Sklaverei

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Aus der Reihe: Reclam Taschenbuch
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Wichtig für eine Globalgeschichte der Sklaverei ist, dass die ›kleinen‹ Sklavereien des ersten Plateaus bis in die Gegenwart reichen und von den reinen Zahlen her gar nicht mehr so klein erscheinen. Es gibt noch heute viele Individuen, vor allem Frauen und Kinder, im Sklavenstatus: Laut einem Bericht der International Labour Organisation (ILO) von 2014 betrifft das weltweit 21 Millionen Menschen (eine konservative Schätzung), drei Viertel davon Frauen und Kinder. Ein ILO-Bericht für die Periode von 2002 bis 2011 hatte Zahlen von 19,5 bis 22,3 Millionen genannt, der Global Slavery Index zählt 45,8 Millionen Menschen als Sklaven – heute, jetzt. In absoluten Zahlen ist das die größte Menge an Versklavten in der Weltgeschichte, bei einer Weltbevölkerung von rund 7,5 Milliarden Menschen dennoch relativ wenig. Was es aber heute wirklich nicht mehr gibt, ich wiederhole das, sind große Wirtschaftskomplexe wie Plantagen- und Bergwerkssklavereien in Gesellschaften, die auf Sklaverei beruhen, also die sogenannten Sklavereigesellschaften. Alle Sklaverei ist heute illegal, aber trotzdem »da«.

Damit ist auch gesagt: Wenn das Thema dieses Buches die Welt- und Globalgeschichte der Sklaverei ist, kann es sich nicht nur um die mehr oder weniger ›bekannten‹ und in legislativen Texten relativ trennscharf definierten Sklavereien der Antike, Roms oder um die Sklaverei im Süden der USA drehen. Von dazu forschenden Historikern höre ich am häufigsten Kritik an meiner allgemeinen Definition von Sklaverei als Verfügung über Körper auf der Basis von realer Gewalt gegen eben diese Körper und Statusminderungen, aber auch an der Definition von Sklaven als Kapital menschlicher Körper. Dabei geht es mir gar nicht um eine unbedarfte Überdehnung des Begriffes Sklaverei. Im Sinne von slaving als historischer Strategie beabsichtige ich, Welt- und Globalgeschichte eben nicht aus der Perspektive von »Freiheit« als normativer Kategorie zu interpretieren. Es geht vielmehr darum, die tiefenhistorischen Prozesse der Versklavung, des Handels mit Menschen nachzuzeichnen und die jeweilige Stellung von Versklavten in der sozialen Ordnung unterschiedlichster Gesellschaften zu bestimmen. Es geht mir auch nicht einfach nur um Arbeit und Verkauf von Menschen, sondern um realgeschichtliche Verfügung über Körper. Eben diese verwischt die Trennschärfe legaler Definitionen.

Mit »weit« ist sowohl der gesamte Globus als auch die zeitliche Tiefe, d. h. von ungefähr 8000 v. Chr. an (oder gar 20 000–18 000 v. Chr.) gemeint. Ich beschränke mich nicht auf Griechenland von etwa 800 v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert, Rom vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis ins 6. Jahrhundert oder den Süden der USA von 1820 bis 1865. Ich nenne diese ›bekannten‹ Sklavereien, die mit relativ klaren Chronologien und Rechtsregeln verbunden waren, die uns noch heute eingängig erscheinen, weil sie auf die eine oder andere Art auch noch unsere Gesellschaften prägen (etwa durch das Eigentumsrecht oder die traditionell akzeptierte Spaltung in arm und reich), »hegemonische Sklavereien«.9 Aus der Perspektive dieser Sklavereien scheint es, als existiere nur »a single archetypal image of slavery«10, wie Andrea Major in ihrem Buch über Sklavereien, Abolitionen und das Empire in Britisch-Indien schreibt. Würde sich eine Menschheitsgeschichte der Sklaverei lediglich auf diese Sklavereien fixieren (wie es die meisten Geschichten der Sklaverei tun), wäre sie eben keine Welt- und Globalgeschichte. Eine Globalgeschichte dieses Zuschnittes muss zumindest den Anspruch erheben, das ganze Rund des Globus und eine große zeitliche Spanne der Weltgeschichte bis heute zu behandeln; eben als eine Art globaler Menschheitsgeschichte. Anders würden die Anfänge nicht in den Blick kommen. Es würde nicht deutlich werden, dass solche ›kleinen‹ Sklavereien informell heute noch existieren. Und räumlich gesehen würden weite Gebiete des Globus (indigene und vorkoloniale Amerikas / Karibik, Afrika, Mittelasien, Indien, China, Japan, Südostasien, Philippinen, Indonesien, Russland/Sibirien, Australien, Kanada, die Gebiete im und am Indischen Ozean sowie die Gebiete im und am Pazifik) im Dunkeln bleiben, nämlich fast die ganze Welt. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass eine solche Geschichte gerade für Historiker, die auf Quellen angewiesen sind, schwierig ist.

