Himmlisches Herzflüstern

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Kapitel 3: Bett-Flüstern

Ich hatte, wie vielleicht die meisten von euch wissen, keine unbeschwerte Kindheit. Die einfachsten Dinge waren für mich oft Lichtjahre weg. Ich wurde verletzt, gedemütigt und kannte kaum meinen Wert. Mein Papa, der 2010 verstarb und mit dem ich mich fast drei Jahre zuvor versöhnen durfte, war Alkoholiker, und mit dem Arbeiten hatte er es auch nicht so. So war mir damals wie heute meine Mama ein Fels in der Brandung. Sie leistete oft Unmenschliches, obwohl sie es selbst nicht einfach hatte. Noch heute habe ich ihr so viel zu verdanken.

Wir wohnen nun gemeinsam in einem Haus, und sie ist uns in vielen Bereichen eine Stütze. Während ich dieses Kapitel schreibe, kocht sie ein leckeres Mittagessen im unteren Stockwerk in unserer Küche. In Kürze sitzen wir alle gemeinsam wieder an einem Tisch wie fast jeden Tag. Ach ja, Mama, falls du das jetzt liest, du und der Rest der Welt sollen es wissen, dass ich dich liebe und ehre!

Ich durfte vor einigen Jahren lernen, über Gefühle zu sprechen, und sage das meiner Mama und meinem Umfeld immer und immer wieder. Je mehr ich das tue, desto mehr beschenke ich mich auch selbst dabei. „Ehre jeden Menschen“, steht im 1. Petrusbrief.1 Ja, wenn wir Freude schenken, beschenken wir uns dabei selbst. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Wenn wir verletzen, verletzen wir uns dabei selbst …

Doch trotz meiner Mama, meiner Oma und meiner geliebten Tante Elfriede, fehlte mir ein liebevolles männliches Vorbild, und das entdeckte ich mehr und mehr bei meinem geliebten Onkel Heinz. Was für ein toller Mann! Er war Jahrgang 1930 und kam aus Berlin.

Er war sooooo schlau. Für mich war er wie ein persönliches Wikipedia und Google in einer Person. Stets hatte er einen Rat. Tante Elfriede und Onkel Heinz wohnten nur 200 Meter von Oma und Opa entfernt. Fast jeden Sonntag gingen wir zusammen spazieren, meine Familie und die beiden.

Heinz und ich „seilten“ uns stets ab und gingen oft hunderte von Metern voraus. Ich saugte alles auf, was er zu sagen hatte. Er bemerkte meine Unsicherheit und brachte mir die ersten Tricks zur Selbstverteidigung bei. Er sagte mir immer wieder: „Junge, wenn du einmal wegläufst, dann läufst du immer weg. – Steh aufrecht! – Halte dem Blick stand! – Sag, wenn du etwas nicht möchtest! – Erhebe deine Hände und beschütze deinen kleinen unsichtbaren Gartenzaun! – Und wenn jemand alle Warnungen ignoriert und dir weh tun will, dann betonierst du ihm sofort eine!“ Boah, er war so mutig, so stark, das Gegenteil von mir. Deshalb bewunderte ich schon immer Muhammad Ali, Bruce Lee und Bud Spencer. Sie alle waren ein wenig wie Onkel Heinz.

In manchen Zeiten war ich täglich bei meinem „Onkele“. Er spürte, wenn es mir nicht gut ging, wenn andere mich verletzten, und oft sprach er mich direkt an: „Bist du aufrecht gestanden? Hast du den Blick gehalten? Und hast du deinen unsichtbaren Gartenzaun verteidigt?“ Immer und immer wieder musste ich verneinen; ich war einfach zu mutlos. Es waren jedoch nicht nur die körperlichen Angriffe oder Beleidigungen, es gab auch dieses Flüstern hinter meinem Rücken, welches tief in meinem Herzen heftige Schmerzen verursachte, zusammen mit den hämischen Blicken. – Bis der große Tag kam.

Ich war in der ersten Klasse, 1976, als ich wieder mal mitten im Unterricht zutiefst beleidigt und sogar hinter dem Rücken des Lehrers verletzt wurde. Da schossen mir Onkel Heinz’ Worte durch den Kopf: „Wer einmal wegläuft, der läuft immer wieder weg.“ In diesem Bewusstsein, hier und jetzt, fasste ich den Entschluss, nicht mehr alles mit mir machen zu lassen. Ich stand auf – ja ich stand sogar aufrecht – und erhob meine Stimme. Und dann „betonierte“ ich meinem Peiniger eine „voll auf die Zwölf“. Der Schlag saß! Mitten im Unterricht brach ich ihm die Nase.

