Buch lesen: «Komparsen-Blues»
Mike Nebel
Komparsen-Blues
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Hundefuttermann
Die Vorbereitung
Der Mann am Tisch
Die Leiche
Nachbarschaftshilfe
Das Bild
Lottchens Geburtstag
Ghettoblaster
Schauspielerquartett
Der Edelkomparse
Klein Hollywood, bitte melden!
Die Horde der schwächelnden Soldaten
Pornoabteilung
Bitte einsteigen, die nächste Zeitreise startet jetzt!
Donnerstag ist Kinotag
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig
Impressum neobooks
Der Hundefuttermann
Mein Name ist Ronny Luschke und damit ist schon so einiges gesagt. Ich hatte als Kind immer den untrüglichen Verdacht, mit meinem Namen würde etwas nicht stimmen. Mit dem - K - in meinem Nachnamen, oder andersrum, mit dem Rest, lässt man das - K - einfach weg. An sich war es keine große Sache, doch gab es immer wieder einige, die mich damit aufzogen. Da es andere auch taten, wurde es doch ein recht großer Personenkreis, der sich für Derartiges nicht zu schade war. Nur ging diesem ach so kreativem Wortspiel im Laufe der Zeit die Puste aus, bis es schließlich gänzlich in der Schublade der erfolgloseren verbalen Scherzartikel verschwand. Das lag wohl auch daran, dass diese verkrüppelten Albernheiten sowieso immer mehr an mir abperlten, so wie manches einfach an mir abperlte. Auf der anderen Seite war mir allerdings auch klar, dass ich sicher nicht zu der Kategorie Typen gehörte, die, sagen wir mal, die Allerschnellsten waren. Nicht, dass ich in allen Belangen vollkommen antriebslos war, nur gab es zu wenige Dinge, die mich dazu brachten, meinen durchaus vorhandenen Raketenschub zu zünden. Mutter sagte einmal, bei mir ginge es immer nur um irgendwie, irgendwann und irgendwo. Mutter hatte recht. Wir konsultierten deshalb in frühen Jahren – ich war noch ein Kind – sogar mal einen Arzt, doch der bescheinigte uns nur, dass leicht apathische Spätzünder in den besten Familien vorkommen können. Jahre später, ich war irgendwo im jugendlichen Alter angekommen, saß mir dieser Weißkittel wieder gegenüber und sprach von einem Paradoxon aus Furcht und Mut, was er meinte, bei mir festgestellt zu haben. Er lag nicht vollkommen verkehrt mit seiner Diagnose. Zu dieser Zeit meiner persönlichen Entwicklung war ich oft genug nicht in der Lage, Furcht und Mut in den dafür passenden Situationen einzusetzen. Wo Furcht angebracht war, zeigte ich Mut und wo Mut gefragt war, reagierte ich zuweilen heftig furchtsam. Ich sprang als Kind einmal in ein Eselgehege, obwohl ich und auch jeder andere sah, wie vorher einer der Esel ein Kind am Zaun mehrfach in den Arm biss. Ich lief schreiend auf den Esel zu und bekam als Quittung sogar einige Tritte vom aufgebrachten Huftier ab. Mutter bedankte sich bei dem Tierpfleger, der noch Schlimmeres verhinderte. Demgegenüber stand meine merkwürdige Furcht. Beispielsweise war da die Furcht vor anderen Kindern, waren sie auch noch so jung und noch so klein. Als Zwölfjähriger wurde ich von zwei Sechsjährigen verprügelt, obwohl beide wirkliche Miniaturmenschen waren. Vater sah es einmal, als er am Fenster stand, und forderte mich später in einem Vater-Sohn-Gespräch auf, mir das nicht gefallen zu lassen und zurückzuschlagen. Doch ich schlug nicht. Ich schlug nie. Ich hatte nur Furcht. Es gab sehr viele dieser Situationen, in denen mein Pendel unangemessen stark in die falsche Richtung ausschlug. Dies alles zusammen nannte der Arzt ein Paradoxon. Mutter sagte mir, bei diesem Doktor würde es sich um einen ganz normalen Arzt handeln, doch mein Blick auf die Patienten im Wartezimmer sagte mir etwas anderes. Er war wohl eher der Mann, der sich um geistige Fehlentwicklungen kümmerte. Die Jahre zogen ins Land und ich lernte mit meiner Furcht und meinem Mut besser umzugehen, was nichts anderes bedeutete, als dass meine Reaktionen sich den Situationen immer mehr soweit anpassten, wie es unter normalen Menschen üblich war. Als Sechzehnjähriger musste ich mich dann beim Weißkittel einem letzten Kontrolltest unterziehen. Mutter war wie immer mit dabei. Der Psychoarzt beschrieb bestimmte Situationen und ich sollte antworten, wie ich reagieren würde. Spontan und schnell. Eine der merkwürdigsten Situationen, mit denen ich konfrontiert wurde, war folgende: „Ronny, deine Lehrerin lockt dich nach dem Unterricht in eine Toilette und fordert dich auf sie zu befriedigen. Was machst du?