Bisschen Pech gehabt

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Bisschen Pech gehabt
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Michael Wiechmann

BISSCHEN PECH GEHABT

Krimi

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen und

Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten

mit lebenden Personen oder Ereignissen sind rein

zufällig.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Die kurze Zeit hatte gereicht, um sein Leben zu verändern. Als Henry vor fünf Jahren auf den Bauernhof gegangen war, wollte er doch nur wissen, was sich unter dieser geheimnisvollen Klappe befand. Der tote Bankräuber, der dort auf dem Fußboden lag, versetzte ihn in Schrecken. Trotzdem hielt es ihn nicht davon ab, nach dem zu suchen, weshalb er überhaupt hierhergekommen war. Die Beute des Bankraubes. Zwei Bankräuber überfielen vor fünf Jahren eine Bank in Hildesheim. Einer der Täter wurde, wie schon erwähnt, erschlagen im Keller des verlassenen Bauernhofes gefunden. Der andere wurde wenig später festgenommen. Es wurden hunderttausend Euro erbeutet, aber nur fünfzigtausend davon gefunden. Diese hatte die Polizei bei der Frau sichergestellt, die den Räuber im Keller erschlagen hatte.

Niemand hatte Henry aus dem Haus kommen sehen, deshalb wiegte er sich in Sicherheit.

Ein Gangster war er nicht, aber er tat etwas Unrechtes, wenn es auch nur Diebstahl war. Das Geld gehörte der Bank. Er hätte es zurückgeben müssen. Zehn Prozent Finderlohn wären vielleicht drin gewesen. Doch darüber dachte Henry überhaupt nicht nach. Er sah fünfzigtausend Euro vor sich. So viel Geld auf einem Haufen hatte er noch nie gesehen. Er nahm es mit. Doch nun fingen die Probleme erst an.

Wohin mit dem Geld?

Normalerweise deponiert jeder sein Geld auf einem Konto einer x-beliebigen Bank. Das wäre in diesem Fall das coolste, doch es würde wahrscheinlich nicht lange dauern, bis Henry Besuch von der Polizei bekäme. Er musste sich ein gutes Versteck suchen. Ein sicheres Versteck, eines das niemand kannte, und eines, das auch vor Nässe und vor anderen Witterungseinflüssen geschützt war. Er durfte dabei nicht gesehen werden. Und es durfte niemand davon wissen.

Irgendwann wollte Henry das Geld wieder aus dem Versteck herausholen.

Jeder Mensch träumt von Dingen, die er gerne haben möchte, sich aber nicht leisten kann, weil das nötige Kleingeld fehlt. Auch Henry hatte eine Vorstellung, was er mit dem Geld machen würde. Dennoch sollte noch ein wenig Zeit vergehen, bevor dieser Tag kam. So war sein Plan.

In einer Zelle im Hildesheimer Gefängnis saß Bruno Dammann, der zweite von den Bankräubern, seine Haftstrafe ab. Lange hatte er nicht mehr zu sitzen. Ein paar Wochen, ein paar Tage? Er wartete schon lange darauf, dass die dicke Tür aufgeschlossen wurde. Dann hoffte er, standen die Aufseher vor der Tür, um ihn abzuholen. Ihm seine privaten Sachen aushändigten, und er dann endlich wieder die Freiheit genießen konnte. Das Geräusch des schweren Schlosses kannte er genau. Zu oft drang es in seine Ohren. Jeden Morgen und jeden Abend. Ab jetzt wurde es lästig. Er lief in seiner Zelle auf und ab. Schon ein paar Tage ging das so. Je näher der Zeitpunkt der Entlassung rückte, desto öfter tat er es. Immer hin und her. Vielleicht zehn Schritte, dann die Wende und zehn in die andere Richtung. In der Zelle befand sich eine kleine Nasszelle, in der ausreichend Platz für die Pflege seines Körpers war. Radio, Fernseher, einen Schreibtisch, der unter dem Fenster stand, mit Blick auf die Gitterstreben. Neben dem Fenster ein Doppelbett, aber nicht nebeneinander, sondern übereinander. Er kannte inzwischen jeden Winkel, jeden Fleck an den Wänden, die Weiß gestrichen und mit Bildern bestückt waren. Bruno kannte alles in- und auswendig.

