du vielleicht nicht zu den Besten in der Klasse, aber jetzt erkenne ich ganz viel in dir, hörst du! Du musst es nur ausdrücken. Ich sage dir jetzt ein paar Stichworte und du folgst mit deinen Erklärungen: Luftverschmutzung, soziale Isolation, soziale Kälte, Konsumzwang, Rücksichtslosigkeit, Verelendung, Anonymität. So Ronny und jetzt du! Nimm den Ball nur auf und las es raus!“

„Ano …was?“ Ja, kann schon sein, von jedem etwas, ich bin mir nicht sicher. Mir ist nicht gut.“

„Ronny, antworte jetzt nur noch mit ja oder nein! Ich gebe dir eine Form der Kritik vor und du sagst ja oder nein. So schaffst du das. Wenn du es hinbekommst, kriegst du einen „Einser“, wenn nicht, nur einen „Dreier.“

„Mir wird übel, Herr Lehrer.“

„Ja Ronny, mir wird auch übel, wenn ich sehe, wie treffsicher kritisch du das Übel der überbordenden Großstadturbanität zu Papier bringen konntest. Übel, aufgrund der Folgen von immer nur mehr und mehr in unserer Gesellschaft.“

Dies waren die letzten Worte, die ich von meinem Kunstlehrer hörte. Als ich wieder aufwachte, lag ich auf dem Boden und meine Beine waren nach oben gegen das Lehrerpult gestellt. Über mir gebeugt erkannte ich Cordula, eine Einser-Schülerin in Kunst und in allen anderen Fächern auch. „Ronny, du bist umgefallen und wir haben dich in die Schocklage gelegt, damit Blut wieder in dein Gehirn fliest.“ In einem Zustand zwischen wach und dämmernd ließ ich meinen Kopf kreisen, spürte, wie mein Kunstlehrer mir den nassen Tafelschwamm über die Stirn rieb und ich sah viele andere Köpfe über mir, meist die der Mädchen aus der Klasse. Und dann erkannte ich einen Sanitäter, ein sehr großer Mann in einer gummiähnlichen weiß-roten Uniform, die quietschte, wenn er sich bewegte. Er legte mir einen Gurt um den Oberarm und zog ihn so fest zu, dass ich dachte, mir würden die Augäpfel aus dem Kopf schießen. War meine Tortur noch immer nicht am Ende angelangt? Schließlich beugte sich mein Lehrer wieder ganz nah zu mir herab.

„Ronny, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber ich kann dir nur einen „Dreier“ geben. Ich habe mit deiner Mutter telefoniert, sie wird dich gleich abholen. Erhole dich erst mal zu Hause.“

Einen „Dreier“? Warum nicht gleich so? Warum musste ich erst halb tot dafür umfallen? Warum nur? Ich blieb noch einen Moment in Schocklage auf dem Boden liegen und genoss die Aufmerksamkeit meiner Mitschüler. Ganz besonders genoss ich Cordulas Nähe, die neben mir im Schneidersitz saß und meine Hand hielt. Cordula wusste zwar nicht viel mit Jungs anzufangen, aber mit ihrem hochbegabten Kopf, eingerahmt von gekräuseltem Haar und ihrer mondförmigen, riesigen schwarzen Brille, hatte sie es nicht nur zur Klassensprecherin geschafft, sie war auch immer diejenige, die sich zur Rettung auf jene stürzte, die sich mal in geistigen oder körperlichen Schieflagen befanden. So wie ich in dieser Situation. „Ronny, trinke etwas aus meiner Milchtüte, da sind viele gute Sachen drin, die Vitamine und Mineralstoffe werden dir guttun. Trink etwas, saug kräftig am Trinkhalm.“ Ich hob meinen Kopf vom Boden etwas an und zog dreimal an ihrer Milchtüte. Dann folgte das Geräusch aus Luft und Milchresten, dann war ihre Tüte leer.