Niemand spricht gerne über Sklaverei. Da, wo es heute noch Sklavereien gibt, ist es sogar gefährlich, darüber zu sprechen. Oft wissen die wenigsten, dass Menschen in der Nachbarschaft eigentlich Sklavinnen, d. h. versklavte Menschen, sind. All das ist kompliziert und hängt mit der erwähnten Fokussierung auf die antike Sklaverei in »römischer« Rechtstradition zusammen. Es gab seit der Spätzeit des römischen Reiches im 6. Jahrhundert unter Kaiser Justinian (schon mit dem Zentrum Konstantinopel) eine relativ klare rechtliche Definition des »Sklaven« und der »Sklavin« sowie einer »Sklaverei«, fokussiert auf das Eigentumsrecht, aber auch auf das Zivil-, das Völker- und das Naturrecht sowie gewisse Rechtsrituale. Der Codex Justinianus (später: Corpus Iuris Civilis) war es auch, der zwei Grundtypen von Sklaverei definierte: zum einen »Privatsklaven« in der Rechtsfigur Herr/Sklave, d. h. »ein Herr, ein Sklave«, und zum anderen eine kollektive Sklaverei von Menschen, die an ein bestimmtes Besitzterritorium (gleba) gebunden sind (oder auf Territorien angesiedelt werden). Letztere können nur gemeinsam mit dem Territorium Besitz sein und Eigentumstransaktionen (wie Verkauf, Vererbung, Geschenk oder Tausch) unterworfen werden; das ist die rechtliche Konstruktion des glebae adscriptus (meist übersetzt mit »an die Scholle Gefesselter«) oder des Halbfreien. Der Codex Justinianus benutzte als Bezeichnung für Versklavte noch nicht den Begriff »Sklave«, sondern »römische« Namen wie etwa servus und ancilla oder colonatus – das Wort »Sklave« verdankt der »westliche« Kulturbereich erst der Transkulturation zwischen islamischen, christlichen und osteuropäischen Eliten während expansiver Imperien- und Staatsbildung.

Ganz genau weiß noch niemand, was die »Halbfreien« und an »die Scholle Gefesselten« sein sollen. Sie werden fast immer im Zusammenhang mit Sklavenkategorien debattiert, meist aber von »richtigen« Versklavten differenziert; ich interpretiere den Kolonat und die der Rechtsfigur der glebae adscripti Unterworfenen als Subjekte kollektiver Sklavereiformen, auch in Hinsicht auf andere Räume der Globalgeschichte – siehe regelrechte Sklavensiedlungen im alten Ägypten, bei germanischen Gruppen, deren Bewohner schon Tacitus an colonati erinnerten, oder Russland im zweiten Sklavereiplateau. Der wohl beste Kenner in Deutschland, Klaus-Peter Johne, beschreibt den Kolonat nach dem 3. Jahrhundert als »Alternative zur Wirtschaft mit Sklaven«11. Johne sagt weiter:

»Die Fesselung der Kolonen an den von ihnen bearbeiteten Boden steht am Ende eines langen Weges […]. Durch die Schollenpflichtigkeit der Arbeitskräfte ließen sich die Einnahmen der Grundherren sicherstellen und über diesen Umweg durch regelmäßige Steuereingänge die Staatsfinanzen zumindest in gewissem Umfange sanieren«.12

Zudem ließen sich in Krisenzeiten höherer Mobilität rurale Arbeitskräfte eben besser fixieren. Der Versuch der Stabilisierung eines

»durch Barbareneinfälle und Bürgerkriege zerrütteten Reiches bestand somit auf dem Agrarsektor in einem Arrangement zwischen dem militär-bürokratischen Staatsapparat auf der einen und der Aristokratie der großen Grundeigentümer auf der anderen Seite. Die Lasten dieses Arrangements hatten die kleinbäuerlichen Kolonen zu tragen […]. Die Gesetzessprache hat dafür den im Jahre 342 erstmals belegten Ausdruck colonatus geprägt«.13