“ Tja, was mache ich wohl. Mutig die Lehrerin befriedigen oder voller Furcht davonlaufen? Ich war mir ziemlich unsicher und überlegte lange hin und her. So lange, bis Mutter für mich antwortete: „Mein Sohn würde es natürlich nicht tun. Er würde davonlaufen und die Lehrerin dem Rektor melden. Nicht wahr, Ronny? Das würdest du doch tun.“ Ich war mir noch immer nicht sicher, ob ich wirklich so reagieren würde. Ich wollte keinen weiteren Test und so antwortete ich: „Ja, Mutter, natürlich. Genau das würde ich machen.“ Und so bestand ich und wurde als normaler Junge entlassen. Dachten zumindest beide.
Als auch Mutter viel zu früh starb, saß ich bei ihr am Sterbebett und hörte sie sagen: „Und fürchte dich vor dem Alkohol, Junge! Fürchte dich vor den Wirkungen des Alkohols! Denk an deinen Vater, wie es ihn dahinraffte!“ „Ja, ja, Mutter, natürlich, ich werde drauf achten. Ist schon klar.“ Es gab wohl nichts, vor dem ich mich so wenig fürchtete wie vor Alkohol. Diese Furchtlosigkeit hatte ich mit großer Sicherheit von meinem Vater vererbt bekommen, der sich wie kein Zweiter auf die Flaschen stürzte. Ich kann mich gut daran erinnern, wie Mutter, Vater und ich in den Urlaub an die Nordsee fuhren. Vater steuerte wie immer seinen klapprigen Wagen. Mutter fuhr nie. Während der Fahrt trank er eine Flasche Whisky. Wir waren vielleicht fünf Stunden unterwegs und er trank in dieser Zeit die Flasche bis zum letzten Tropfen leer. Nur einmal gab es auf der Reise eine Situation, in der Mutter „Jetzt wird’s brenzlig, Ronny!“ zu mir nach hinten rief und sich am Haltegriff festkrallte. Vater, zunehmend whiskygetränkt, rutschte fast in einen angrenzenden Fluss. Er überkreuzte beim Gegenlenken auf das Merkwürdigste seine Arme, sodass seine linke Hand rechts am Steuer hing und seine rechte links. Langsam und ohne Hektik brachte er so unseren Wagen wieder zurück in die Spur. Nun, es war Sommer und sehr heiß. Etwas Abkühlung hätte ich durchaus gebrauchen können. Dies passierte, bevor kaum noch Leber in Vater war. Es gab Leute, die sich – nachdem unsere Reise in aller Munde war – über diese, ihrer Meinung nach, unglaublichen Dummheit Vaters, nur so entrüsteten. Es war mir schnurzpiepegal, was diese Leute sagten. Es perlte und perlte nur so an mir ab. Nachdem wir auch Mutter unter die Erde gebracht hatten, ging ich nach Berlin. Es gelang mir dort sogar auf Anhieb, mich erfolgreich an einer Hochschule einzuschreiben, ein Zeichen dafür, dass ich sehr wohl geistig auf der Höhe der Zeit war. Da sich jedoch ein Studium nicht von selbst erledigt, wurde ich schneller als gedacht, so etwas wie ein abgebrochener Student. Ich ging nur ein paar Mal in den monströsen Hörsaal und das Einzige, was mir während meiner kurzen Stippvisiten dort durch den Kopf ging, war, was für ein guter Ort der Hörsaal für Rockkonzerte wäre. Ich suchte mir eine Band und begann zu trommeln. Und so trommelte und trank ich mich, so gut es eben ging, durch die Zeit. Es war so, wie ich es haben wollte. Bis auf eine Sache: Meine finanzielle Situation. Die war so wie sie war, nämlich miserabel. Auf meiner nicht existenten Liste an Dingen, die ich verbessern wollte, stand nur: Eine für mich passende Geldquelle musste her. Die Rechnung dafür war ganz einfach. Zumindest auf dem Papier. Wer für sich einen Anspruch auf selbstbestimmtes Trinken definiert, muss finanziell ausreichend ausgestattet sein. Ich war es bei Weitem nicht. Ich hinkte sozusagen meinem Anspruch kilometerweit hinterher. Schlecht. Sehr schlecht, und so warf ich den stotternden Motor in meinem Kopf an und sortierte, sauber hin oder her, ein paar Gedanken. Dies in der Hoffnung, sie würden zu irgendetwas führen.