Er musste sich eingestehen, dass er kein großer Gangster war. Bei dem Bankraub, vor etwas mehr als fünf Jahren, hatten er und sein Kumpel Olaf Matuschke sich ein bisschen blöd angestellt. Herausgekommen war dabei nichts. Sein Kumpel Olaf lebte nicht mehr und er selbst saß hier in der Gefängniszelle. Das peinlichste war aber, dass sie das Geld nicht mehr besaßen. Eine Hälfte fehlte, sie war wie vom Erdboden verschwunden. Die andere Hälfte wurde damals von der Polizei sichergestellt.

Henry wohnte nun schon seit vielen Jahren in Schliekum, einem kleinen Dorf im Landkreis Hildesheim. Ein friedliches Dorf, gemischt aus alten Bauernhöfen und schicken Neubauten. Feuerwehr, Fußballverein und auch Kaninchenzüchter sind hier zu Hause. Es hatte sich im Laufe der letzten Jahre verändert. Der verlassene Bauernhof, auf dem vor einigen Jahren Olaf Matuschke gefunden wurde, existiert so nicht mehr. Nachdem der Bankräuber tot im Keller aufgefunden wurde, passierte auf dem Hof nichts mehr. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er endlich von der Kripo freigegeben wurde. Schließlich fand sich dann doch ein Käufer. Er ließ das alte Wohnhaus abreißen, und baute dort ein schickes neues Holzhaus.

Henry konnte sich noch gut daran erinnern. Als er mit weichen Knien vor dem Toten stand, der vor ihm auf dem Fußboden lag. Er suchte flugs nach der Tasche, in der vermutlich das Geld war und verschwand mit ihr aus dem Haus. In aller Eile hatte er das nächst beste Versteck gesucht und sie unter der Leinebrücke zwischen den Stützbalken eingeklemmt. Vorher hatte er ein paar Minuten Zeit. In totaler Anspannung und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, fand eine seiner Hände den Reißverschluss der Tasche. Langsam öffnete er diese einen kleinen Spalt. Mit zwei Fingern spreizte er die Tasche soweit auf, dass es gerade ausreichte, um mit einem Auge einen Blick hineinzuwerfen. Tatsächlich sah Henry ein paar Geldscheine. Schnell verschloss er die Tasche wieder und verstaute sie wie geplant. Später hatte er dann ein besseres Versteck im naheliegenden Naturschutz-Gebiet gefunden.

Wo es vermutlich heute noch liegt.

In letzter Zeit war Henry mit seiner Freundin Kathrin immer öfter am Versteck vorbeigegangen. Jedes Mal wollte er ihr erzählen, was damals geschehen war. Jedoch fehlte ihm immer der Mut. Sie wusste, wie sich die Geschichte vor fünf Jahren abgespielt hatte. Es wurde in der Zeitung ganz groß darüber berichtet, jedoch stand dort nichts vom fehlenden Geld. In den ganzen Jahren hatte er ihr nie davon erzählt, dass er das Geld beiseite geschafft hatte. Doch nun musste es sein, denn er brauchte ihre Hilfe.

Am liebsten würde Henry alles wieder rückgängig machen, die Zeit zurückdrehen, aber das ging ja nun nicht mehr. Es werden Zeiten auf ihn zukommen, die er so nicht erleben wollte. Henry war stets bemüht, immer korrekt zu sein. Er versuchte nie zu lügen und immer gerecht zu Handeln. Doch in der heutigen Zeit waren die wenigsten Menschen ehrlich und korrekt. Somit hatte auch er angefangen sich anzupassen. In den Medien stand jeden Tag etwas über Korruption, oder über Menschen, die ihr Sparkonto im Ausland haben, um Steuern zu sparen. Auch bei dem Bau von großen Flughäfen lief nicht alles nach Plan.

Das Geld würde er schon irgendwie verteilen oder es für andere Zwecke einsetzen. Allerdings war er sich fast sicher, dass sich auch noch andere Leute dafür interessieren werden. Bisher hatte er keine Probleme damit, jedoch stand in der nächsten Zeit die Entlassung von Bruno Dammann an, und davor hatte Henry Angst.

Bruno Dammann, Sohn eines Bauern aus dem Dorf, war ein kleiner Ganove, der schon in der Kindheit ein schlechtes Benehmen hatte, welches sich im weiteren Verlauf seines Lebens nicht viel änderte. Er hatte kaum Freunde, außer seinen Kumpel Olaf Matuschke. Nun musste er sich neue Freunde suchen. Fünf Jahre hinter Gittern, das war eine lange Zeit. Hier fand er seines Gleichen und auch andere Freunde. Zellengenosse Beppo Hansmann war einer, der eventuell in Frage kam.