Miroslava Mirković sagt, nachdem sie einen ganzen Artikel lang über Kolonen als »Nicht-Sklaven« argumentiert hat: »Es gibt aber Beispiele, die zeigen, daß die abhängigen coloni sich selbst, im Bewußtsein ihrer realen Lage und ökonomischen Abhängigkeit, als Sklaven des Landbesitzers bezeichneten«.14

Die Sklaven, die wir heute innerlich vor uns sehen – junge Männer aus Afrika, die in den Plantagenökonomien Amerikas schufteten –, entsprechen nicht so sehr dem »römischen« Bild der kollektiven Sklaverei, sondern der chromatisierten Rechtsfigur »ein Herr, ein Sklave«. Es hat diese Sklaven gegeben, zweifelsfrei, aber das Bild ist erst zwischen 1550 und 1700 entstanden und hat seine weite Verbreitung durch die europäische Expansion seit um 1650 sowie die Aufklärung und die Abolitionsdiskurse (seit 1770) gefunden.

Die Sklavereien, die westliche Seemächte auf dem Atlantik und in den Amerikas in der Neuzeit zwischen 1440 und 1888 organisierten, konnten auf diese »römische« Tradition der Rechtsdefinition der Sklaverei und des »Privatsklaven« als absolutes Eigentum in beiden Hauptdimensionen (totale Kontrolle und Weggabe/Verkauf an Fremde) zurückgreifen, eben in der Tradition des Corpus Iuris Civilis. Die wichtigsten rechtlichen Aspekte, die eher direkt als indirekt in der Tradition des »römischen Rechts« stehen, sind erstens die »Befugnis«, mit einem Menschen zu machen, was der »Halter« für richtig ansieht (bis hin zur Tötung), und zweitens, einen versklavten Menschen auch an Fremde wegzugeben, d. h., zu verkaufen und zu kaufen (die Rechtspapiere/Notariatsprotokolle sind immer aus Sicht des Verkäufers formuliert), woraus sich drittens die lebenslange Kondition der Versklavung sowie Ortfixierung (Mobilitätsbeschränkung) sowie viertens die Vererbung dieser Kondition in weiblicher Linie (mittels des Mutterrechts nach der Regel »Sklavenbauch gebiert Sklaven«) ergeben.

In vielen anderen Sklavereien gibt es aber diese römische Rechtstradition nicht, vor allem die formale Dimension der Veräußerung des Eigentums (»Weggabe an Fremde«) und die Dimension biologischer Weitergabe des Sklavenstatus (»Sklavenbauch gebiert Sklaven«) fehlen. Stattdessen existieren andere, in Europa weniger geläufige Formen – u. a. das Herausreißen aus einer Herkunftsgruppe, die Weggabe von Kindern der eigenen Gruppe oder auch die Ansiedlung oder Übernahme von bäuerlichen Bevölkerungen in kollektive Sklavereien oder expansive Imperien (Staat) als Arbeitstributsbeschaffer und Sklavenrazzienbetreiber (das Wort razzia/ghazzia: ›Überfall, Raubzug/Versklavung‹, stammt aus dem Arabischen). Das Kriterium der Verfügung über Körper von Menschen ist allemal wichtiger in Bezug auf die Definition individueller Sklavereien à la »ein Herr, ein Sklave«. Es gibt andere Aushandlungssituationen, doch sie sind alle von Gewalt und von kastenartigen Differenzierungen in Gute und Schlechte, Ehrbare und Entehrte, Eroberer und Eroberte oder Eigene und Fremde geprägt.

 

Deshalb kann man in einer Welt- und Globalgeschichte, wie ich sie verstehe, Sklaverei als Realität und Sklave oder Sklavin als Status nicht nur nach römischen Rechtsregeln definieren. Ob überhaupt Rechtsregeln einer Kultur (darauf bezieht sich meist das caveat hinsichtlich des Rechts), eines Staates oder eines Wirtschaftssystems, einer Zivilisation Sklavereien in der Realität ihrer Entwicklungen sowie in weltgeschichtlicher Tiefe und in globaler Breite erfassen und definieren können, lasse ich dahingestellt. Eine kategoriale Trennung ergibt nur Sinn in einem relativ engen zeitlichen und räumlichen Rahmen – Ausgangspunkt ist fast immer die neuzeitliche Plantagensklaverei (weltweit etwa 1500–1950), d. h. eine globale »hegemonische« Sklaverei meist unter Kontrolle von christlichen Europäern und ihren Nachkommen in europäischen Kolonien.