Ich kannte genug Leute, die tagtäglich auf der Suche nach einem Job, meist in rauchgeschwängerten Kneipen während der frühen Morgenstunden, sämtliche Tageszeitungen durchwälzten und nichts anderes als reichlich Druckerschwärze an ihren Fingern mit nach Hause nahmen. Sie blieben bis morgens um fünf in den Kneipen hocken und vergruben sich still, aber doch auch von einer gewissen Nervosität gezeichnet, in ihre frisch ergatterten Blätter. Ohne Umwege tauchten sie mit einem weichgekauten Bleistift zwischen den Zähnen in die Zeitungsanzeigen ein und waren nicht mehr ansprechbar. Wie verschwunden in einer fremden Welt. Wenn sie wenigstens tranken, aber dafür reichte ja ihr Geld nicht. Sie waren wie Getriebene auf der Suche nach ehrlicher, auch sei sie noch so schlecht bezahlter, Arbeit. Und es wurde eingekringelt was das Zeug hielt und die Anzeigen hergaben. Abend für Abend, Woche für Woche, bis zum Ende oder Abbruch ihres Studiums. Es war ein jämmerlicher Anblick, der mir nach ausreichend Bier Gott sei Dank auch wieder aus dem Blick fiel. Mir kamen Studenten in den Sinn, die sich ihre Nächte im Winterdienst herumschlugen. Wahrscheinlich schoben sie schon deshalb wie die Wilden knöcheltiefen Schnee von den Bürgersteigen, um nicht festgeklammert am Schneeschieber zu erfrieren. Und ich rede von einer Zeit, es war Ende der 80er, in der die Winternächte in Berlin nur so vor klirrender Kälte und endlosem Schneefall strotzten. Diese Burschen taumelten sogar Samstagsnacht halberfroren über die Bürgersteige der Stadt. Sie machten nicht einmal vor den Wochenenden halt, so klamm mussten ihre tiefen Parkertaschen gewesen sein. Ich für meinen Teil entschied, dass eine Samstagnacht niemals zum Schneeschieben herhalten durfte. Es ging zum Tanz, zur Musik, oder ganz einfach nur darum, bis zum Morgengrauen an einem noch so klebrigen Tresen zu hocken und auf die Getränkeflaschen der Bar zu glotzen. Nebenbei, für diese armen Hunde im Winterdienst hatte niemand zuvor die Wege mit Salz gestreut, damit sie einen ordentlichen Stand bei ihrer Arbeit haben würden. Das Risiko einer Verletzung bewertete ich für mich als enorm. Finger weg davon. Besser war es, bis März im Bett liegen zu bleiben, erst dann den Fuß behutsam tastend auf die Gehwegplatten zu setzen, um sogleich genussvoll und zufrieden die letzten Reste des Rollsplitts unter den Sohlen knirschen zu hören.