Natürlich hatte das Konsequenzen, ohne sie jetzt hier beschreiben zu wollen. Doch die waren mir egal. Ich war aufgestanden, das war das Einzige, was zählte. Voller Stolz berichtete ich meinem Onkel von meiner Tat. Klar, dass kaum jemand verstand, was da wirklich geschehen war; sie sahen nur, dass ich „Gewalt angewendet“ hatte. Aber mein Onkele und meine Mama, die blickten durch und freuten sich.

Von diesem Tag an hatte ich Ruhe vor dem Typen. Im Gegenteil, wir wurden sogar Freunde, und diese Freundschaft hält nun schon seit 44 Jahren!

Nein, ich heiße es nicht gut, was ich tat, und ich lehre auch, dass jeder vermiedene Kampf ein gewonnener Kampf ist und dass die eleganteste Art, dem Gegner die Zähne zu zeigen, ein Lächeln ist. Doch dort, wo wir jeden Tagen hingehen, wie zur Schule, zur Uni oder zum Arbeitsplatz, können wir nicht täglich fliehen, sonst sind wir jeden Tag auf der Flucht und können uns nicht frei und unbeschwert entfalten. Damals in meiner Klasse gab es für mich nur diesen einen Weg; zumindest erkannte ich in meiner Hilflosigkeit keinen anderen. Ich hatte irgendwie meinen Stand einnehmen müssen.

***

Doch leider war ich damit noch immer kein Held geworden, der immer seinen Mann stand. Die Prägung meiner jungen Seele konnte ich nicht einfach so mit einem Wisch wegfegen. Die Demütigungen zu Hause, in der Schule und nicht selten auch in der Freizeit blieben.

Ich muss so zehn Jahre alt gewesen sein, als mir das alles zu viel wurde und ich nicht mehr wusste, wie mein kleines Herz es noch aushalten sollte. Und so kam es, dass ich eines Tages auf den Gleisen stand, mit Blick sowohl auf unsere Dorfkirche, wo ich so oft Zuflucht gefunden hatte, als auch auf mein Elternhaus. Ich konnte und wollte nicht mehr. Mein Leben schien mir aussichtslos. Mir war klar, dass sich so schnell nichts ändern würde – weder morgen noch in fünf Jahren. Ich war täglich der Gewalt, der Armut, dem Hohn und Spott ausgesetzt.

So spielte ich mit dem Gedanken, mir mein junges Leben zu nehmen. Ich dachte an meine Beerdigung und hoffte, dass es spätestens dann allen leidtun würde, was sie mir all die Jahre angetan hatten.

Mitten in meinen traurigen Gedanken vernahm ich ein Flüstern tief aus und in meinem Herzen: „Lebe weiter, ich habe noch viel mit dir vor!“ Hoffnung keimte in mir auf, der Same für ein neues Leben. Es begann etwas, auch wenn es noch ganz fein und zart war. Aber es trug den Willen zum Leben in sich, und dadurch war es unüberwindbar stark.

Ich konnte niemandem davon erzählen, nicht einmal Onkel Heinz. Der Augenblick war zu intim gewesen; so tief konnte ich keinen in mein Herz blicken lassen. So ahnte niemand etwas von meinem Erlebnis auf den Bahngleisen, und der Alltag schien einfach seinen Fortgang zu nehmen. Aber Gott hatte seine Hand auf mich gelegt, und das war nicht mehr rückgängig zu machen.

***

Mein Onkele blieb weiterhin mein Mentor. Er brachte mir viele Spiele bei, wie Schach, Dame oder Mühle. Über tausend Themen unterhielten wir uns. Er war ein Stück weit der Vater, den ich mir immer gewünscht hatte, und auch mein Freund. Und immer wieder zeigte er mir, wie man am besten kämpft. Ja, er hatte selbst viel kämpfen und die harte Realität des Krieges erleben müssen. Von sich persönlich erzählte er fast nie etwas, außer einmal. In tiefem Schmerz erzählte er mir, sein bester Freund sei von einer Granate getötet worden. Wortwörtlich sagte er mir, er habe „seine Überreste von der Straße gekratzt“.

Es war nur ein kurzer Einblick – für einen Bruchteil öffnete er seine Herzenstür, um sie gleich wieder zu verschließen. Er konnte sich diesen Schmerz nicht anschauen und auch niemanden teilhaben lassen; es war zu schwer. An dieser Stelle war sein Herz zerbrochen.