Neben dieser eher strukturellen Definition von Sklaverei gibt es, wie bereits erwähnt, auch eine prozessuale, die von dem jeweils unterstellten historischen ›Sinn‹ der Sklaverei ausgeht. Joseph Millers Begriff slaving beschreibt

»[…] eine Strategie, die Menschen [Versklaver und Sklavenhändler] in historischen Positionen der Marginalität seit jeher mit bedeutenden Konsequenzen für sich und andere um sie herum verfolgt haben, ohne Beachtung der Leiden, die diese Versklavungspraxis den Menschen, die sie versklavten, auferlegte«15.

Dem möchte ich die Verfügbarkeit von Körpern als Voraussetzung dieser Strategie und Hauptcharakteristikum von Sklavereien hinzufügen. Innerhalb dieser langfristigen Perspektivierung ist die kategorische Trennung etwa zwischen Sklaverei, Schuldknechtschaft (debt bondage) und anderen bondage-Formen, wie sie in englischsprachiger Forschung vorgenommen wird, kaum sinnvoll, vom Begriff ganz abgesehen – im Grunde sind damit Abhängigkeiten außerhalb der rechtlichen Scharfzeichnung »Herr und Sklave« im »römischen« Recht gemeint. Zudem geben sie sich bei näherem Hinsehen meist als Übergangsformen zu Sklavereien zu erkennen; da ist das Konzept der Schuldsklaverei (debt-slavery, James Warren16) allemal besser.

Mein eigenes Spezialgebiet umfasst die kubanische Sklaverei und Sklavereien in der Karibik sowie die Atlantic slavery (Sklavereien und Sklavenhandel) auf und am Atlantik. Zwischen 1830 und 1880 war Havanna die Zuckermetropole der Welt und im etwa gleichen Zeitraum auch die Metropole des Menschenschmuggels. Dieser Versuch einer Globalgeschichte steht in der Tradition des kubanischen Intellektuellen José Antonio Saco (1797–1879), der ein Rassist war, ganz ähnlich wie sein Vorläufer Francisco de Arango y Parreño (1765–1837), und sich zudem als Adam Smith der Plantagensklaverei und »guter« Sklavenhalter profilierte (weil er seinen Mitsklavenhaltern empfahl, die Versklavten gut zu behandeln).17 Den weitgespannten analytischen und weltgeschichtlichen Ansatz dieser Autoren nehme ich an; den funktionalen Rassismus verweigere ich, analysiere ihn aber als Hauptform der Statuszuschreibung für Versklavte und ihre Nachkommen. Saco publizierte eine der ersten umfassenden Weltgeschichten der Sklaverei auch außerhalb der »römischen Tradition«. Freilich schrieb Saco seine Geschichte aus ganz anderen Gründen – weil er Rassist war und die Sklaverei erhalten wollte. Ich dagegen tue es, weil ich meine, Sklaverei und Rassismus sollten, nach dem eher diskursiven Hiatus der liberalen Abolitionen, endlich wirklich beendet werden.

Kuba, vor allem die Cuba grande der technologisierten Plantagenwirtschaft im Westen der Insel, war die ›modernste‹ Sklaverei des 19. Jahrhunderts. Deshalb findet sich die globalhistorisch erste Visualisierung einer Sklavereiwirtschaft nach den Regeln der Modernität im Werk eines Akteurs der Sklaverei: Justo Canteros Los Ingenios – aus diesem Buch stammen noch heute fast alle ›authentischen‹ Illustrationen in Büchern über Plantagensklaverei.18

Die erste wirkliche Kulturgeschichte der Sklaven, nicht so sehr der Sklaverei, erwuchs aus reichlich dubiosen kriminalethnologischen Ansätzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Cesare Lombroso). Die erste ›postkoloniale‹ Geschichte einer Gesellschaft wiederum, die ihren welthistorischen Aufstieg Sklavinnen und Sklaven, Menschenhandel und der Sklaverei verdankt, die Ex-Sklaven allerdings mehr oder weniger alle als »Hexer« und Verbrecher verunglimpft, stammt aus der Feder von Fernando Ortiz (1881–1969), dem Schöpfer des heute wieder so wichtigen Konzepts der transculturación (Transkulturation).19