In den vielen Tagen und Nächten der Einsamkeit hatten sie sich viel zu erzählen. Ohne ihn hatte es Bruno schwer, denn Beppo kannte sich aus. Er wusste wie man sich in einer Haftanstalt verhalten muss. Nicht immer wurde zärtlich miteinander umgegangen. Es gab genügend Probleme mit den Mitgefangenen. Sei es bei der Beschaffung von Dingen des täglichen Gebrauchs, wie Kaffee, Zigaretten und Seife, oder auch welche zum Stimulieren der Sinne. Jeder in der Kette wollte dabei einen kleinen Gewinn erwirtschaften. Oft gab es deswegen Streitigkeiten, die manchmal mit einer Beule oder Platzwunde am Kopf endeten. Besonders gefährlich war der Duschraum, denn hier kann jeder mal schnell auf der Seife ausrutschen und sich dabei eine Verletzung zuziehen.

Jedenfalls war es gut, dass Beppo einer von den Häftlingen war, der in der Hierarchie weiter oben stand. Beppo Hansmann saß schon ein paar Jahre länger hier drin. Zu zehn Jahren wurde er damals verknackt. Erzählt hatte er nie etwas darüber. Immer wenn Bruno danach fragte, druckste er nur rum. Man hat ihn reingelegt, oder er war zu Unrecht hier drin. Anderen Mithäftlingen berichtete er von einer Schlägerei, bei der jemand zu Tode gekommen war. Unglücklicherweise hielt er sich gerade in der Nähe auf, deshalb wurde er verhaftet und später verurteilt. Die Indizien sprachen gegen ihn. Das Gericht glaubte nicht, dass er unschuldig war.

In den gemeinsamen und einsamen Monaten in der Zelle, kamen sich die beiden natürlich immer ein bisschen näher. Bei den abendlichen Bettgeschichten merkte man sofort, dass Beppo Hansmann sehr intelligent war. Geschickt versuchte er Bruno Dammann zu beherrschen, ihn zu lenken, indem er ihm Honig ums Maul schmierte. Ihm Geschichten aus der Zeit erzählte, bevor er in das Gefängnis kam. Wie er seine krummen Dinger, Beppo nannte es Geschäfte, so durchzog, dass er nie erwischt wurde. Bis auf einmal, weswegen er nun hier einsaß. Nach jedem Satz wuchs seine Brust um zehn Zentimeter und Brunos Augen wurden immer größer. Das alles hatte nur einen Zweck. Bruno sollte Vertrauen schöpfen und ausplaudern, wo er das Geld aus dem Bankraub versteckt hat.

 

Ob in den Zellentrakten, oder bei den Mahlzeiten in der Kantine, ständig fühlte sich Bruno beobachtet. Oft vermutete er, dass die anderen über ihn sprachen. Die Mithäftlinge wussten natürlich von dem verschwundenen Geld. Es bestand größtes Interesse an der Aufklärung des Falles. Deshalb kam es immer mal vor, dass Bruno sich plötzlich in Gegenwart von mehreren Ganoven befand. Vielleicht wollten sie nichts von ihm, aber schon die Art und Weise, wie sie mit ihm redeten, machte Bruno Angst. Er konnte nicht einschätzen, ob diese Brüder in einer sehr arroganten Art mit ihm plauderten oder die Absicht hatten, ihn zu verarschen.

Doch eines Tages kam es zu einer Begegnung, die Bruno Dammann nicht so schnell vergessen sollte. Der Bulle aus Zelle 3 war kein verdeckter Ermittler und auch kein Rindvieh, sondern ein mit Muskeln bepackter Häftling, der diesen Spitznamen zu Recht trug. Auch er und seine Gang hatten Interesse an dem Geld. Es waren zwar nur ein paar Piepen, aber auch die konnte er gebrauchen, wenn es ein Leichtes war, sie beschaffen zu können. Der Bulle hatte großen Einfluss in der Räuberszene. Auch außerhalb des Gefängnisses pflegte er seine Freundschaft mit Menschen seiner Art, die ihm ständig angenehme Dinge zukommen ließen. Es gab überhaupt kein Problem, diese durch die Gefängnisschleuse zu schicken. Die Ideen, dass die Ware auch an die richtige Adresse kam, hatte nie an Einfallsreichtum verloren.