Der nächste März kam und ich nahm, bei vollem Verstand wohlgemerkt, meinen ersten echten Job an, der sich als absolute Absurdität entwickeln sollte. Ich machte Straßenwerbung auf dem Kurfürstendamm für eine große Berliner Diskothek. Ich ging mit einem mannsgroßen Werbeschild, schwer und unhandlich, durch die Menschenmengen und war ständig auf der Hut, mich oder Passanten mit dem Schild nicht unglücklich zu treffen. Wäre ich von Kopf bis Fuß als Tanzbär verkleidet gewesen, hätte mich niemand erkennen können, so war es ein einziger Spießrutenlauf, immer darauf bedacht, nicht von jemandem entdeckt zu werden, der mich kannte. Es gelang mir nicht immer, mich rechtzeitig wegzudrehen und stiften zu gehen. Ich wurde zu oft entdeckt, bei dem was ich tat. Jemand – ich sah in ein mir namenloses, jedoch nicht unbekanntes Studentengesicht – tippte mir auf die Schulter. Er stand wie aus dem Nichts vollkommen überraschend hinter mir und zeigte sich sehr erfreut, aber irgendwie auch erschreckt im Anblick meiner Art des Geldverdienens. Zu allem Überfluss konnte er sich die Anmerkung nicht verkneifen, dass das, was er dort gesehen hatte, auch noch hinaus in die Welt posaunen würde. Nach diesem Aufeinandertreffen beschloss ich, mich und mein Werbeschild hinter einem Kiosk zu deponieren. Über Stunden und jeden Tag. Nur für eine neue, weitere Dose Bier, kroch ich aus meinem Versteck, zwischen der Rückwand des Kiosks und einem angrenzenden hohen Gebüsch, hervor zum Kioskmann. Der Werbeeffekt für den Diskothekenbetreiber war dadurch zweifelsohne etwas in den Hintergrund gerückt und nicht ganz so durchschlagend wie er sich vielleicht erhoffte. Der Diskochef gab mir sieben Mark die Stunde und ich durfte, was ich anfangs als durchaus angenehm empfand, drei Freibiere in dem Schuppen trinken, nachdem ich das Schild dorthin zurückbrachte. Doch schon nach drei Tagen war dieser Nebeneffekt wie verflogen, weil es sich für mich merkwürdig anfühlte, am späten Nachmittag allein in einer menschenleeren, riesengroßen Diskothek drei Gläser leerend an der Bar zu sitzen, ganz ohne Musik, ganz ohne Lichteffekte. Hätten sie wenigstens die Diskokugel stumm für mich drehen lassen, aber nicht mal das. Was meine Touren anging, wählte ich immer mehr irgendwelche Schleichwege zu meinem Kiosk, um möglichst unentdeckt zu bleiben. Das Schild trug ich mittlerweile nur noch in Hüfthöhe am langen Arm, am stärkeren schwachen rechten. Ich verrutschte mehr und mehr in eine Schieflage, bis mir meine Wirbelsäule deutlich Meldung machte, sie wäre nicht mehr gewillt, diese Tortur fortzuführen. Schließlich lief ich wie ein Betrunkener einen taumelnden kleinen Kreis, bevor ich mich und das Schild in meinem Gebüsch fallen ließ. Ich verkroch mich im Gestrüpp wie ein Eremit, der mit der Gesellschaft abgeschlossen hatte. Erst nach Stunden der Ruhe kroch ich wieder heraus. Es reichte, ich wollte es nicht übertreiben, auch wenn ich es dort in meinem Versteck mochte. Ich trank wieder mal am Kiosk ein paar Dosen Bier und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen jungen Mann, der mit einer Geldbüchse rasselte. Neben ihm stand ein Zirkuspony. Warum nicht eine Ziegennummer in einem Zirkus einstudieren und jeden Tag am Stadtrand den Applaus der Kinder auf der Seele spüren? Oder sich mit benzingetränkten Messern bewerfen lassen, in der Hoffnung, der Messerwerfer hätte alles unter Kontrolle? Vielleicht wäre es ein Versuch wert. Ich nahm mir vor etwas näher darüber nachzudenken und ließ das Werbeplakat im Gebüsch zurück. Ich war mir sicher, der Kioskmann würde es finden. Auch ein Kioskmann braucht ein Werbeschild.