In einer Linie der verborgenen Transkulturation folgte ihm der Literat Miguel Barnet 1966 mit seinem weltweit erfolgreichen Prototypus der Testimonio-Literatur unter dem Titel Biografía de un Cimarrón (dt. Der Cimarrón). Darin spricht ein weißer Autor für einen Ex-Sklaven (span. cimarrón), eine Technik der realhistorischen Transkulturation, die es auch im 19. Jahrhundert schon gegeben hatte. Heute würde man das wahrscheinlich im Postkolonialismus als Mimikry-Subjektivierung bezeichnen.20 Barnets »authentische« Geschichte wurde geschrieben vor dem breiten Hintergrund der Arbeiten von José Luciano Franco, Pedro Deschamps Chapeaux und Juan Pérez de la Riva.21 Sie bezieht sich aber auch auf die wichtigste Struktur- und Sozialgeschichte einer konkreten Sklavereigesellschaft El Ingenio22 (im Grunde wird darin nur die Entstehung um 1790 bis etwa 1860 behandelt), deren erster Band 1964 von Manuel Moreno Fraginals (1920–2001) publiziert worden war. Moreno Fraginals gehörte einer der Schulen kubanischer Sklavereiforschung an, die im Unterschied zu Fernando Ortiz auf Strukturen und Demografie setzte. Diese Historiografie war vor allem verbunden mit dem Namen Ramiro Guerra y Sánchez, der auch das englisch-karibische und französisch-karibische Konzept der Sugar Revolution einbrachte. Sein Schüler war Raúl Cepero Bonilla; in gewisser Weise gehören auch die Sklavereihistoriografie sowie Wirtschaftsgeschichte Puerto Ricos und der Dominikanischen Republik dazu.23 Die ›große‹ Sklaverei hat längst auch eine substanzielle Sklavereigeschichtsschreibung hervorgebracht, die ›kleinen‹ Sklavereien hingegen nicht.


Weltsklavenhandel 1500–1900

Sollte nach Lektüre des vorliegenden Buches der Eindruck entstehen, es gebe »überall Sklaverei«, obwohl uns bisher immer erzählt wurde, mit »der« Abolition der Sklaverei sei alles in grauen Vorzeiten vorbei gewesen, so ist er nicht ganz falsch. Es war nicht »überall Sklaverei«, aber es gab viel mehr und viel länger unterschiedlichste Sklavereien, als wir glauben. Sklaverei ist Teil der Menschheitsgeschichte, und dies ist ein Buch, das sich auf Versklavte und Sklaverei konzentriert. Es zeigt, dass es viel mehr Versklavte gab, als wir uns möglicherweise vorstellen können oder wollen – und es gibt sie vor allem heute noch. Versklavte sind bis auf einige heutige Formen von »moderner« Sklaverei vor allem im »Westen« auch in der Weltgeschichte meist und klar ersichtlich von jedem und jeder erkennbar gewesen. Ein von Aristoteles inspirierter römischer Sklavenbesitzer würde bei einem Besuch (per Zeitmaschine natürlich) eines durchschnittlichen »westlichen« Gebiets wahrscheinlich uns alle für Sklaven halten – weil wir alle oder zumindest die übergroße Mehrheit für andere Menschen arbeiten.

Definitionen

»Es ist gefährlich, das Wort Sklaverei zu benutzen.«24

Eine Definition von Sklaverei als Institution für die gesamte Welt- und Globalgeschichte ist schwierig. Ich will es trotzdem versuchen, obwohl ich kein großer Freund von Definitionen bin.25 Angesichts der Ubiquität von Sklavereien kann, wie gesagt, dieser niedere und rechtlose Status nicht an irgendeine klar abgrenzbare soziale Großformation gebunden werden, noch kann Sklaverei nur als Rechtsform definiert werden. Es geht nur anthropologisch-historisch.

Sklaverei war und ist in der gesamten Weltgeschichte ubiquitär: es gab sie überall und fast immer in alltäglichen Situationen. Die anthropologische Universalie besteht in der Herauslösung von Menschen aus ihrer sozialen Umgebung (also ihrer wie auch immer definierten und kulturell kodierten Gemeinschaft, etwa: Clan, Dorf, Stamm, Gruppe, Familie) und der auch durch Hunger oder Strukturen erzwungenen Unterordnung in niedrigem Status oder »ohne Status« in einer anderen Gemeinschaft. Je weiter die Entfernung zwischen beiden sozialen Umgebungen (Gemeinschaften) ist, desto mehr kommen Fremdheit und »Anderssein« sowie extreme Abhängigkeit ins Spiel.