„Komm Ronny, versuche dich aufzurichten, halte dich am Tisch fest, siehst du, es geht doch wieder. Wenn du möchtest, dann gebe ich dir gern auch mal Nachhilfe in Kunst, in allen anderen Fächern natürlich auch.“

„Danke Cordula, vielleicht sollten wir das tun, mir fallen da so einige Fächer ein. Viele Fächer.“

Ich blickte nun stehend durchs Klassenzimmer, kein Schwindel, nichts war schwarz vor meinen Augen. Alles war wieder gut, so gut, dass ich mich am liebsten sofort in die Raucherecke nach draußen verzogen hätte. Mutter kam in diesem Moment ins Klassenzimmer, rief kurz „wo ist mein Ronny?“ durch den Raum, besprach sich dann am Pult mit unserem Kunstlehrer und dem Sanitäter, während ich meine Malsachen zusammenpackte. Ich hörte Wortfetzen wie „ausruhen“, „mit dem Jungen reden“, „im Kopf durcheinander“ und „wenig strukturiert“, was auch immer dies alles bedeuten sollte. Letztlich nahm mich Mutter an die Hand und wir verließen das Klassenzimmer. Mutter nahm einen Vierzehnjährigen an die Hand wie einen Vorschulbuben. Wir fuhren zwei Stationen mit dem Bus ins Dorf hinein, den Rest unsere Strecke liefen wir zu Fuß.

„Ronny, was ist denn da mit dir passiert? Ich werde deinem Vater nichts von dem Anfall, oder was auch immer es war, erzählen, und morgen gehst du wieder in die Schule, klar?“ Am Dorfkiosk machten wir kurz halt, Mutter kaufte sich eine frische Packung Zigaretten, riss diese sofort auf und qualmte erst mal mit tiefen Zügen eine durch.

„Komm Ronny, nimm auch eine, das beruhigt.“

Ich zog ein paarmal durch und spürte, wie die belebende Wirkung der Milch sofort verflog und durch Nebelschwaden in meinem Kopf ersetzt wurde. Wie unterschiedlich doch Menschen reagieren, wenn man aus den Latschen kippt. Von Cordula bekam ich Milch, von Mutter eine Zigarette spendiert.

„Mutter, das Einzige, was ich daraus gelernt habe, ist, es wird langsam Zeit, dass ich lerne vernünftig zu lügen, so wie es jeder andere normale Mensch auch tut.“

„Ja, Ronny, mach das, habe immer eine kleine Geschichte parat.“ Schließlich trotteten wir stumm nebeneinander nach Hause.

Fünfzehn Jahre später, in einem der vielen Räume eines Universitätsgebäudes, dachte ich für einen Augenblick genau an dieses Erlebnis zurück.

„Herr Luschke, Sie wissen, was Ihnen vorgeworfen wird?“

„Ich bin mir nicht sicher. Mir ist nicht einmal klar, warum mir überhaupt etwas vorgeworfen wird.“

„Nun, Herr Luschke, es geht um folgendes: Ihnen wird vorgeworfen, systematisch und in großer Anzahl, Kunden im Nordhessischen mit überzogenen Preisen und falschen Angaben zu Materialstärken betrogen zu haben.“

„Wo war das? Ich bin noch nie im Nordhessischen gewesen. Kunden? Ich habe noch nie irgendetwas an irgendjemandem verkauft. Materialstärken? Was in aller Welt sind Materialstärken?“

„Herr Luschke, natürlich können wir ihre Aufregung verstehen. Dies ist für Sie sicherlich keine alltägliche Situation. Aber verstehen Sie bitte auch uns. Wir treten immer genau dann auf den Plan, wenn es in der Branche zu Fehltritten einzelner kommt. Häufig sind es leider auch Vertreter wie Sie, die gutgläubigen Kunden gegenüber nicht ganz sauber arbeiten, um es mal etwas höflicher auszudrücken.“

„Vielleicht war das alles im nordhessischen nur ein böser Traum, und vielleicht ist auch das hier mit Ihnen nur ein schlechter Traum.“

„Herr Luschke, ich werfe Ihnen jetzt dieses zusammengeknüllte Kaugummipapier an den Kopf und Sie sagen mir dann, ob dies ein Traum ist oder nicht.“ Ich spürte einen leichten Aufschlag an meiner Stirn.