Wochen später horchte ich auf, als mir ein Kommilitone aus gutem Hause an der Salatbar in der Mensa – was hatte ich dort überhaupt zu suchen? – mir die Adresse eines Markforschungsinstitutes gab. Dieses Institut war ständig auf der Suche nach Leuten, die sie für Befragungen in die große weite Stadt schickten. Ich heuchelte etwas Interesse an seiner Idee. Anfangs. Das Heucheln wich einem ersten Anflug von echtem Interesse, als er nachschob, dass es sich um einen ziemlich angenehmen Job handeln würde, der, so drückte er sich aus, auch noch lukrativ gestaltet wäre. Ich übersetzte seine Sprache in meine und kam zu der Erkenntnis, dieser Job würde um einiges mehr einbringen, als beispielsweise das harte Dasein eines Schneeschiebers oder einer menschlichen Plakatsäule. Ich wollte mehr erfahren und wir stellten uns große Portionen Rohkostsalate auf unsere Tabletts und ich folgte ihm an den Tisch. Was man nicht alles in Kauf nimmt, um an Informationen zu kommen. Rohkostsalate waren so das Letzte, von dem ich mich damals ernährte. Trocken, spröde, wirkungslos. Einfach nicht der Rede wert. Ich versuchte grüne Blätter zwischen meinen Backenzähnen zu zermalmen und ermunterte mein Gegenüber, mehr über den Job in diesem Institut zu erzählen. Er erklärte mir, dass es meine Aufgabe wäre, von Tür zu Tür zu laufen, wildfremden Menschen neue Produkte testen zu lassen und gemeinsam Fragebögen auszufüllen. Dies gefiel mir. Dies gefiel mir richtig gut, je mehr ich darüber nachdachte. Das war mein Ding. Ich würde tagsüber von Haus zu Haus schlendern, mich in den Villen im Grunewald zu den älteren oder auch jüngeren Damen setzen, um sie zu befragen und zu begaffen. Ich würde sie vormittags aufsuchen, dann, wenn ihre Männer sich in ihre Zahnarztpraxen oder Anwaltsbüros verzogen haben. Vielleicht würden sie gerade aus der Dusche oder aus dem Bett kommen, sie würden ihre plüschigen Bademäntel tragen und wir könnten es uns lasziv auf der Couchgarnitur gemütlich machen. Während sie mir einen Cognac an der Hausbar einschenken würde, lasse ich meinen Blick mit ausgestreckten Beinen genüsslich in den Garten schweifen, wo zwei Doggen mich wahrscheinlich grimmig anschauen könnten. Ich würde ihnen freundlich zuwinken. Genau dies sollte mein Job werden. Der Kommilitone schob mir eine Visitenkarte des Institutes zu, worauf ich ihn auf seine glattrasierte Wange küsste, sein beißendes After Shave roch, und die Karte in meiner Hosentasche verschwinden ließ. Die Frauen aus dem Grunewald gingen mir nicht mehr aus dem Schädel. Ich wollte so schnell wie möglich dorthin.
Am nächsten Morgen ließ ich mich auf meinem ausrangierten Klappsofa nieder, um mir ein paar wichtige Sachen durch den Kopf gehen zu lassen. Die Frauen, die dort in ihren millionenschweren Villen einsam ihre Tage verbrachten, werden nicht in Lumpen oder mit Sachen aus der Altkleidersammlung durch ihr Leben huschen. Ihre Designerklamotten entstammen allesamt gut sortierten edlen Boutiquen. Feinste Ware auf sonnenbankgebräunten Körpern. Oder sie sind im besten Fall tagsüber gänzlich nackt. Und womit konnte ich glänzen? Ich musste mir was überlegen, sonst würden die Damen mich gar nicht erst zu ihnen ins Haus lassen. Haare, Gesicht, Zähne, Duftwasser, Hemden, Hose, Anzug, Socken, die Liste wurde endlos lang von Dingen und Körperteilen, die ich auf Hochglanz bringen oder mir anschaffen müsste. Ich starrte auf meine Parkerjacke hinter der Tür und der Winterdienst mit einem Schneeschieber in der Hand schwirrte wieder in meinem Kopf, wie ein Haufen lästiger Scheißhausfliegen.
Meine Spardose war mit einhundert Mark gefüllt, eine Art Notgeld, wenn´s echt hart werden sollte. Und mit echt hart meine ich echt hart. Für einen Job erst einen Sack voll Klamotten besorgen zu müssen war schier unmöglich. Ich durchpflügte meine Wohnung nach brauchbarem Material. Was ich fand waren ein paar schräge Hawaiihemden, eine rostbraune Cordhose und einen Anzug, der mich geschmacklich komplett von meiner Umwelt abspaltete. Ich nannte ihn nur den sogenannten „Turkvolk-Anzug“ und ich mochte ihn. Außer mir trug niemand so ein Kleidungsstück. Außer mir wagte niemand so etwas zu tragen. Sollten Turkvölker tatsächlich derartige Anzüge, zu welchen Anlässen auch immer, getragen haben, hätte ich ihnen damals ausnahmslos einen guten Geschmack bescheinigt. Dieser Anzug wurde aus dickem, derbem Stoff produziert. Er war tiefblau und durchsäht mit silbernen, wenig dezenten Streifen, die sich vertikal von oben bis unten durchzogen. Nur gab es ein kleines Problem mit der Passform an mir. Trug ich den „Turkvolk-Anzug“ auf, reichte das Hosenbein nicht mal zu den Knöcheln und den Ärmeln fehlte es so sehr an Länge, dass er wie eine Kindergröße an mir wirkte. Einmal probierte ich den Anzug in Kombination mit Tennisschuhen, aber so kam ich nicht mal in den Bus. Um den fehlenden Stoff an den Armen zu kaschieren, hob ich hin und wieder einfach meine Arme nicht an. Ich ließ sie einfach am Körper baumeln und trank Cola-Rum nachts in meinen angestammten Läden mit einem Trinkhalm. Alles aber keine echten Lösungen, um gut durch die Nacht zu kommen und was die Ladies in den Villen anging, schätze ich die Abschreckungswirkung des Anzuges als außerordentlich hoch ein.