Wir können mit diesen Definitionslinien auch slaving erfassen, das in Zeiten der Atlantic slavery nicht auf »römischem« Recht der Konstruktion eines ›privaten‹ Herr-Sklave-Verhältnisses beruhte. Und wir können mit dieser anthropologisch-historischen Definition weit in die Geschichte zurückgreifen (bis zum Neolithikum). Diese Dimensionen ermöglichen den Verweis auf innere und äußere Statusminderungen, die sich im Laufe der Weltgeschichte der Sklavereien herausgebildet haben und die vor allem seit Beginn der Globalgeschichte im 16. Jahrhundert ideologische Ausgangspunkte neuer Sklavereien sein konnten, am deutlichsten wohl im fünften Plateau der großen Lagersklavereien. Wir können so auch globale Dimensionen der Sklaverei außerhalb der atlantischen Chronologie und Hemisphäre erfassen (etwa: Russland, China, Indien, Südostasien, Indischer und Pazifischer Ozean), und wir können darüber hinaus heutige Sklavereien beschreiben.

Das Problem meiner weiten Definition von Versklavten und Sklaverei ist: Wie weit reichen die Kriterien, die es uns erlauben, von Versklavten zu sprechen? Lässt sich eine global existierende prozessuale Institution der Gewalt mit jeweils lokalen, regionalen und überregionalen Wurzeln und Ausprägungen annehmen, deren Kern in der bereits mehrfach erwähnten Verfügung über Körper besteht? Die Antwort ist im Allgemeinen einfach, aber sie ist, historisch wie auch heute, in den konkreten Ebenen der Realität von lokalen Versklavungen und bewussten Marginalisierungen schwer zu geben. Ich werde im Laufe des Textes immer wieder auf die realen Probleme von Status und Statuszuschreibungen zurückkommen.

Menschen in Sklavereiarbeit, Menschen in Gewaltsituationen, Menschen, deren Körper von anderen benutzt werden, Menschen, die aus ihren Familien herausgerissen sind, finden sich meist (außer z. B. bestimmte hochrangige Opfer- und Elitesklaven) in den lokalen oder regionalen Sozialordnungen und in Texten über bestimmte Gesellschaften an Stellen, an denen Unterschichten (Arbeitende) und Arbeitssysteme beschrieben werden. Alle Sozialordnungen sind auch Körper- und Raumordnungen. Körperordnungen werden in sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten eher selten thematisiert, zumal über diese niedrigen Sozialkategorien wenig gesprochen und schon gar nicht geschrieben wurde. Zudem erhoben Menschen aus diesen oft sehr großen Gruppen von Versklavten selbst kaum ihre Stimme (im Sinne von selbst verfassten Dokumenten über ihre Situation). Besonders deutlich wird das Nichtsprechen über Sklaverei bzw. das Zur-Seite-Drängen des eigentlich Offensichtlichen unter dem Druck von Zivilisations-, Nations- und Modernisierungsdiskursen des 19. Jahrhunderts, wie sie etwa mit der großen Erzählung der britischen Abolition verbunden sind.

Es ist auch ein Problem der Perspektive. Vorliegendes Buch ist eines über Versklavte und Sklavereien und eben keines über Freiheit oder Menschenrechte bzw. nur über die »Freiheit« (Abolition, Emanzipation) und Rechte von Versklavten. Also konzentriere ich mich weniger auf Menschen, die »frei« waren (rechtlich) oder real mehr »Freiheiten« genossen als die in der jeweiligen Gesellschaft Versklavten. Den potenziell Versklavbaren (meist Fremde, Bauern oder städtische Unterschichten, Frauen und Kinder, bestimmte Kasten) war die Unterscheidbarkeit von den jeweiligen Sklavengruppen, auch den kollektiv Versklavten, wie leibeigenen Bauern, ein Anliegen, für das viele auch in den Tod gingen, wie viele Aufstände zeigen – siehe etwa die großen Bauernrebellionen im russischen oder im chinesischen Reich.

