Buch lesen: «Rulantica (Bd. 2)»

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Für Mats und alle Helden, die besonders

in schweren Zeiten nicht nur reden und handeln,

sondern auch zuhören.

Bereits erschienen:


Band 1

eISBN 978-3-649-63490-4

Das Hörspiel zu Rulantica – Die Verschwörung der Götter erscheint unter der Bestellnummer 72359

eISBN 978-3-649-63767-7

© 2020 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Lizenziert durch: Mack Media & Brands GmbH & Co KG, Geschäftsführer Michael Mack


Vermittelt von: Literatur Agentur Hanauer

Die Figuren um Rulantica und die Storywelt sind urheberrechtlich geschützt und eingetragene Marken der Mack Media & Brands GmbH & Co KG.

Basierend auf einer Idee von: Michael Mack, Jörg Ihle, Tobias Mundinger

Storywelt: Jörg Ihle

Text: Michaela Hanauer

Illustrationen: Helge Vogt

Lektorat: Hanna Schmitz, David Ginnuttis, Anja Fislage

Satz: FSM Premedia GmbH & Co. KG, Münster

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-62322-9


Inhalt

PROLOG

I KELPIERENNEN

II RANGNAKOR

III GRÅ

IV NACHRICHTEN

V MATS VS. FINJA

VI ZWEIKAMPF

VII ABSCHIED VON RULANTICA

VIII IN FRIESOS KLAUEN

IX BÖLVUN LEBT

X MADAME NOIR

XI MIT ALLEN WASSERN GEWASCHEN

XII GETEILTES MEER

XIII DER FRIEDHOF DER SCHIFFE

XIV GEFANGEN AUF DER TRE KRONOR

XV QUALLEN! QUALLEN!

XVI EIN BAD MIT TROLLEN

XVII DAS URTEIL DER GNOME

XVIII DER GEHÖRNTE HELM

XIX DER HAMMER!

XX ANFANG UND ENDE

EPILOG

PROLOG

Man schrieb das Jahr 1557, als König Gustav, den man auch Gustav Wasa nannte, alt und zu müde geworden war, um in neue Schlachten zu ziehen. Er haderte bitter mit seiner Sterblichkeit, zu viele Aufgaben waren noch zu erledigen, die er seinen Nachfolgern nicht zutraute.

In dieser Not trat ein Fremder auf ihn zu und berichtete ihm von einer Quelle, deren Wasser angeblich ewiges Leben verlieh. Er vertraute Gustav seinen gehörnten Helm an, der ihn zu einer im Nebel verborgenen Insel leiten würde, auf der die Quelle zu finden war. Als Gegenleistung werde er lediglich eines Tages den Helm zurückverlangen, erklärte der Fremde, bevor er genauso spurlos verschwand, wie er gekommen war.

Also schickte Gustav seinen engsten Vertrauten, Kapitän Tord Johansen, auf die geheime Mission und das königliche Segelschiff, die Tre Kronor, stach in See.

Als sie die vorhergesagte Nebelwand erreichten, nahm der Kapitän den Helm vom Kopf, brach eines der Hörner ab und blies hinein. Im Nu enthüllte sich eine Insel. Einen Großteil der Mannschaft nahm der Kapitän mit an Land. Nur der Schiffsjunge Fin sollte zur Bewachung auf der Tre Kronor bleiben.

Aber Fin wollte sich nicht so leicht abhängen lassen und folgte ihnen in einigem Abstand. Auf der Insel empfing ihn ein betörender Gesang, und er kletterte auf einen Felsen, um die Sängerin zu sehen und ihr zu zuzuhören. Es war die Sirene Kailani, die mit ihrem Gesang verhindern sollte, dass Menschen die Quelle erreichten. Doch stattdessen erzählte sie Fin von dem Fluch, der auf der Insel lastete, und der Schlange, die bereitlag, sie alle zu verschlingen, wenn jemand die Quelle benutzen würde.