Ich telefonierte mit dem Institut und wurde schon für den kommenden Tag zu einem Gespräch eingeladen. Ich beließ es bei dem was ich hatte: „Turkvolk-Anzug“, Kölnisch Wasser, die zum x-ten Mal mit Uhu selbst geklebten Sohlen meiner Halbschuhe und ein rotes Polyester-Oberhemd, aus dem die Chemikalien nur so ihren Weg in die Freiheit suchten. Sonst nix. Der Rest war ich. Es sollte reichen. Es musste einfach reichen. Am nächsten Tag befand ich mich in einem dieser Bürohäuser mitten in der Stadt zu meinem ersten echten Bewerbungsgespräch. Meine Vorbereitung für dieses Gespräch begrenzte sich darauf, dass ich mich am Vorabend trotz einer gewissen Aufregung nicht gänzlich zudröhnte und ich, bevor ich meine Bude zu dem Gespräch verließ, meinen Anzug am offenen Fenster ein paar Momente im Wind hin- und herwedelte. Der Zigarettenmief in den Fasern sorgte selbst bei mir für Würgereiz. Ich goss einen kleinen See gutes Kölnisch Wasser in meine Hand und verrieb das Duftmittel unter die Achselstellen der Jacke und den Rest in den Schoß der Hose. Mir wurde schnell klar, dass ich mich nicht frontal meinem Gegenüber nähern sollte, sondern nur leicht schräg. Alles in allem war ich zufrieden.
Stunden später saß ich an einem schweren massiven Schreibtisch, möglicherweise Mahagoni. Mir gegenüber saß ein adrett gekleideter Mann irgendwo in einem Alter zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahren. Grobe Schätzung. Hinter ihm offenbarte sich ein für mich bisher nicht gekannter Blick über die Stadt. Ich empfand die Situation und den Ausblick als sehr erhaben und schob meinen Hals noch ein Stück aus dem mich würgenden Hemd, um einen noch besseren Blick zu erhaschen. „Also, ich an ihrer Stelle würde den ganzen Tag nur aus dem Fenster gucken,….also, wenn Sie nicht gerade arbeiten.“, warf ich meinem Gegenüber zu. Ein guter Anfang eines Vorstellungsgespräches ist eben durch nichts zu ersetzen.
Der sportliche Mann vom Institut schenkte mir trotz meiner aufheiternden Worte kaum Beachtung und kramte unentwegt in einem braunen Papphefter, in dem haufenweise beschriebene DIN-A4-Blätter lagen. Möglicherweise waren das die Bewerbungen derer, die den Job nicht bekommen werden, oder vielleicht doch eher derjenigen, die noch im Rennen waren. Ein Papier zu meiner Person fand er schon deshalb nicht, weil es nur ein kurzes Telefonat zwischen uns gab. Dann schob er den Ordner beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit auf meine Wenigkeit. Er schaute mir Ewigkeiten nur so ins Gesicht, fast teilnahmslos, ohne auch nur den Schimmer eines prüfenden Blickes. Er wirkte ziemlich entspannt und atmete tief und lang und ruhig. Ganz bestimmt war ich bereits inmitten eines Tests. Ganz bestimmt. Ich hatte zwar vorgehabt ebenfalls tief, lang, ruhig und teilnahmslos dazusitzen, aber es gelang mir nicht. Ich gaffte ihn in Erwartung irgendeines Signales an und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Schließlich ließ ich eine zweite Gesprächseröffnung folgen. „Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich mal kurz ihr Klo benutze? Sie können währenddessen ruhig noch in Ruhe weiter nachdenken.“ Er schnappte tief nach einer Portion Luft und stellte mir dann kurz und trocken folgende Frage: „Was sagt Ihnen der Begriff „Hundefutter“?“
Wie gern wäre ich damals genau in diesem Moment zum Klo gegangen. Ich war bereits dabei mich auf den Armlehnen aufzustützen, um mich in Gang zu setzen, ließ mich nach der Frage dann aber doch sofort wieder in den Sessel zurückfallen. Ich konnte nicht antworten, da mir nichts, was zu seiner Frage passen könnte, einfiel. Nix war parat, keine Antwort, keine Idee, gar nix, geistige Leere. Womöglich hatte ich mich nicht ausreichend mit den großen und kleinen Fragen der Koexistenz von Mensch und Tier beschäftigt. Wie nur reagieren? Ich befürchtete, ich könnte mich jetzt in einem Redeschwall um Kopf und Kragen reden, zu einem Thema, das ich bis dahin für komplett unbedeutend hielt. Ich entschied mich auf Nummer sicher zu gehen und fragte nach.