Die Zeit drängte, denn Bruno Dammann sollte bald entlassen werden. So kam es bei einem der täglichen Hofgänge zu der Begegnung mit diesem Bullen.

Es gab natürlich auch Häftlinge, denen Bruno vertraute. Irgendwie passt auf jeden Topf ein Deckel, somit fand er im Laufe der Zeit Freunde, oder besser Kumpels, mit denen er ganz gut klar kam. Diese standen um ihn herum und hörten ihm zu. Bruno erzählte von seinem Leben nach dem Knast, was er vorhatte und so.

In einer ganz anderen Ecke bekamen ein paar Männer Anordnungen, wie sie vorgehen sollten. Ihr Ziel war Bruno Dammann. Vier Gestalten, mit denen man nicht unbedingt Ärger haben möchte, bewegten sich in die Richtung, in der Bruno und seine Kumpels standen. Wie ein Rudel Wölfe kreisten sie die Truppe ein. Diese bemerkte es zunächst nicht. Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Die Schlinge zog sich zu. Die Gruppe um Bruno hatte bemerkt was nun geschah. Mit deutlichen Gesten machten die vier Handlanger vom Bullen klar, dass sie verschwinden sollten. Außer Bruno, der stand nun völlig hilflos und allein dort. Im selben Augenblick standen auch schon die vier Gestalten vom Bullen um ihn herum. Sie schauten sich um, ob ein Aufseher in der Nähe war und gaben ihrem Chef ein Zeichen. Der Platz auf dem Gelände konnte von den Wärtern nicht sofort eingesehen werden, deshalb ließen sich die fünf Ganoven Zeit mit Bruno Dammann. Der stand nun in ihrer Mitte, von allen umkreist. Gezielt stellte ihm der Bulle ein paar Fragen nach dem Geld aus dem Bankraub. Nicht weit entfernt davon befand sich Brunos Zellenkumpel Beppo, der hatte sich gerade von einem Mithäftling ein Päckchen Tabak gekauft. Als er in Brunos Richtung starrte, fiel ihm auf, dass dort etwas nicht in Ordnung war. Diese fünf Männer gehörten nicht zu Brunos engstem Bekanntenkreis. Zunächst beobachtete er nur, dass es ein Gespräch zwischen ihnen gab, doch auf einmal griff einer der Ganoven in seine Hosentasche und zog etwas heraus. Die Sonnenstrahlen reflektierten es ihm direkt in sein Gesicht. Ein Blitzgedanke schoss durch seinen Kopf. Wie aus der Pistole geschossen, rannte er hinüber in das Getümmel. Mit lautem Geschrei, in der Hoffnung die Aufmerksamkeit der Aufseher zu bekommen, lief er in sein Verderben. Im gleichen Augenblick drehte sich der Mann mit dem Messer um, Beppo Hansmann verspürte einen Schmerz im Bauch, und fiel in die Arme seines Gegners. Sein schmerzverzerrtes Gesicht und die weit geöffneten Augen deuteten auf nichts Gutes hin. Jetzt bemerkte auch der Messermann, was ihm gerade passiert war. Er hatte das selbst angefertigte Utensil unbeabsichtigt in den Unterleib von Beppo Hansmann gerammt.

Er ließ ihn zu Boden gleiten und stand nun mit fassungslosem Gesicht vor ihm. Die Klinge steckte noch im Bauch. Ganz allmählich zeichnete sich auf dem Hemd ein roter Fleck ab, der von Minute zu Minute größer wurde. Inzwischen lag Beppo Hansmann auf dem Rücken und betrachtete den Knauf der in seinem Bauch steckte. Die anderen drei Handlanger waren schon längst über alle Berge. Als sie mitbekamen, dass die Aktion aus dem Ruder gelaufen war, verteilten sie sich auf dem Hof. Nur der Bulle stand noch da. Den Blick nach unten gerichtet und gestikulierend, versuchte er Beppo Hansmann klar zu machen, das er nicht das Ziel war. Endlich waren auch die Aufseher vor Ort und starrten auf den vor ihnen liegenden Mann. Danach schauten sie fragend den Bullen an, der sich nach kurzem Augenkontakt aus dem Staub machte.