 

Der Kern meiner Definition von Sklaverei besteht darin, dass der Körper eines Menschen, Mann, Frau oder Kind, durch Institutionen geschützt und berechtigt, unter Kontrolle eines Halters (deshalb Sklavenhalter) steht, der ihn mit Gewalt seiner Mobilität und Entscheidungsfreiheit beraubt und ihm Leistungen des Körpers (Arbeit/Produktion, Energie, Dienstleistungen, Sex, Reproduktion, Schutz), Teile des Körpers (Eunuchen) oder gar das Leben selbst (Opfersklaven, Sklavensoldaten, Opferungen in Totenfolge oder zur Prävention von Rebellionen) abverlangt. Damit sind diese Körper zugleich Kapital. »Sklavenhalter« können auch Frauen, Gruppen von Menschen, Korporationen oder Institutionen (Herrscherhäuser, Paläste, Tempel, Armeen, Aktiengesellschaften, der Staat) sein. Zu einer Definition gehören Ursachen. In der Globalgeschichte gibt es vier Hauptgründe der Sklaverei: Selbstversklavung/Weggabe (oft im Zusammenhang mit Schulden oder Hunger), Krieg, Handel und Geburt als Versklavte oder Versklavter.

Das ist noch keine rechtliche Definition, es sei denn, man bezieht die legale Gewalt (»Befugnisse« des Halters aufgrund eines Besitz- und Eigentumsrechts) mit ein. Ich will mich auf die Lebenssituationen von Versklavten konzentrieren, die immerhin die größte Gruppe innerhalb des oben genannten Sklavereikomplexes (Versklavte, Sklavenhalter, Sklavenhändler usw.) bilden und kaum adäquat in der Geschichtsschreibung behandelt werden – meist wird unter dem Thema »Sklaverei« die Institution behandelt und nicht das Leben und die Subjektivität der Versklavten.26 Die rechtliche Dimension bleibt erst einmal außen vor, weil sonst immer gleich das »römische« Recht oder auch die legalistische Tradition Chinas in den Vordergrund drängen. Es geht mir zunächst um Gewalt, und zwar weniger nach dem Motto »na, Prügel haben wir ja alle bekommen« (was selbst im heutigen Deutschland für fast alle über Fünfzigjährigen noch gilt).

Vielmehr interessiert mich die wirklich die Oberfläche eines individuellen Körpers markierende oder verstümmelnde Gewalt, die die Lebenssituation, Lebensweise und das Leben individueller Versklavter komplett durchdringt und überformt. Selbst die andauernde Androhung solcher Gewalt wirkt lebensverändernd. Diese Dauereinwirkung von Gewalt, monotoner Arbeit (die die Körper von Menschen stark beeinflussen kann), Angst vor Gewalt (oder vor intensiverer Gewalt), zum großen Teil auch sexualisierter Gewalt, Repression, Stress und andere Faktoren (Überarbeitung, schlechte Ernährung, Krankheiten) wirkt sich bis auf die Körperhaltung, die Gesundheit und die Knochen aus. Oft sind Mutilationen, wie etwa Brandzeichen (carimbos) oder Tätowierungen im Gesicht oder auf den Schultern, das rituelle Zeichen, der »Ausweis« von Sklaven. Sie sind allerdings schon kurz nach dem Tod der entsprechenden Person nicht mehr nachweisbar (d. h. archäologisch nur selten fassbar).

Gewalt ist grundlegend als »einseitige Macht, Drohung, Gewalt«27 zu verstehen: erstens als direkter Zwang auf individuelle Körper, meist durch profane Prügel mit Peitschen oder Stöcken. Sie ist in gewissem Sinne »messbar« an den Verletzungen oder Mutilationen einzelner Körper oder Körperteile, etwa der Haut des Rückens, Verletzungen, um Flucht zu verhindern (Blendung, Füße abhacken, Fußsehnen durchtrennen), Verstümmelung von Ohr(en) oder Nase sowie durch entwürdigende Tätowierungen im Gesicht und Brandzeichen (carimbo). Zweitens ist die strukturelle Gewalt der Sklaverei als Institution sowie ihrer Infrastrukturen zu nennen, legitimiert und oft legalisiert durch »den Staat« oder staatenähnliche Gebilde (coercion). Das ist das Hauptelement von weiträumigem Sklavenhandel, Sklaverei und Sklavenstatus (z. B. in der Atlantic slavery). Eine dritte Form von Gewalt ist nicht so direkt, aber umfassender und möglicherweise die historische Ursache aller Sklavereien (vor allem in quantitativer Hinsicht und weil sie bis tief in die Prähistorie reicht). Kurz gesagt ist es die Angst vor dem Tod, speziell vor dem Verhungern. Ordnen sich Menschen dieser Gewalt unter, hat sie folglich auch eine Schutzfunktion – sie verspricht etwas mehr Sicherheit vor Tod, Hunger oder zusätzlicher Gewalt. Viertens muss noch der Gewaltpegel von Gesellschaften und Kulturen in die Analyse einbezogen werden.