„Nur um sicher zu sein, dass ich Sie richtig verstanden habe. Die Frage geht in die Richtung, ob ich,…“
„Hören Sie mir nicht richtig zu? Die Frage war klar und verständlich formuliert! Also nun, ich warte.“
Nicht nur er wartete, ich auch. Ein letztes Aufbäumen, die Brust drückte ich nach vorn und dann, letztlich, geistesblitzartig, sprudelte es nur so aus mir heraus.
„Sehen Sie, für die einen ist es lediglich nur eine breiige Masse oder es sind ein paar knochenharte Rundlinge, die lieblos in den Napf geworfen werden, um das tägliche Überleben des vierbeinigen Wohnungsgenossen abzusichern. Für die anderen ist es jedoch Teil einer Weltanschauung, ein Lebensgefühl, was zelebriert und zur Schau gestellt wird. Jede Futtergabe, jede noch so kleine und überflüssige Zwischenmahlzeit, wird zum Tageshöhepunkt erkoren. Sie verzieren den nach Erbrochenem aussehenden Brei sogar mit Minze und Basilikum, denn auch ein Hundeauge frisst ja mit.“
Dann erklomm ich sogar die Ebene der Gesellschaftskritik: „Sollen doch die Obdachlosen unter den Brücken verrecken und erfrieren. Hauptsache Frauchen, Herrchen und der vierbeinige Liebling können sich an dem ganzen Hundegourmetmist ergötzen. Und was er nicht frisst, das bekommen nicht die Straßenköter der armseligen, hungernden Zausel an den Bordsteinkanten, nein, das wird einfach im Klo weggespült.“
„Machen Sie weiter, das gefällt mir!“, wurde ich von ihm unterbrochen und zugleich ermuntert.
„Seien wir doch mal ehrlich. Was passiert denn schon, wie ist denn tatsächlich die Situation? Da liegt der Rassehund in seiner Stadtvilla im Grunewald, lässt sich an warmen Sommertagen den Hundebauch am Pool kraulen und frisst sich gedankenlos durch den Tag. Und sonst? Was ist für ihn von Bedeutung? Er hat im schlimmsten Fall von Herrchen und Frauchen gelernt, sich von den Straßenkötern abzuheben, der piekfeine Terrier oder die versnobte Pudeldame mit Söckchen aus Hermelin, die von Madame an kalten Tagen über die Pfoten gestülpt werden. Und nur so nebenbei, für den Preis einer Packung Hundefutter gehe ich dreimal Minipizza essen, so sieht es doch aus in unserer kranken Gesellschaft!“
Pause. Ich hatte mich aufgeregt und musste mich beruhigen. Ich sollte in die Politik gehen, ging mir durch den Kopf. Dann ließ ich mein abschließendes Statement folgen. Jetzt kam der finale Schlag, quasi der Knock-Out.
„Der Mensch, definiert als konsumgetriebenes Wesen, differenziert sich auch über Hundefutter und wenn es der Mensch tut, tut es zwangsläufig sein Hund auch, so ist das, basta, keine weiteren Fragen, ich muss mich beruhigen!“
Stille. Er lächelte und warf mir den nächsten geistigen Brocken zu, nach dem ich schnappen sollte.