„Sie haben recht, es ist kein Traum. Nur, was ist es dann?“

Erst jetzt wachte ich tatsächlich auf. Und wenn es schon kein echter Traum war, hatte sich unzweifelhaft mein Gehirn für einige Momente aus dem tatsächlichen Geschehnis um mich herum abgemeldet und mir heimtückisch eine andere Szenerie vorgespielt. Eine Szene, die ich irgendwo bereits einmal sah, ein Verhör, welches mir nicht fremd war. Und dann fiel es mir wieder ein, und ich sah Danny de Vito vor mir: Danny in einer Anhörung, Danny, der nach Worten und Erklärungen rang. Ich nickte den vor mir sitzenden Herrschaften bestätigend zu, da ich mir nun sicher war, alles zeitlich und gedanklich sauber zuordnen zu können.

„Herr Luschke, ist mit Ihnen alles in Ordnung? Sie wirken etwas abwesend. Können wir beginnen?“

„Ja, mit mir ist alles in Ordnung. Ich hatte eben gerade nur …bitte, nur um ganz sicher zu sein, dies ist nicht eine Kommission, die Betrügern der Vertreterzunft auf die Schliche gekommen ist, nicht wahr?“

„Herr Luschke, ihre letzte mündliche Prüfung steht an, was reden Sie denn da. Nun, ich hoffe, Sie sind bestens vorbereitet.“

Bestens vorbereitet? Bis auf den kleinen Fehltritt, der sich in den letzten Minuten in meinem Kopf abspielte, war ich der Meinung, wenn schon nicht bestens, dann doch aber einigermaßen vorbereitet gewesen zu sein. Natürlich, mündliche Prüfung, genau deswegen war ich in diesem Prüfungsraum. Keineswegs eine Anhörung und nun bitte ich dich, mein umherträumendes Gehirn, um vollste Konzentration.

Sechs ältere Herrschaften saßen mir gegenüber, die in ihren grauen Jacketts, mit ihren grau melierten Haaren und ihren nicht weniger grauen und ernsten Blicken mich so sehr verwirrten und bedrängten, dass ich vor Minuten zu träumen begann. Der Traum war wieder meine Flucht. Jetzt war ich wach, aber es war nicht die Wachheit, die man benötigt, um erfolgreich durch eine mündliche Prüfung gepeitscht zu werden. Zu viel Benommenheit war im Schädel, so, wie damals im Kunstunterricht. Es war die letzte große Prüfung für mich, alles hing nur davon ab, was ich sagen, erzählen oder antworten werde. Es war morgens um 11.00 Uhr und ich hatte in der Früh vier Wodka-Colas getrunken, recht schnell und auf nüchternen Magen. Andere, die mit sich zu kämpfen hatten, nahmen Betablocker, ich trank dagegen meine Mischungen. Gute, wirksame Mischungen, doch wohin mich das an diesem Morgen bringen würde, war mir wenig klar. Einem Ronny Luschke hockte ein halbes Dutzend Prüfer gegenüber, wie aneinandergereihte Pärchen. Einer grauen Hochsteckfrisur folgte ein kurzgeschorener grauer Altherrenkopf. Wie eine Achterbahnfahrt, große Frau gefolgt von kleinem Mann. Ich konzentrierte mich auf den gedrungenen Mann mir direkt gegenüber. Er war der Prüfungsvorsitzende, der Gruppenanführer, derjenige, der seine Fragen auf mich losließ. Es war nicht einfach, konzentriert zu bleiben, oft genug wanderte mein Blick immer wieder zur Dame nach ganz links außen. Ihr hochtoupiertes Haar verdoppelte fast die Länge ihres eh schon sehr ovalen Kopfes, ein Anblick, dem ich mich kaum entziehen konnte. Nie zuvor sah ich eine Frau mit einem derart strengen Gesichtsausdruck und einer, passend zu ihrer Miene, strengen Frisur. Ich versuchte, bei der Sache zu bleiben, doch wollte ich in diesem Moment nur noch mit ihr schlafen. Jetzt gleich wird die Prüfung losgehen und ich dachte an Sex mit einer Professorin. Mann Ronny, steuere wenigstens etwas dein Gehirn. Vielleicht jetzt erst mal eine Raucherpause, vielleicht könnte ich die Prüfung mit einer Raucherpause beginnen, damit alle wieder runterkommen. Dann wurde ich müde, dann nicht richtig wach, dann wieder müde, dann wieder nicht richtig wach, dann kam die erste Frage.