Bruno stand ebenfalls noch da. Seine Füße waren wie versteinert, fest mit dem Erdboden verbunden. Weglaufen war überhaupt nicht möglich. Erst jetzt wurde ihm klar, wer dort auf dem Boden lag. In dem Gemenge hatte er überhaupt nicht mitbekommen, was gerade passiert war. Sein Zellenkumpel wollte ihm in der Not helfen und kam fast selber dabei um. Aber noch lebte Benno Hansmann. Ihre Blicke trafen sich als Bruno zu ihm herab sah. Den Daumen nach oben gerichtet, zeigte Beppo ihm an, dass vorerst alles okay war. Die Zeit war unendlich, bis der Krankenwagen eintraf. Die Wärter hatten Bruno inzwischen in seine Zelle gebracht. Er starrte zwischen den Gitterstreben hindurch aus dem Fenster, solange bis Benno abtransportiert wurde. Danach lag Bruno auf seinem Bett und grübelte über das gerade Geschehene nach. Er kam zu dem Entschluss, dass er sich nicht in der Nähe von dem Bullen oder seinen Leuten aufhalten sollte. Es würde eine schwierige Zeit werden, aber es sollte dennoch möglich sein, unbeschädigt davonzukommen.

In den zehn Jahren, die Henry nun schon mit seiner Freundin Kathrin zusammenlebte, hatte sich nichts verändert. Jedenfalls wohnte immer noch jeder in seinem eigenen Reich. Kathrin wurde jedes Wochenende von Henry abgeholt und sie verbrachten es dann in Schliekum. Sie selber wohnte in Sarstedt, aber freute sich auf jeden Freitagabend, wenn Henry sie abholte, um in das idyllische Dorf, sozusagen ‚in die Natur‘ zu fahren. Denn die gab es wirklich zu genüge um das kleine Dorf herum.

Vor dem Haus, in dem Henry zur Miete wohnte, schlängelte sich die „Leine“ entlang. 281 Kilometer lang ist dieser durchaus herrliche Fluss. Von der Quelle in Leinefelde im Harz bis zur Mündung in die Aller. Von dort in die Weser und schließlich in die Nordsee.

Nun standen die beiden auf der alten Holzbrücke, die vor Jahren noch den Autoverkehr zwischen Schliekum und Sarstedt ermöglichte. Inzwischen ist sie nur noch für Radfahrer und Fußgänger freigegeben. Das freute nicht jeden, aber es war in der ‚Tiefen Straße‘ viel ruhiger geworden. Deswegen konnte Henry damals vor fünf Jahren auch für kurze Zeit das Geld aus dem Bankraub unter der Brücke verstecken.

Henry hatte sich vorgenommen, dass heute der Tag sein sollte, an dem er es Kathrin erzählen wollte. Der Ort hier auf der Brücke schien perfekt. Es konnte kein besserer Anfang sein. Aber er hatte Angst vor ihrer Reaktion. Vielleicht ging deswegen ihre Beziehung in die Brüche. Vielleicht hatte sie auch schon längst geahnt, dass er das Geld aus dem Bankraub beiseite geschafft hatte. Es war immer ihre Art abzuwarten. Schon oft war es so gewesen, dass sie Lunte gerochen hatte, wenn Henry ihr etwas von seinen Unternehmungen berichtete.

Deshalb war es nun für ihn schwierig, den richtigen Beginn seiner Story zu finden. Eigentlich war Henry nicht so zurückhaltend gegenüber anderen Menschen. Oft quatschte er dazwischen, manchmal auch unpassend, was ihn dann immer in Schwierigkeiten brachte. Wenn es aber ein Thema war, bei dem er mitreden konnte, sagte er ohne großes Palaver, immer direkt seine Meinung. Meistens führte es dazu, dass das Gespräch dann sofort beendet wurde. Manchmal wurde er auch nur komisch angeschaut. So war er eben, der Henry.

Aber jetzt stand mehr auf dem Spiel, deshalb musste er mit Samthandschuhen arbeiten.

In einiger Entfernung, dicht am Ufer, schwamm eine Bisamratte entlang. In der inzwischen eingetretenen Dämmerung suchte sie ihren Bau. Kathrin hatte sie auch schon entdeckt. Das war der entscheidende Moment.

Er rückte an sie heran, nahm ihre linke Hand in seine Rechte und zeigte dann mit der freien Hand auf den Bisam. Sie schaute ihn kurz an, lächelte dabei und wandte den Blick wieder auf den Fluss. Der Bisam war inzwischen unter einer Weide verschwunden, deren Geäst weit in den Flusslauf hereinragte.