Fin verlor sich in Kailanis großen, schönen Augen und geriet ins Grübeln. Konnte er wirklich den Auftrag seines Königs über das Wohl der Inselbewohner stellen?

In ihrem Schwärmen füreinander bemerkten sie nicht, dass Exena, die Anführerin der Quellwächter, sie entdeckt hatte. Exena zerrte Fin vom Felsen und ließ ihn gefangen nehmen. Wahrscheinlich wäre er ertrunken, hätte Kailani ihn nicht mithilfe ihres Sixtopus Snorri aus dem Unterwasserkäfig befreit. Fin gab für Kailani seine ursprünglichen Pläne auf und half den Meermenschen, Kapitän Johansen und seine Leute von der Quelle fernzuhalten. Fins Fürsprache verdankte es die Mannschaft der Tre Kronor, dass sie freies Geleit erhielten und die Insel lebend verlassen durften.

Fin aber blieb bei seiner großen Liebe Kailani auf Rulantica, auch wenn es Exena ein Dorn im Auge war. Er leistete den Schwur, nie die Quelle zu nutzen, und daran hielt er sich sein ganzes Leben lang.

Was aus der Tre Kronor oder dem Helm wurde, ist ungewiss. Die Geschichte geriet in Vergessenheit, bis sich nun das Schicksal der Insel erneut entscheidet …


Magni lümmelt auf Odins Thron und starrt Löcher in die Welten. Modi hockt breitbeinig zu seinen Füßen und poliert Mjölnir, Thors Hammer, den er ihnen beiden vermacht hat.

»Gibt es was Interessantes zu sehen?«, fragt Modi, ohne von seiner Beschäftigung abzulassen.

»Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren, die wenigen, die noch an uns glauben, hocken auf einer vernebelten Insel, und sonst kräht in Midgard kein Hahn nach uns!«, nörgelt Magni.

»Unser Hammer rostet ein, wenn er nicht bald etwas zu tun bekommt«, behauptet Modi. »Wollten wir nicht die Menschenwelt ordentlich aufmischen?«

»Wollten wir«, sagt Magni. »Aber Wali hat es sich auf halbem Weg anders überlegt.«

»Wali!«, ruft Modi. »Wali! Komm! Schnell!«

Draußen im Hof seines Schlosses hört Wali den Ruf. Unschlüssig wiegt er ein Hühnchen in seiner Hand, es zappelt noch. Aber wer weiß, was die Söhne Thors entdeckt haben, es ist ohnehin nicht klug, die beiden zu lange allein zu lassen. Also unterbricht er das Apport-Training mit seinen Wölfen Geri und Freki und eilt in den Thronsaal.

»Was gibt es?«

»Sag, wann brechen wir auf? Ich will endlich die Sterblichen zum Zittern bringen!«, begrüßt Modi ihn.

»Ich habe euch doch erklärt, dass wir unseren Plan erst vorbereiten müssen, damit er die Wirkung entfaltet, die uns gebührt!«, meint Wali.

»Reicht die Schlange dafür nicht?«, wundert sich Magni.

Wali verdreht genervt die Augen. »Ein Fluch, von dem niemand weiß, macht niemandem Angst. Wir brauchen jemanden, der an uns glaubt und der den Menschen erzählt, wie groß und mächtig wir jungen Götter sind.«

»Lahmes Gerede! Die werden uns schon kennenlernen!« Modi streichelt beinahe zärtlich über den Hammer.

»Du wärst der Erste, der sich beschwert, wenn sie dich für Thor halten, weil sie noch nie von Thors Söhnen gehört haben!«, behauptet Wali.

»Vidar und dich kennt auch keiner«, stichelt Magni. »Die glauben da unten immer noch an euren Gottvater Odin. Wenn überhaupt.«

»Eben, darum brauchen wir den Jungen«, sagt Wali.

»Aber wie willst du ihn von der Insel weglocken und dazu bringen, von uns in der Menschenwelt zu berichten?«, fragt Magni.

»Wir werden Zwietracht säen«, sagt Wali.