„Herr Luschke, da Sie etwas benommen wirken, vielleicht ihre Art auf Stress zu reagieren, und bitte seien Sie sicher, wir wollen Sie keineswegs unnötig stressen, möchte ich Ihnen mit folgender Frage einen guten und sicherlich beherrschbaren Einstieg in die Prüfung geben: Erklären Sie uns bitte das Prinzip der begrenzten Wahl von Begrenzungen strukturbezogener Wahlmöglichkeiten.“

Was für eine Frage, was für ein unnütze, für mein Leben belanglose Frage. Ich begann in meinem Kopf zu kramen. Auf welcher der neunhundertsechzig Seiten stand eigentlich genau dieser Unsinn? Im vorderen Drittel, war ich mir sicher, doch die genaue Seite in meinem Kopf zu finden war unmöglich, oder wenn überhaupt, viel zu zeitaufwendig. Dafür fand ich andere. Viele andere. Auch mit Prinzipien, reichlich Prinzipien. Ich hatte fast das ganze Buch auswendig gelernt, man hätte mich mit Leichtigkeit in eine Quizshow zum Blindlesen schicken können, aber für gezielte Fragen bedurfte es ein zielgenaues Abtauchen auf genau die richtige Seite, den korrekten Absatz, dort irgendwo im Dschungel von zweihunderttausend Worten. Ich erzählte drei Seiten aus dem Mittelteil des Buches, das passende Kapitel hatte ich nur knapp verfehlt, wie ich später herausfand.

„Herr Luschke, Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Sie haben lediglich aus meinem Buch zitiert, zwar richtig wiedergegeben, nur darum geht es hier nicht. Also, bitte, auf ein Neues!“

Es folgten drei weitere Seiten des Zitierens, aus einem Kapitel weit vor dem von mir zuerst gewählten, dann war ich staubtrocken im Mund und verstummte. Es war wie ein Umkreisen des Themas, ein langsames Annähern, wie der Haifisch es mit seiner Beute macht.

„Herr Luschke, so kommen wir nicht voran. Dies ist nicht ein Vorsprechen eines auswendig gelernten Theaterstückes, sondern Sie sollen uns, eines Studenten würdig, einen Aspekt der Managementforschung erklären, bewerten und seine Rolle im Gesamtkontext mitteilen.“

Jetzt hatte ich eine Eingebung. Ich machte einen Sprung auf Seite hundertdreiundfünfzig und malte ein Diagramm in die Luft, welches, und da war ich mir sicher, genau zum Thema passen sollte. Nebenbei roch ich selbst immer mehr den Wodka Geruch aus meinem Mund und redete in speziellen Winkeln nur noch nach schräg unten oder schräg oben. Es gefiel dem Professor zwar, dass ich die richtige Seite getroffen hatte und meine Darstellung seines Diagrammes war auch gar nicht so schlecht, nur gab es von mir keine weiteren Ergänzungen, Erklärungen, Analysen und, ach, der von ihm gewünschte Gesamtkontext, der war sowieso ganz weit weg. Die Sechserbande machte noch einen neuerlichen Versuch mit einer Frage, die ich zwischen den Seiten dreihundertfünfzig und vierhundertachtzig dachte zuordnen zu können, doch lag ich letztlich um satte zweihundert Seiten eindeutig daneben. Minuten später fiel ich durch. Erst durch die Prüfung, dann durch den Holzstuhl, auf dem ich saß.