„Ich muss dir etwas erzählen!“

„Erzähl!“, sagte Kathrin.

„So einfach ist das nicht! Aber es bedrückt mich. Wahrscheinlich kannst du dich nicht mehr daran erinnern. Jedenfalls vermute ich das einfach mal:

Es war vor ungefähr fünf Jahren, am 16. September 2009, da wurde in Hildesheim die Sparto-Bank überfallen. Ein paar Tage später fand man Olaf Matuschke tot im Keller des Bauernhofes der Familie Diers. Kannst du dich daran erinnern?“

„Du warst doch dort, wolltest nachschauen was unter dieser geheimnisvollen Klappe ist!“

„Ja, und als ich im Haus war, kamen Bruno Dammann und Olaf Matuschke herein. Ich konnte mich gerade noch hinter der Tür verstecken. Gut, dass du mich gewarnt hast.“

„Das weiß ich noch alles ganz genau. Ich hatte große Angst um dich, und war froh, dass du gesund und munter wieder aus dem Haus gekommen bist, nachdem die beiden fort waren.

Zwei Tage nach dem Bankraub bist du mit deinen Gedanken noch ein bisschen abwesend gewesen.“

„Ja Kathrin, genau an diesem Morgen ist es geschehen, worüber ich unbedingt mit dir sprechen muss.

Du bist joggen gewesen, genau in dieser Zeit bin ich noch einmal in den Keller gegangen.“

„Du bist noch mal in den Keller gegangen? Was wolltest du denn dort?“

„Das Geld holen, was sonst!“

Henry wurde nun ein wenig aufbrausend. Er wusste, dass er damit etwas Unrechtes getan hatte, aber wenn jemand auch noch in sein Gewissen einreden wollte, dass konnte er überhaupt nicht leiden.

„Als die beiden Ganoven im Keller waren, hatte ich mitbekommen, dass Olaf seinen Anteil dort verstecken wollte. Am Samstag in der Früh bin ich noch einmal hinübergegangen. Du warst nicht da, also war es genau der richtige Moment.“

„Was willst du damit sagen? Du warst nicht da, deswegen bin ich noch einmal hinübergegangen.“

„Hätte ich dich lieber fragen sollen? Wahrscheinlich wäre deine Antwort gewesen: ‚Oh, das ist aber eine gute Idee, geh bitte mal nachsehen!‘ Hättest du nicht! Also habe ich dir lieber nichts davon erzählt.“

„Und was war nun da drüben los?“

In diesem Moment war sich Henry nicht mehr sicher, ob er sein Geheimnis offenbaren sollte. Kathrin hatte ihn völlig aus dem Konzept gerissen. Aber jetzt musste es raus, egal was passieren würde.

Henry begann zu berichten: „Ich bin hinübergegangen und wollte nachschauen, ob das Geld auch wirklich dort war. Dann traute ich meinen Augen nicht. Olaf Matuschke lag dort im Keller auf dem dreckigen Fußboden. Ich wusste erst gar nicht, was das bedeuten sollte, denn was ich da sah, kam völlig überraschend. Erst hatte ich gedacht, der sucht dort etwas auf dem Fußboden. Im selben Moment verpuffte dieser Gedanke und ich dachte ans weglaufen. Mir wurde plötzlich ganz heiß und mein Herz raste im Höchsttempo. Eigentlich hätte er sich schon längst einmal bewegen müssen, tat er aber nicht. Also war ihm etwas zugestoßen.“

„Kannst du dir vorstellen, wie das für mich war?“

Kathrin stand angelehnt am Brückengeländer und starrte Henry ganz entsetzt an.

„Ich hatte in diesem Augenblick furchtbare Angst. Es konnte ja noch jemand im Haus sein. Vielleicht stand er gerade hinter mir.

Oder in einer Ecke, im Dunkeln und beobachtete mich.“

„Warum bist du nicht einfach weggelaufen?“

„Für einen kleinen Moment hatte ich einen klaren Verstand, da fiel mir wieder das Geld ein, deswegen bin ich ja dahin gegangen. Ich stieg die Kellertreppe hinunter, sah mich im kleinen Raum um, und fand eine Kiste. Tatsächlich lag eine Tasche dort drinnen. Ohne nachzusehen griff ich danach und verschwand blitzschnell aus dem Haus.“

 

Kathrin hörte nur zu, starrte von der Brücke in den Fluss hinab und sagte erst einmal überhaupt nichts. Für eine Weile hörten sie nur das Rauschen des Wassers. Henry schaute sie an, aber es gab kein Anzeichen eines Ausdrucks irgendwelcher Gefühle.