»Bist du seit Neuestem unter die Ackerbauern gegangen?«, höhnt Modi.

Magni kichert.

Innerlich regt Wali sich nicht zum ersten Mal über die fehlende Auffassungsgabe seiner Gefährten auf. Doch die Liste seiner Verbündeten ist kurz, also muss er sich weiter mit ihnen herumplagen.

»Ich zeige es euch. Magni, komm mit mir.«

»Wieso nur Magni?«, mault Modi.

Doch Wali lässt sich nicht beirren.

Vor der Tür fragt Magni: »Und was willst du von mir?«

»Sag es deinem Bruder nicht weiter, aber ich habe gehört, Thor wollte ursprünglich nur dir den Hammer überlassen. Zu Recht, finde ich, der Hammer ist besser bei dir aufgehoben als bei Modi.«

Magni reckt sich stolz. »Nun ja, Mjölnir liegt mir wahrlich besonders geschmeidig in der Hand. Aber erzähle es Modi nicht, er ist bei allem, was den Hammer betrifft, leicht reizbar.«

»Ich behalte es für mich«, verspricht Wali.

»Was habt ihr getuschelt?«, will Modi wissen, als sie zurückkehren.

»Nichts Wichtiges«, behauptet Magni.

Wali lächelt tiefgründig, nimmt aber gleich darauf Modi zur Seite.

»He, he, denk an dein Versprechen, Wali!«, ruft Magni ihnen hinterher.

»Aber ja doch!«, ruft Wali zurück.

»Habt ihr ein Geheimnis vor mir?«, zürnt Modi.

»Nein, nein«, entgegnet Wali, »wir wollen dich nur schonen, weil wir wissen, wie wichtig dir der Hammer ist.«

»Ja, das ist er! Das Wichtigste. Abgesehen von meinem Bruder selbstverständlich.«

»Selbstverständlich!«, stimmt Wali zu. Mehr sagt er nicht, sondern fängt stumm an, bis zehn zu zählen, bereits bei fünf wird er von Modi unterbrochen.

»Schonen, wovor?«

»Ach, nichts!«, windet sich Wali.

»Rede oder ich lasse dich den Hammer spüren!«, droht Modi.

»Bitte nicht!« Wali tut erschrocken. »Ich weiß doch, wie schwer es dir im Moment fällt, ihn zu halten.«

»Was redest du da, Schandmaul? Niemand schwingt Mjölnir besser als ich!«

»Ja, genau – ich habe Magni beruhigt und ihm gesagt, dass euer Vater Thor sich irrte, als er nur ihm den Hammer überlassen wollte. Es ist gut, dass mein Vater Odin ihn überzeugt hat, euch beide zu gleichberechtigten Erben auszuwählen!«

Wali tätschelt Modis Schulter zur Beruhigung. Der sonst stets laute und grobschlächtige Modi wird still. Das ist er noch, als sie zu Magni zurückgehen. Samen gesät, denkt Wali, jetzt kommt die Ernte.

Laut sagt er: »Ich würde euch gerne zum Nachtmahl einladen. Ihr seid doch geschickte Jäger – kann mir einer von euch ein Stück Wild besorgen?«

»Schüre das Feuer an, ich erledige das!«, bietet Magni an.

»Wieso du? Ich kann das ebenso übernehmen!« Modi schnappt sich den Hammer.


Erst als die Sonne bereits langsam den Himmel verlässt, kehrt er zurück.

Mit leeren Händen.

»Wo ist unser Abendessen?«, meckert Magni seinen Bruder an. »Sollen wir von der Tischkante abbeißen?«

»Geh doch selbst, wenn du es besser kannst!«, murrt Modi.

»Mehr als nichts kann ich allemal für uns jagen!«, behauptet Magni.

»Natürlich, der feine Gott Magni trifft auch noch in einem ausgestorbenen Wald ein ganzes Rudel!«, unkt Modi.

»Pah, du triffst in einem ganzen Rudel nicht einmal das älteste und schwächste Tier!«, stänkert Magni.