Diese intensive Zeit mit meinem Onkel erlebte ich von meinem fünften bis zum vierzehnten Lebensjahr; danach zogen wir in den Nachbarort. Doch diese Zeit hatte mich für ein ganzes Leben geprägt.

Einmal vertraute ich ihm an, dass mich mein Vater wieder verdroschen hatte, und er stellte ihn daraufhin zur Rede. Da war jemand, der sich für mich stark machte, der auf meiner Seite stand. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern. Als ich dann mit meinem Vater ganz allein war, erlebte ich eine kaum zu beschreibende Kälte. Es dauerte etwa zwei Stunden, bis er mich dann wieder verdrosch, diesmal schlimmer als gewohnt, da ich ihn in seinen Augen vor meinem Onkel lächerlich gemacht hatte. Ja, es war schlimm; doch das Gefühl zu erleben, dass jemand für einen kämpft, war unbeschreiblich. Es war ein Liebesbeweis. Liebe, ja darum geht es in unserem Leben. Liebe, die wir zu wenig bekommen haben oder die wir zu wenig gegeben haben. Dies macht unsere Herzen schwer und traurig.

Heinz brachte mir viele Dinge bei, auch wie wichtig der wertvolle Umgang mit Geld ist. Er motivierte mich, für die älteren Leute einkaufen zu gehen und zu arbeiten. Dadurch bekam ich mal hier eine Mark und mal da ein paar Pfennige. Was tun damit? Heinz meinte: „Jetzt brauchst du ein Sparbuch, und lass das Geld wachsen.“ Ich habe lange nicht verstanden, wie Geld wachsen sollte. So legten wir ein Sparbuch an.

Irgendwann hatte ich stolze 76,50 DM auf dem Konto. Ich fühlte mich so reich. Ich hatte etwas geleistet und nun mein eigenes Geld. Ich werde nie den Tag vergessen, als ich meinem Vater nach einem Streit hochnäsig mitteilte, ich würde mehr arbeiten als er und hätte sogar mein eigenes Sparbuch. Nie, nie, nie vergesse ich seinen Blick und seine Worte: „Nein, du hast gar nichts!“ Ja, er hatte mein Sparbuch geplündert. Eine Welt brach für mich zusammen.

Es schmerzt mich heute nicht mehr, da Papa und ich uns 2007 durch die Gnade Jesu Christi vollkommen versöhnen durften. Doch damals war ich wieder mal gebrochen worden. Heinz war wütend, doch sagte er nichts zu meinem Vater. Die Konsequenzen hätte sonst wieder ich spüren müssen. Stattdessen versteckten wir mein verdientes Geld ab dieser Zeit in einer kleinen Zigarrenblechdose. Wir versteckten sie so gut in der Gartenlaube, dass wir sie nie wiedergefunden haben. Irgendwo in meinem geliebten Dörfchen schlummert eine kleine Blechdose mit etwa 20 Mark in Kleingeld …

 

***

So vergingen die Jahre. Meine Besuche wurden rar, denn ich war mehr in der Welt unterwegs als in meiner Heimat. Der Schmerz trieb mich, und ich fand kaum Ruhe. Irgendwie war ich auf der Flucht vor meinem Vater und versuchte gleichzeitig, ihn auch irgendwie stolz auf mich zu machen. Ich durchlebte Obdachlosigkeit, von der kaum jemand wusste. Ich war ein Getriebener. Mein Herz versteinerte sich täglich mehr. Mein Onkel erkannte meinen Schmerz und fragte mich eines Tages, es muss wohl etwa 2005 gewesen sein: „Was machst du eigentlich, wenn dein Vater eines Tages stirbt?“ Kalt gab ich ihm zur Antwort: „Na und, wir alle müssen mal sterben.“

Ich konnte ihm mein Herz nicht zeigen. Er kämpfte selbst mit sich und konnte mir auch seines nie richtig offenbaren. Später erfuhr ich, dass er selbst ohne Papa aufgewachsen war, doch hatte er nie darüber gesprochen.

Obwohl er seit 60 Jahren auf der Schwäbischen Alb wohnte, sprach er stets mit „Berliner Schnauze“. Oft diskutierten wir über das Universum, die Sterne, über Religionen und vieles mehr. Er war der Meinung, es sei egal, an was man glaube; Hauptsache, man sei ein guter Mensch. Wir ließen es dabei, nie entstand dadurch Streit. Ein paar Monate bevor er starb, begann mein Onkel mich viele Dinge zu fragen. Ähm, was war da los? Wikipedia und Google, mein persönliches Lexikon, stellte mir Fragen? Oft fingen seine Fragen mit „warum“ an. Wenn unser Pfarrer zu Besuch kam, hörte er mehr und mehr aufmerksam zu und genoss es, gesegnet zu werden. In dieser Zeit hat er ziemlich oft gefroren. Mein Onkel zeigte Schwäche, das kannte ich fast gar nicht von ihm.