„Herr Luschke, kommen Sie im nächsten Semester wieder zu uns, dann sehen wir weiter. Einen schönen Tag noch.“

„Herr Professor, ich habe ihr ganzes Buch auswendig gelernt, ich kann es sogar rückwärts lesen. Lassen Sie es mich doch rückwärts lesen, sie werden schon sehen, das schafft außer mir keiner.“

Der Herr Professor war an derartigen Kunststückchen nicht interessiert und so trottete ich mundverklebt von diesem Ort meiner Niederlage. Wenn man einen Tag schon mit vier Wodka-Colas beginnt, dann kann man auch gegen Mittag mit vier weiteren weitermachen, um am späten Nachmittag die letzten vier drauf zu kippen, nur um das Dutzend komplett zu machen. Möglich, dass ich dann zwar nicht mehr mit der Professorin schlafen kann, aber ein paar Gedanken über mein zukünftiges Leben werden sicher noch drin sein.

Ich war also ab diesem Moment jemand ohne Abschluss. Nun, die allermeisten Kioskbetreiber haben auch keinen Hochschulabschluss und sie halten immerhin ihre Kioske am Laufen. Einen Kiosk zu haben, fand ich schon immer gut. Man trinkt das, was man verkauft und raucht das, was in den Regalen liegen bleibt. Ich trank an diesem Tag achtzehn Wodka-Colas, allerdings ohne Pause zwischen Mittag und Nachmittag, also in bestem Tempo in einem durch. Billigstes Gemisch am Kiosk. Ich dachte wieder an die traumatische Vertreterkommission, die zu Beginn meiner Prüfung in meinem Kopf herumspukte. Die Kommission war zusammengekommen, weil ich Kunden über den Leisten gezogen haben soll. Was ich ihnen verkaufte, war mir nicht klar, war mir anfangs noch nicht klar, doch musste es etwas sehr Spezielles gewesen sein. Etwas, was nicht in einem der üblichen Läden angeboten wird, beispielsweise in einem Möbelhaus, oder in einem Elektrofachhandel, sondern ich musste etwas feilgeboten haben, was ich mit mir schleppte. In einem Koffer. Ein Aktenkoffer voller Prospekte und Verträge. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich, wie ich an Wohnzimmertischen die Schlösser aufschnappen lasse, meine Kataloge ausbreite, und Geschichten über die Unbeschreiblichkeit dieses unverzichtbaren Produkts erzähle, um schließlich den Kuli mit selbstsicherem Blick dem Gatten des ahnungslosen Ehepaars zur Unterschrift rüberzureichen. „Heinz, sollen wir wirklich? Bist du dir sicher, dass wir uns nicht finanziell damit übernehmen? Und brauchen wir das überhaupt?“ „Gertrud, Herr Luschke hat uns doch alles so gut erklärt, wir können ihm vertrauen.“ Genauso könnte es sich abspielen. Ein Vertreter von, keine Ahnung was, vielleicht von Markisen für die Veranda derer, die sich ihre Reihenhäuser in den Vorstädten gerade so leisten können. Der Vertreter biss sich in meinem Kopf fest. Vielleicht hatten diese Leute nicht den allerbesten Ruf – warum saß ich sonst traumatisch in dieser Kommission? –, doch um meinen Ruf machte ich mir am wenigsten Sorgen. Wer keinen hat, dem stehen alle Türen offen. Vielleicht werde ich Spirituosenvertreter und könnte meinem Kioskmann jede Woche einen Besuch abstatten.