Zornig wirft Modi Magni den Hammer vor die Füße.

Wali klatscht langsam, aber laut Beifall. »Genau so, meine beiden ungeduldigen Mitstreiter, genau so werden wir unser Ziel erreichen!«

Magni kapiert als Erster. »DU! Du miese Ratte, du hast uns gegeneinander ausgespielt!«

»Nur, um euch das Spiel zu erklären«, verteidigt sich Wali.

Magni ballt die Fäuste. »Niemand stellt sich zwischen mich und meinen Bruder!«

»Kläre uns auf, bevor die Kraft Mjölnirs das Letzte ist, was du zu spüren bekommst!«, droht Modi.

Wali lässt sich seinen Respekt vor der rohen Gewalt nicht anmerken, sondern meint gelassen: »Was bei euch funktioniert hat, funktioniert überall, wenn wir die richtigen Ohren füttern. Ich werde die bereits vorhandenen Zweifel der getreuen Exena schüren. Sie wird die Einigkeit der Auserwählten stören und uns den Jungen in die Arme treiben.« Wali reibt sich die Hände. »Er wird Zeuge sein, wenn wir unsere Macht zeigen, und allen davon erzählen. Dann werdet ihr erleben, wie Midgard vor uns auf die Knie fällt!«

»Wir werden unsere Väter an Ruhm sogar noch überflügeln!«, jubelt Magni.

»Oder ich schlage sie alle nieder!«, grölt Modi.


KELPIERENNEN


»In den Sattel …!«, dröhnt Usgurs Stimme über den weitläufigen Kampfplatz. Neben Mats und ein paar wenigen auserwählten Jungwächtern, die Usgur trainiert, stürmt ein gutes Dutzend älterer Quellwächter zu den Tieren. Die Wasserpferde warten mit geblähten Nüstern und unruhig schlagenden Fischschwänzen direkt vor Svalgurs Halle. Die Anspannung vibriert förmlich durchs Wasser. Einzig die Riesenschlange starrt stumm durch die spiegelglatten Eisscheiben von Vinterhal, als wäre sie nicht vor wenigen Wochen zum Leben erwacht und hätte nicht beinahe Mats, Finja und die gesamte Insel verschlungen. Ihren gewaltigen Schlund und die dolchartigen Zähne wird Mats nie vergessen. Aber heute darf er sich nicht ablenken lassen, heute ist Odins Dank, ein Feiertag in Gedenken an den Göttervater, der Rulantica vor dem Untergang verschonte. Zu seinen Ehren veranstalten die Quellwächter in jedem Jahr ein wagemutiges Wettrennen, das legendäre Løp, bei dem die besten Kelpiereiter der Eisstadt zeigen können, wie schnell und geschickt sie sich mit ihren Wasserpferden über eine Strecke voller Hürden bewegen. Start und Ziel liegen in der Eisstadt, ein Teil des Parcours führt hinaus in die Tangwälder. Gekennzeichnet ist die Strecke durch Steine am Meeresboden, die Odins weises Auge zeigen. Für die Hindernisse denken sich Exena, die Anführerin der Quellwächter, und der Ausbilder Usgur immer etwas Neues aus. Noch nie hat ein Jungwächter das Rennen gewonnen, aber schon allein dabei zu sein, ist für Mats unglaublich aufregend.