„War das Geld in der Tasche?“, fragte Kathrin dann doch.

„Ja, fünfzigtausend Euro waren dort drinnen.“

Wieder ein Schweigen.

„Wo ist das Geld jetzt?“

„Das möchte ich dir noch nicht sagen. Zuerst will ich wissen, ob das irgendetwas an unserer Beziehung ändert?“

„Das glaube ich nicht, denn die hat nichts damit zu tun. Die Frage, die ich dir stelle, ist: Wie geht es nun weiter?“

„Wir hatten schon vor längerer Zeit alle Möglichkeiten durchgesprochen, damals war es, ‚was, wäre, wenn‘, jetzt ist es Fakt. Olaf Matuschke ist tot. Bruno Dammann hat wahrscheinlich seine Haftstrafe fast abgesessen und wird demnächst entlassen.“

„Es könnte möglich sein, dass er nach dem Geld sucht“, sagte Kathrin. „Was hast du mit dem Geld vor? Hast du es überhaupt noch?“

„Natürlich habe ich es noch, es ist in einem sicheren Versteck untergebracht.“

Dann machte Kathrin eine Aussage die Henry sehr freute.

„Ich werde keine Gangsterbraut. Trotzdem werde ich versuchen dir mit meinen Gedanken und Ideen dabei zu helfen, die Sache durchzustehen. Was hast du mit dem Geld vor?“

„Mein Plan ist es, vorerst abzuwarten, ob jemand das Geld vermisst. Sollte das nicht der Fall sein, würde ich mir endlich meinen Traum erfüllen und eine Harley-Davidson kaufen.“

„Abwarten auf was? Auf Bruno Dammann etwa?“

„Ja, auf den warte ich, deswegen habe ich dir fünf Jahre lang nichts erzählt.“

„Okay, dann warten wir auf Bruno Dammann!“

Beppo Hansmann erholte sich im Laufe der letzten Wochen sehr gut. Das Krankenhaus befand sich außerhalb der Haftanstalt. Im Zimmer Nummer 7 standen nur zwei Betten, in einem lag Beppo, dass andere war zurzeit nicht belegt. Es war ein heller Raum mit Bildern an den Wänden, eines davon stellte nur ein paar Baumstämme dar, die kreuz und quer auf einem Haufen lagen. Ein anderes hatte viele bunte Striche, dünne und dickere in verschiedenen Farben. Alle diese Bilder strahlten eine gewisse Beruhigung aus. Der Maler beschrieb es mit ‚3D Ansichten‘. Die Fenster standen auf Kippstellung, sodass ein leichter, frischer Luftstrom zu bemerken war. Vor dem Fenster stand ein mächtiger Walnussbaum, in dem ein Eichhörnchen zielsicher in den Ästen hin und her hüpfte.

Das Essen schmeckte besser, als das aus der Gefängniskantine und die Pfleger erfüllten ihm fast jeden Wunsch.

Zum Glück hatte das selbst gebastelte Messer keine sehr lange Klinge. Außerdem war die Wucht nicht so groß, sodass sie nicht tief in seine Bauchhöhle eindringen konnte. Der Bulle hatte wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen, nachdem das seinem Helfer passiert war.

Jedenfalls bekam Beppo sehr viele Dinge auf sein Krankenzimmer. Dinge, die dick machten und ungesund waren. Aber sein Wohlbefinden und seine Laune erheblich verbesserten. Diese beiden bemerkenswerten Gestalten, der Bulle und Beppo, kamen eigentlich gut miteinander aus, deshalb konnte Beppo sich vorstellen, dass diese schönen Sachen von ihm kamen. Aus Wiedergutmachung, weil es eine tragische Verwechslung gewesen war.

Vielleicht hatte das auch andere Gründe. Im Moment ging es ihm gut damit.

Auf einmal klopfte es an der Tür.

„Ja bitte, wer ist da?“

Die Tür öffnete sich langsam, ein Gesicht schaute ihn an. Beppo traute seinen Augen nicht.

Bruno Dammann stand völlig gesund und mit einem breiten Grinsen vor ihm.