2006 lernte ich meine zweite Frau kennen. Ich kannte es bis dahin nicht, dass Menschen sich in den Arm nehmen. (Nach der Versöhnung mit meinem Papa mussten er und ich noch fast zwei Jahre trainieren, wie das mit dem In-den-Arm-Nehmen geht.) Meine Frau jedoch umarmte Tante Elfriede und meinen Onkel Heinz bei jeder Begrüßung und bei jeder Verabschiedung ohne Zurückhaltung. Das beobachtete ich und sehnte mich auch danach, so locker damit umgehen zu können. Ja, ich war ein wirklich verletzter und kaputter Typ (und stehe immer noch in einem Heilungsprozess). Wenn ich meinen Onkel bei Verabschiedungen drückte, dann eher flüchtig. Doch unsere Sehnsucht, seine und meine, war viel größer.

***

Er wurde älter, schwächer und nachdenklicher, und ich durfte ihm schließlich von der besten Botschaft der Welt berichten: dass Gott in seinem Sohn zu uns gekommen war, um uns von aller Schuld freizumachen; dass Jesus alle Antworten auf alle Warum-Fragen kennt; dass Jesus selbst die Antwort ist; dass Gott unsere verletzten Herzen gesundlieben möchte. Aufmerksam saugte er jedes Wort in seinem Herzen auf.

***

Eines Abends, als ich zuhause war, klingelte das Telefon. Wenn du es gestattest, nehme ich dich jetzt einfach mit in die damalige Gegenwart:

Tante Elfriede ist am Apparat, und sie ist panisch: „Komm schnell! Heinz ist schwer gestürzt!“

Hastig renne ich zum Auto und fahre los. Mein Herz ist aufgeregt und schwer zugleich. So rase ich die kurze Strecke, um dem zu Hilfe zu eilen, der mir selbst so oft zur Seite stand.

Weinend und völlig aufgelöst öffnet meine Tante die Tür. Da sitzt er, mein Onkel Heinz, auf dem Fußboden des Wohnzimmers, neben seinem wunderschönen Aquarium. Schwach und zerbrechlich sieht er aus, der Mann, der für mich Ali, Bruce Lee und Bud Spencer sowie Wikipedia in einem verkörpert.

Er ist die Treppe hinuntergefallen und trotz all seiner Schmerzen ins Wohnzimmer gekrabbelt. Nun sitzt er aufrecht auf dem Fußboden und zeigt Haltung, trotz allem.

„Ich rufe den Notarzt!“ sage ich.

„Nein!“, schreit meine Tante, „dann kommt er nie wieder nach Hause!“

Mein Onkel schaut mich an. Ich sehe so unendlich viel Vertrauen in seinem Gesicht. „Wenn du meinst, dann mach das“, flüstert er mir zu.

Meine wunderbare Cousine kommt dazu, und wir beide tun, was zu tun ist. Immer wieder schreit meine Tante: „Keinen Notarzt, sonst kommt er nie wieder nach Hause!“

Der Rettungsdienst kommt und die Sanitäter bringen meinen Onkel in den Rettungswagen. Bevor sie abfahren, schließt einer der Sanitäter die Tür und sagt: „Vermutlich Oberschenkelhalsbruch. Die alten Leuten kommen selten wieder, nur zur Info …“ Die Worte treffen mich bis ins Mark.

Ich fahre dem Krankenwagen hinterher. An den Schatten hinter dem Milchglasfenster sehe ich, wie sie Onkel Heinz versorgen. Ich weine und bete die ganze Fahrt hindurch. Was auch sonst? Horoskope befragen? Das Universum oder die universelle Energie um Hilfe bitten? Keine Alternative für mich!

Im Krankenhaus angekommen, warte ich, bis mein Onkel geröntgt und notversorgt ist. Als ich zu ihm darf, liegt er kreidebleich und schwach in seinem Bett.

„Onkele, weißt du noch, wie oft wir über Jesus gesprochen haben und wie du stets gemeint hast, es sei egal, an wen und was man glaubt? … Aber es ist eben nicht egal, an wen wir unser Herz verschenken und wem wir von ganzem Herzen vertrauen. Gott kam doch in Jesus zu uns, um uns mit sich zu versöhnen, und um uns den Frieden zu schenken, den uns diese Welt nicht geben kann … Mach doch heute Nacht Frieden mit Gott, Onkele, ja … ?!“

Mit dankbaren Blicken lauscht er meinen Worten. Es scheint, als könne er zum ersten Mal etwas von mir für sein Herz nehmen.