Dieses Jahr ist zum ersten Mal Kailani eingeladen, zum Zeichen der Annäherung und Versöhnung von Aquamaris und der Eisstadt durfte sie ebenfalls einen Teil des Parcours erschaffen. Was die Anführerin der Sirenen sich wohl hat einfallen lassen? Nicht einmal Finja hat vorab etwas aus ihr herauskitzeln können. Mats entdeckt die beiden nebeneinander auf einer Tribüne vor Svalgurs Halle, von wo aus sie den ganzen Platz überblicken können. Snorri hockt auf Finjas Schulter. Seine Schwester hat beschlossen, nicht am Rennen teilzunehmen, um bei ihrer Ziehmutter zu sein. Das versteht Mats gut, die beiden sehen sich kaum, weil Finja die Eisstadt ebenso wie alle anderen Jungwächter im ersten Ausbildungsjahr nicht verlassen darf. Auch wenn sie niemals laut jammern würde, merkt Mats, wie sehr Finja ihre Mutter und ihren Vater Bror vermisst. Für sie spielt es keine Rolle, dass die beiden nicht ihre leiblichen Eltern sind, schließlich ist sie bei ihnen aufgewachsen. Mats wünschte, er hätte ebenfalls jemanden, der ihn so lieben würde. Unwillig schüttelt er sich, kein guter Moment für Sentimentalitäten! Gleich geht es los!

Im Pulk mit den anderen Quellwächtern erreicht Mats die Kelpies. Weiter vorne sieht er Timur und Slander, zwei der Jungwächter, mit denen er sich den Wohnturm teilt. Beide sind schnelle Schwimmer und bilden gute Teams mit ihren Kelpies Swaan und Rugu.

Allerdings nicht so gut wie Venn und ich, denkt Mats.

Er hält Ausschau nach dem Kelpie seines verstorbenen Vaters Falors. Da ist es! Stolz reckt Venn seinen feuerroten Kopf aus der Menge der Wasserpferde. Anders als die Kelpies um ihn herum hat er seine Farbe nicht an seine Umgebung angepasst und demonstriert damit wieder einmal seine Unbeugsamkeit. Gerade kommt Timur ihm ein Stück zu nahe, während er Swaan sattelt, deshalb fletscht Venn die Zähne und lässt ein Knurren hören, das so manches wilde Tier in die Flucht geschlagen hätte. Erschrocken weicht Timur aus und verschafft damit unabsichtlich Mats genug Platz, um zu seinem Kelpie zu gelangen.

Kaum steht er neben ihm, beruhigt Venn sich. Sanft streicht Mats ihm über die Nüstern und kramt ein Seil aus seiner Hosentasche hervor, das Finja ihm extra für heute geflochten hat. Er hält es Venn hin.

»Brauchen wir das heute, mein Großer?«

Venn rollt mit den Augen und deutet an, sich aufzubäumen.

»Dachte ich mir schon.« Mats steckt das Seil schnell wieder ein. »Dann also wie immer: ohne Zaumzeug und ohne Sattel!«

Egal, was Usgur und Exena ihm immer und immer wieder einschärfen, er möchte Venn seinen Willen nicht aufzwingen, er vertraut ihm.

Und heute können sie es allen beweisen. Schon seit Tagen spürt Mats, wie wichtig Venn das Løp ist. Er hat das Rennen mit Falor gewonnen. Zweimal. Das ist lange her und ist davor nur Usgur gelungen.

Den ersten Sieg errangen die beiden, bevor Falor Mats’ und Finjas menschliche Mutter vor dem Ertrinken rettete und sich in sie verliebte. Den zweiten, als sich einige der Quellwächter wegen Falors Liebe zu Vivika von ihm abgewandt hatten. Noch heute kann Mats den Trotz und die Genugtuung wahrnehmen, die Venn und Falor empfanden, als sie die Kritiker Lügen straften, die behaupteten, Falor wäre zu weich geworden und wegen seiner Zuneigung zu einer Menschenfrau kein echter Quellwächter mehr. Für einige Zeit nach diesem Sieg verstummten diese Anschuldigungen. Bis …

Mats hat eine Weile gebraucht, um herauszufinden, was den erneuten Wandel verursacht hatte. Venn hielt die Erinnerungen daran, die er in Gedanken mit Mats teilte, gut verborgen. Doch eines Tages war Mats von selbst darauf gekommen: Es war seine und Finjas Geburt gewesen, die erneut Panik bei den Quellwächtern, allen voran Exena, ausgelöst hatte. Die Anführerin sah damit einen Teil der Prophezeiung von Odins Frau Frigg erfüllt, dass einmal jemand von der ursprünglichen Natur der Meermenschen das Ende für Rulantica bringen würde.