„Mensch Dammann, bist du raus?“

Bruno ging zum Bett herüber, um seinen Kumpel Beppo zu umarmen. Die Arme von Bruno waren durch das Training in der Anstalt stetig dicker geworden, doch gegen Beppos Schiffstaue wirkten sie eher klein. Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Dabei verzog Hansmann sein Gesicht und brachte einen jammernden Laut aus seiner Kehle:

„Ah!“, stöhnte er. „Ist nicht so schlimm.“

„Bist jetzt ein freier Mann, was?“

„Ja, ich habe es geschafft, seit ein paar Tagen bin ich ein freier Mensch. Wie geht es dir? Ich wollte mal nach dir schauen. Wie ich sehe, fehlt es dir fast an nichts, oder?“

„Hast du mir die guten Sachen zukommen lassen?“

„Nein, hätte ich gern, aber von mir sind die nicht.“

„Dann sind die wahrscheinlich doch vom Bullen, ich habe sonst keine andere Idee.“

Bruno reagierte so entsetzt auf diesen Namen, dass ihm das Blut aus dem Kopf verschwand und er ganz blass wurde.

Beppo bemerkte das und sagte: „Du kippst gleich aus den Latschen, setz dich erst einmal hin!“

„Hat der Typ noch etwas über mich erwähnt?“

„Der Bulle? Das kann ich dir nicht sagen, ich habe nichts erfahren.“

„Er hat Kontakte nach draußen. Pass auf dich auf! Wenn er das Geld haben will, bekommt er es.“

„Ich habe es ja nicht, aber das glaubt er mir wahrscheinlich nicht.“

„Dann wirst du es suchen müssen und am besten gibst du es seinen Leuten, wenn die ernst machen. Wenn du Hilfe benötigst, melde dich bei mir. Ich habe auch jede Menge Kumpels draußen in der Freiheit.“

Bei dem Gedanken daran, dass alle sein Geld haben wollen, welches er noch nicht einmal besaß, drehte sich ihm der Magen um. Er war doch noch nicht einmal ein richtiger Ganove. Aber plötzlich war er mittendrin im Getümmel.

„Was sollte ich als Erstes machen, was meinst du?“

„Wo wohnst du zurzeit?“

„Im Moment wohne ich in einer Eingliederungswohnung, mit anderen entlassenen Häftlingen zusammen. Dort werden wir auf das Leben danach vorbereitet. Einen Job suchen usw. Es hilft uns ein Bewährungshelfer dabei, so gut er das kann.“

„Warst du schon in deiner Heimat, bei deinen Eltern?“

„Nein, nach Sarstedt habe ich mich noch nicht getraut.“

„Ich dachte du hattest etwas von Schliekum erzählt, deine Eltern hätten dort einen Bauernhof.“

„Natürlich wohnen meine Eltern in Schliekum, aber ich dachte du kennst es nicht, weil es ein kleines Dorf ist.“

„Natürlich kenne ich Schliekum! Ich habe da vor längerer Zeit mal ein Motorboot reparieren lassen.“

„Ach, unten an der Leinebrücke, in der kleinen Werkstatt.“

„Genau, gibt es die noch? Der Typ wollte doch schon vor Jahren aufhören.“

„Das kann ich dir nicht sagen, ich war ja selbst ein paar Jahre nicht mehr in Schliekum.“

Es entstand eine Gesprächspause, jeder für sich saß einfach nur da und verfiel in eine schöpferische Pause. Woran Beppo Hansmann gerade dachte, ließ sich nicht erahnen, aber Bruno dachte in diesem Moment an seinen Kumpel Olaf Matuschke. Der Anstoß an den Gedanken, war der Bootsmann, der seine Werkstatt nur ein paar Schritte entfernt vom Bauernhof hatte.

„Woran denkst du gerade?“, fragte Beppo.

„An meinen Kumpel Olaf, ich hab dir doch von ihm erzählt. Der Bauernhof, wo man ihm fand, war gleich nebenan von dieser Werkstatt, die du kennst.“

„Wie war das eigentlich mit dem Geld, war das bei ihm?“

„Nein, das hat man nie gefunden, das ist ja das Verrückte.“

„Hast du dir schon mal Gedanken drüber gemacht, wer es haben könnte?“

„Was denkst du denn? Jede Nacht, wenn ich nicht schlafen konnte, habe ich es gemacht. Irgendjemand musste davon gewusst haben. Vielleicht hat Olaf auch die Fresse nicht halten können und im besoffenen Kopf herumgeprahlt.“

„Umgebracht hat ihn doch aber diese Frau. Kennst du die?“