„Sehr gut, und jetzt sage ich Ihnen ein zweites Wort, was Sie sicherlich auch schon mal gehört haben. Es lautet: Marken! Und wenn ich jetzt beides miteinander kombiniere, dann ergibt das,…na was ergibt das dann?“
Ich neigte früher dazu, wenn man mich mit bestimmten Fragen aus der Reserve locken wollte, meinen Kopf etwas zur rechten Seite kippen zu lassen, ähnlich wie es eben auch Hunde manchmal tun.
„Hundefutter-Marken!“ blökte ich erfreut in den Raum.
„Und jetzt das Ganze andersrum!“, forderte er mich freudig schreiend auf.
Ich drehte meinen Kopf hoch in Richtung Deckenstrahler und dachte kurz über das „andersrum“ nach. Ohne meine Antwort abzuwarten, riss er sich aus seinem Ledersessel empor und donnerte seinerseits in die Weiten seines nicht gerade klein geratenen Büros. „Marken-Hundefutter, oh Mann, ich rede von Marken-Hundefutter, kapiert?“ Er war sehr erregt. Ich hätte nie gedacht, was eine einfache Packung Hundefutter mit einem Menschen so alles anrichten kann. In diesem Moment war ich mir ziemlich sicher, dass ich ihn nur noch in seiner grandiosen Erkenntnis bestätigen musste, um mir diesen Job zu angeln.
„Sag ich doch, darum geht es heutzutage, Marken-Hundefutter. Ein Thema, was meiner Meinung nach maßlos unterschätzt wird, wirtschaftlich wie auch gesamtgesellschaftlich betrachtet, meine ich.“ Meine Bestätigung war ein Treffer. Ich wusste, ich werde Hundefuttermann. Ich hätte überhaupt kein Problem damit gehabt, mit ihm den ganzen Tag nur über Hundefutter zu reden, zumal ich an diesem Tag sowieso nichts Besseres vorhatte. Dann holte er erneut aus und ließ dabei seine Arme kreiseln, etwas was ich aus irgendeinem Film kannte. Während seine Arme Kreise in die Luft malten, überlegte ich, aus welchem Film ich dieses dämliche Getue kannte.
„Was ist ein Kilo Pansen ohne einen Markennamen und ohne ein Markenschild? Richtig, mein Junge, nichts außer ein dreckiger, stinkender Haufen Mist, den Hunde fressen.“ Nun unterbrach ich ihn, erhob meinen linken Zeigefinger, beugte mich zu ihm vor und fiel ihm ins Wort.
„Und ein Kilo Pansen mit einem Markennamen und einem Markenschild ist alles.“ Ich fuhr, vor Erregung fast platzend, meinen Monolog fort. „Wenn wir diese Geschichte den Leuten nur lange genug ins Hirn hämmern, den Leuten und den Tieren, dann zahlen sie den Preis von drei Minipizzen, obwohl Pansen vielleicht nur die Hälfte von einer Minipizzahälfte kostet. Die Scheiße schmeckt sowieso immer gleich, egal, ob wir über Minipizzen oder Pansen reden.“ Er gaffte mich verdutzt an, da er wohl dachte, ich würde wissen, wie Pansen schmeckt. Wir beruhigten uns wieder, ließen uns in unsere Ledersessel fallen und er begann mir zu erklären, was ich in meinen neuen Job tun müsste. Meine Aufgabe würde es sein, von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung zu laufen, um zuerst eine sogenannte Testverkostung am lebenden Objekt, sprich am Hund, durchzuführen. Dann würde mit Frauchen oder Herrchen oder auch beiden, der Teil der Fragen folgen, wobei ich die Antworten in Fragebögen kritzeln müsste. Für den Fragenteil drückte er mir Hunderte Fragebögen in die Hand, für den Fütterungsteil sollte ich Dutzende von 1,5 Kilo Packungen eines vollkommen neuen Hundefutters mit auf den Weg bekommen. Er verschwand kurz hinter seinem Schreibtisch und zog eine Packung von eben diesem noch nie dagewesen Hundefutter hervor. Beste Qualität, neu aufeinander abgestimmte Nährstoffe, neues Geschmackserlebnis. Er pries mir das Futter mit einer Inbrunst an, als ginge es um Leben und Tod. Alles war so unglaublich neu an diesem Produkt und ich als Hundefuttermann mittendrin. Ich hatte nur noch darauf gewartet, er würde hinzufügen: „….und das Zeug ist sogar weltraumgetestet. Haben Sie verstanden? Weltraumgetestet!“