Dieses ewige Misstrauen gegen Menschen, das er auch als Halbmeermensch noch zu spüren bekommt, weil er eben nicht wie Finja im Wasser, sondern an Land aufgewachsen ist. Das wird er hier und heute genauso ausräumen, wie sein Vater es einst getan hat!

Wenn er und Venn heute das Rennen gewinnen, dann werden Exena und die Quellwächter ihn feiern, wie sie vor Jahren – oder wie man hier sagt: vor etlichen Gezeiten – seinen Vater gefeiert haben! Und dann wird er endlich von den Meermenschen für voll genommen.

Oh ja, er will dieses Rennen gewinnen, genau wie Venn!

»Wir zeigen es ihnen«, flüstert er Venn in die aufmerksamen Kelpieohren.

Sie haben durchaus eine Chance, weil niemand sich auch nur annähernd so gut mit seinem Kelpie versteht. Manchmal kommt es Mats so vor, als könne er Venns Gedanken lesen. Und umgekehrt.


Voller Tatendrang schwingt sich Mats auf Venns Rücken. Er spürt, wie sich die Muskeln seines Kelpies straffen.

Die anderen Quellwächter machen sich ebenfalls auf ihren Kelpies für den Start bereit. Höchste Konzentration und Anspannung bei Reitern wie Zuschauern. Alle harren auf Usgurs Signal.

»Fertig – GÅ!«

Schneller als ein Pfeil schießt Venn los. In der Eröffnungsrunde um den Kampfplatz müssen sie unbedingt eine ideale Position erringen. Direkt vor Mats prescht eine Spitzengruppe voran, alles ältere und erfahrene Quellwächter, die an zahllosen Løps teilgenommen haben, unter ihnen Halvor, der Gewinner vom letzten Jahr. Von den Veteranen sollte man sich besser fernhalten, hat Finja Mats eingeschärft.

Slander hält sich nicht daran, er sprengt mit Rugu in die Spitzengruppe. Mats beobachtet, wie einer der Älteren einen Arm ausstreckt. Zu spät, um Slander zu warnen, der Quellwächter reißt Rugus Zaumzeug an sich und zieht so fest, dass das Kelpie vor Schmerz aufschreit, buckelt und Slander abwirft. Mats kann es kaum fassen. Wie unfair! Aber weder Exena noch Usgur schreiten ein. Um zu gewinnen, ist wirklich alles erlaubt!

»Lass uns lieber Abstand halten. Die sollen sich ruhig erst untereinander die Köpfe einschlagen!«, weiht Mats Venn in seinen Plan ein.

Nur widerwillig drosselt Venn sein Tempo. Mats klopft ihm beruhigend auf den Hals. »Geduld, Geduld! Überholen können wir später immer noch!«

Ein flüchtiger Blick zurück: Gerade mal eine Kelpielänge hinter ihnen die nächsten Verfolger. Nicht alle kennt Mats persönlich. Nur den grimmigen Zwart und Ilai, eine der Meisterschülerinnen, kann Mats ausmachen.

»Wir bleiben am besten genau zwischen den beiden Gruppen«, überlegt Mats.

Die Runde um den Kampfplatz überstehen Mats und Venn ohne Zwischenfall. Jetzt geht es über die schmale Wasserstraße zwischen den Wohntürmen entlang zum Stadttor. Die Kelpies der Veteranen navigieren mit ihren Fischschwänzen geschickt auf das Tor zu. Venn gibt sich weiter alle Mühe, Distanz zu halten, sosehr es ihn auch nach vorne drängt, das spürt Mats. Nicht weit hinter ihnen ist ein Reiter aus der Verfolgergruppe ausgebrochen, er nähert sich unaufhaltsam. Das Tor sieht so verflixt eng aus, passen sie da wirklich durch? Ohne abzubremsen? Venn schrappt mit der Flanke am Torbogen entlang, aber sie schaffen es!