In den Wochen und Monaten nach meiner Prüfungsbruchlandung zeigte sich mir allerdings, wie steinig der Weg zum kleinen Ruhm sein kann. Und beiläufig am Rande erwähnt: Egal mit wem ich sprach, egal, wem ich voller wildem Enthusiasmus von meinem Vorhaben erzählte, die Reaktionen waren immer dieselben. Sprachloses, angewidertes Kopfschütteln war noch die höflichste Form meiner Gegenüber, oft wurde ich überschüttet mit Kommentaren, die nur auf eines hinausliefen: Wie tief kann ein Mensch sinken, wie widerwärtig müssen die Gedanken in meinem Kopf sein, doch am wenigsten verstand ich: Was stimmt mit dir nicht Ronny?

Während Violetta – sie war die Einzige, die sich ernsthaft um hilfreiche Bemerkungen bemühte – mir an die Hand gab, dass ich menschliche Regungen wie Skrupel und Mitleid entwickeln und empfinden würde, wobei sie vollkommen recht damit hatte, und schon allein diese Umstände ihrer Meinung nach ausreichen würden, um mich als wenig geeignet für einen schmierigen Vertreter betrachten zu müssen, war es mit Sofie ganz anders. Sofie sagte nur in abfälligem Ton: „Solltest du tatsächlich irgendwann einmal im Eingangsbereich einer Shopping Mall mit deiner dämlichen Art Teppich Schampoonierer anbieten, ich sag´s dir schon jetzt, dann werde ich dich nicht kennen, du wirst Luft für mich sein!“ „Natürlich liebe Sofie, darauf können wir uns einigen, auch du wirst in diesem Moment Luft für mich sein, obwohl ich dir nur zu gern eine Flasche Shampoo für deine schäbigen Läufer angedreht hätte.“

Mein erstes Vorstellungsgespräch war eine einzige, für mich nicht verstehbare Merkwürdigkeit. Ich hatte eine Einladung zu einem Gespräch für einen Montagmorgen um 09.00 Uhr erhalten. Irgendwo im Norden von Berlin. Auf einem Flohmarkt erstand ich Tage vorher meinen ersten Aktenkoffer. Nicht die schmale Variante, eher die breite und wichtig erscheinende Ausgabe. Genau so stand er – neben dem Verkaufstisch des Händlers mit den unzähligen Kunstlederartikeln, meist Geldbörsen und Handtaschen – einsam in einer Pfütze und wartete nur darauf, von mir für fünf Mark mitgenommen zu werden. Diesen, meinen ersten Aktenkoffer. Er war nicht schwarz wie all die anderen, er war braun, zwar etwas durchnässt, doch die Verschließschnapper und Zahlenschlossrädchen waren aus Messing und wirkten sehr edel. Oder es war pures Gold? Der Zahlencode war ganz einfach: 999. Für beide Schlösser. Nur 999. Dies konnte sich jeder Idiot merken. Das Öffnen des Koffers war eine erhabene Prozedur. Das Klacken der Verschließsysteme war laut und tief, nicht dünn und billig. Synchrones Öffnen oder innerhalb einer zehntel Sekunde versetzt – wo und wann mir danach war, ließ ich die Schnapper meiner Neuanschaffung aufschnappen, oft auch im Takt der Gleise während meiner U-Bahn Fahrten. Und der Koffer roch nach afrikanischem Büffelleder. Von der sengenden Steppenhitze warf das Leder fast Blasen. Mit diesem Koffer hätte ich nackt und betrunken durch die Straßen torkeln können, die Leute hätten mir trotzdem noch den seriösen Vertreter abgenommen.

Als ich später einmal im kleinen Kreis mein Erlebnis mit dem nicht stattgefundenen Vorstellungsgespräch erzählte, erntete ich von einigen nur Hohn und Spott. „Bist du so blauäugig Ronny, dass du diesen Trick nicht durchschauen konntest?“, war der entscheidende Vorwurf, den ich mir anhören musste. Was hatte ich damals nicht durchschaut? Alles hatte sich wie folgt abgespielt:

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