Was den Gewaltpegel angeht, scheint das periphere lateinische Europa von 500 bis 1500 sich durchaus hervorgetan zu haben mit der »Völkerwanderung« sowie den Expansionen der Franken, Slawen, Ungarn, Wikinger/Normannen usw., aber auch mit dem Widerstand kleinerer vom Raub lebender Stämme oder Völker gegen imperiale Expansionen, den unendlichen Fehden, dem Fehlen eines dämpfenden Zentralismus, den Razzien, Kriegen, Religionskonflikten, Belagerungen und Rebellionen. Dieser hohe Gewaltpegel verbreitete sich durch die atlantische Expansion weltweit. In der politischen und demografischen Zerstörung eigenständiger Imperien und Gesellschaften in der Neuen Welt scheint die alles durchdringende Gewalt einen neuen globalen Höhepunkt gefunden zu haben. Der zweite Gewaltexzess unter Beteiligung an sich schon gewaltbereiter und -gewöhnter Europäer galt verschleppten Menschen vor allem aus Afrika. Am Anfang betraf das einfach nur cativos – Kriegsgefangene. Der massive und systematische Terror auf dem Atlantik und – seit der Expansion der Portugiesen im 15./16. Jahrhundert auch auf und am Indischen Ozean sowie darüber hinaus in den Pazifik hinein – gegen große Gruppen »anderer« Menschen hatte wiederum Auswirkungen auf die Gewaltintensität der Geschichte Europas.

Parallel zu dieser Gewaltgeschichte verläuft die Geschichte der Individualisierung des »Selbst«, der Klassenbildungen und der Globalisierung der europäischen Konsumtion (sowie anderer Weltteile – siehe das Vordringen amerikanischer Nutzpflanzen nach China und Indien) –, was wiederum aufs engste mit dem Nutzen außereuropäischer Massensklavereien zur Produktion von Luxus zu tun hat. In einigen Imperien, deren Kultur in einer Religion wurzelte und sich auf eine legale Tradition (wie die des »römischen« Rechts) berief, kam es auch zu Kodifizierungen der Sklavenhaltung (wie den Leyes de Indias im spanischen Imperium). Die »legale« Erlaubnis, Gewalt auszuüben (»Befugnis«), ist eine wesentliche und in Texten regulierte Dimension von Gewalt und als solche nur graduell unterschieden von anderen Formen der Sklaverei wie modern slavery, serfdom, debt bondage, indentured service, serviciais und convict labour (penal servitude).28 Sklaverei nach »römischem« Recht ist aber durch die Verschriftlichung sowie Fassung in Gesetzen besser nachweisbar.29

Die eher anthropologische Dimension der Verfügung über den Körper, die sehr wohl für individuelle Versklavte und für einzelne Gruppen weltweit empirisch erforscht werden kann, spielt dagegen kaum eine Rolle. Dahinter steht selbstverständlich auch die methodische Schwierigkeit, dass in vielen Gesellschaften mit Nah- und Schuldsklavereien (wie Asien und Afrika) Versklavte, vor allem Kinder- und Haussklavinnen (speziell Mädchen) so ubiquitär wie unsichtbar waren – da sie im Haus (Gebäude, Wohneinheit, Tempel) verborgen blieben. Andere Sklaven, vor allem in kollektiven Sklavereien im 19. und 20. Jahrhundert, wurden und werden in Lagern vor der Öffentlichkeit verborgen. Seit Sozialgeschichte etwas aus der Mode gekommen ist, spielt auch die Analyse von Sozialordnungen mit ihren jeweiligen Körperordnungen sowie Verräumlichungen keine große Rolle mehr. Im Marxismus hieß das Ganze noch Klassenanalyse – auch wenn Versklavte kaum jemals eine Klasse bildeten und Karl Marx Schwierigkeiten mit Sklaven und Sklavinnen hatte.30