Die Steinaugen auf dem Meeresboden führen zum Kelpwald. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts eine Wand vor ihnen auf. Aus blanken Eisblöcken errichtet und schier unüberwindbar. Blitzschnell muss Mats entscheiden – links oder rechts, auf welche Seite soll er ausweichen? Oder …? Mats reckt sich in die Höhe und lenkt damit auch Venns Richtung. Obendrüber!

Ewig zieht sich die Eismauer. Venn steigt und steigt. Mats verlagert sein Gewicht, um kein Ballast zu sein. Hoffentlich war das richtig und die Wand stellt sich nicht als Kuppel heraus wie die Stadtmauer rundum die Eisstadt. Die ersten Sonnenstrahlen jenseits der Wasseroberfläche lassen sich bereits erahnen, kurz bevor die Wand endlich endet. Venn streckt die Vorderbeine, gibt einen kräftigen Schub mit dem Fischschwanz und gleitet in hohem Bogen über das Hindernis. Doch an Aufatmen ist nicht zu denken. Auf der anderen Seite empfängt sie Finsternis. Keine Spur mehr von den Sonnenstrahlen, auch nicht von dem normalen Dämmerlicht unter Wasser. Man kann die Hand vor Augen nicht sehen. Wohin jetzt? Sollen sie anhalten oder weiterschwimmen? Mats verliert augenblicklich die Orientierung, er zupft an Venns Mähne. Wo ist oben, wo ist unten?

»Beruhige deinen Atem, ich sehe für uns beide!«

Mats stutzt, während sein Körper auf Venn weiter abwärtsrast. Wer hat da gesprochen? Er hat die Stimme noch nie gehört und sie ist ihm dennoch vertraut. Venn! Das ist Venn! So deutlich hat Mats sein Wasserpferd noch nie verstanden. Er redet in echten Worten mit ihm, oder macht ihn das Renntempo völlig irre? Kann das wahr sein? Aber seine Aufforderung ergibt Sinn und hilft Mats tatsächlich, den Anflug von Panik zu besiegen. Er schmiegt sich an das Wasserpferd und lässt sich von ihm durch die Dunkelheit tragen. Für einen Moment blendet er das Rennen aus. Dann holen ihn Rufe zurück in die Realität des schwarzen Ozeans.

»Hier geht’s lang!«

»Vorsicht, das ist eine Falle!«

»Wer garantiert mir, dass es nicht deine Falle ist?«

Kehliges Lachen. »Das ist meine Falle!«

»Friss meinen Sand!«

»Friss du meinen!«

Mats beißt sich auf die Zunge. Die beiden Quellwächter sind ganz nah. Sie ahnen nicht, dass er es auch über die Mauer geschafft hat, und sehen können sie ihn genauso wenig wie er sie. Eines der anderen Kelpies schnaubt, findet aber keine Beachtung, weil die beiden ihren Streit fortsetzen.

»Das Løp auf diese Weise zu gewinnen, ist selbst für dich unwürdig!«

»Ein ehrlicher Kampf führt immer zu einem würdigen Gewinner!«

Mats vernimmt ein dumpfes Schlaggeräusch, es folgt ein Triumphschrei.

Ein Gegner weniger. Die Teilnehmer schrecken scheinbar nicht davor zurück, einen Freund auszuschalten, und Mats hat noch nicht mal echte Freunde unter den Quellwächtern. Besser, er bleibt weiter leise und unentdeckt.

Genauso abrupt, wie sie aufgetaucht ist, endet die Schwärze. Hektisch blickt Mats sich um, rechnet damit, dem Schläger direkt in die Faust oder in den gezückten Zweizack zu reiten. Sie sind immer noch außerhalb der Eisstadt und erstaunlicherweise auf dem Parcours, wie der von Steinaugen gesäumte Sand unter ihnen verrät. Doch es ist weiterhin niemand zu sehen. Nur zu hören. Ein Schimpfen und Fluchen, das von überall und nirgends durchs Wasser getragen wird. Er treibt Venn an. Auf den wogenden Kelpwald zu, aus dem er Schreie und Jammern hört. Wahrscheinlich stecken einige Reiter hier fest, aber die dichten grünen Blätter geben nichts preis. Während Mats überlegt, außen herum zu reiten, löst sich etwas aus den Tangblättern. Es sind Eisblumen. Wunderschön, aber scharfkantig wie Messerklingen. Sie rotieren um die eigene Achse und halten auf Mats und Venn zu.

»Vorsicht!«, ruft Mats.

Trotzdem erreicht eine ihr Ziel, streift Venn an der Flanke. Das Kelpie schnaubt wütend auf, blaues Blut tropft aus der kleinen, aber tiefen Wunde. Rasch presst Mats seinen Pulloverärmel darauf und hofft, damit irgendwie die Blutung zu stoppen. Gleichzeitig hält er Ausschau nach weiteren Geschossen. Da wirbelt der nächste Schwung durchs Wasser.

»Nach links!«, brüllt Mats und dirigiert Venn in das dichte Pflanzengeflecht des Waldes. Bis hierhin dringen zwar die Geschosse nicht vor, aber sie kommen kaum voran. Immer enger schlingen sich die Tangstängel um Venns Vorderbeine. Kaum hat das Kelpie einen Knoten abgeschüttelt, bilden die Blätter den nächsten. Mit beiden Händen zerrt Mats ebenfalls an den grünen Schlingen. Je mehr er versucht, sie fernzuhalten, desto heftiger schneiden sie ihm in die Handflächen. Hätte er doch besser einen Zweizack mitnehmen sollen wie einige der anderen Quellwächter? Aber das unhandliche Teil stört ihn beim Reiten und er kann sowieso nicht besonders geschickt damit umgehen.

Ohne ihn und sein Kelpie zu beachten, huschen einige bunt schillernde Fische an ihnen vorbei, für die Fischchen sind die Blätter kein Hindernis, sondern ein idealer Schutz. Unwillig schüttelt Venn seinen Kopf, wodurch seine lange Mähne sich umso tiefer im Tang verfängt.

Das ist es! Nicht nur Venns Größe ist schuld an dem Dilemma!

»Wir zappeln zu viel«, stellt Mats fest. »Das bringt die Stängel überhaupt erst in Schwung.«

Venn schnaubt verächtlich einige Tangblätter von sich weg, prompt schwappen sie zurück und versuchen, sich um sein Maul zu ranken.

Mats entknotet seinen Freund vorsichtig und beobachtet dabei wieder ein paar der kleinen Fische. Ein leichter Anschub mit ihrem Fischschwanz und schon gleiten sie geschmeidig durch den Wald.

»So versuchen wir das jetzt auch!«, fordert er von Venn. »Du machst dich so lang und dünn wie möglich und ich bringe uns da durch!«

Behutsam lässt Mats sich von Venns Rücken gleiten. Venn brummelt zwar unwillig, legt dann aber die Vorderbeine an seinen mächtigen Körper, streckt den Kopf und den Fischschwanz und bewegt sich nicht weiter. Mats hält sich mit den Armen an Venn fest und stößt sich mit den Beinen ganz sacht ab. Der Tang streift an Mats’ Armen und Beinen entlang, aber verwickelt sie nicht mehr. Auf diese Weise kommen sie zwar nur im Seeschneckentempo voran, bleiben aber wenigstens nicht stecken. Erst nach einer endlosen Weile verlassen sie den Kelpwald.

»Wenn das so weitergeht, werden wir nicht Erste, sondern Letzte«, seufzt Mats.

Eine Spur von Odins Augen liegt wieder direkt unter ihnen, ein gutes Stück vor ihnen schwimmen mindestens drei Reiter dicht hintereinander. Soweit Mats es erkennen kann, sind es keine Veteranen, sondern seine ehemaligen Verfolger, unter ihnen Zwart.

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