Am nächsten Morgen gehe ich zum Juwelier und kaufe ihm eine silberne Halskette mit einem Kreuzchen. Mit meinem Liebesgeschenk bewaffnet, eile ich ins Krankenhaus zu meinem Onkel.

„Na, hast du mit dem Boss gesprochen?“, frage ich, als ich an sein Bett trete, und er antwortet:

„Ja, vorhin habe ich mit dem Oberarzt geredet.“

Ich musste lächeln: „Nein, Onkele, nicht mit diesem Boss, sondern mit dem da oben!“ Ich zeige zum Himmel.

Er lächelt und flüstert: „Ja, mit ihm hab’ ich heute Nacht auch gesprochen. Nun habe ich Frieden mit Gott gemacht …“

Frieden mit Gott, ja, um diesen Frieden geht es von der ersten bis zur letzten Sekunde in unserem Leben. Nicht ständig um das, was man tun muss, was man darf und nicht darf, Leistung hier und Leistung da … Es geht um Frieden mit Gott; dem Gott, der Liebe ist – nichts als Liebe. Je mehr wir in, mit und durch diese Liebe leben, desto mehr wird das Gute in uns selbst „hervorgeliebt“.

Liebe liebt das Gute in uns hervor.

Ein paar Tage später besuchen wir Onkel Heinz – meine Frau, meine Tochter und ich. Beim Verabschieden beugt sich meine Frau über sein Bett und drückt ihn herzhaft. Danach beuge auch ich mich über ihn und sage ihm, dass ich ihn liebhabe. Seine Antwort ist ein Flüstern: „Ich hab’ dich lieb, Miggi!“

Kaum traue ich meinen Ohren; nach all den Jahren kommt es zum ersten Mal über seine Lippen. Während meine Augen ihn kurz etwas verdutzt anschauen, haben mein Herz und mein Mund schon geantwortet: „Ja Onkele, ich dich auch – soo sehr!“

Ich laufe halb um sein Bett herum und stehe am Fußende. Da muss er es mir noch einmal sagen: „Hörst du, Miggi? Lieb hab’ ich dich! Und pass auf dich auf!“

Tief berührt und um Fassung ringend antworte ich: „Ja ich hab’ dich auch lieb! Na klar, pass ich auf mich auf!“

Ich folge meiner Frau und meiner Tochter zur Türe, doch bevor ich sie hinter mir schließen kann, höre ich noch einmal seine Stimme: „Miggi?!“

„Ja?“ Ich schiebe meinen Kopf zurück durch die Tür. (Jetzt, während ich schreibe, treffen sich in der Rückschau noch einmal unsere Blicke.)

„Ich hab’ dich lieb, vergiss das nie!“ Sein Herz steht himmelweit offen und strömt über vor Liebe und Frieden. All die Fragen, die ihn sein Leben lang beschäftigten, die wie Wellen auf hoher See waren, sind zur Ruhe gekommen, weil er nun den in seinem Herzen trägt, der Wind und Wellen stillt.

„Ich hab dich auch lieb, Onkele“, flüstere ich ein letztes Mal in Resonanz auf dieses wunderschöne Herz …

***

Zwei Tage später klingelt unser Telefon. Meine Frau geht dran, legt kurz darauf fast wortlos wieder auf und sagt flüsternd, was ich in meinem Herzen schon weiß: „Onkel Heinz ist heute Nacht in den Himmel gegangen.“

***

In der Friedhofskapelle verabschieden wir uns noch einmal von ihm, doch es ist nur seine Hülle, sein Zelt, in dem er wohnte, als er hier auf der Erde war. Ich sehe diesen toten Körper, in dem er gelebt hat, mein Vorbild und mein Held. Kein Leben mehr darin. Meine Tante küsst und streichelt ihn. Unendlich viele Tränen fließen und sie flüstert immer wieder: „Bitte geh nicht, bleib bei uns …“

Ich verlasse den Raum und weiß, wir sehen uns wieder.

Die Liebe, die er mir im Krankenhaus dreimal zuflüsterte, ist eine ewige. Sie krönte unsere Beziehung, alle diese Jahre. Sie schwappte auf den Grund meines Herzens und löste dort einen Tsunami an Gefühlen aus. Eine Kraft, die nun weiter und weiter geht, die durch diese Zeilen jetzt gerade sogar dich erreicht.

Welchem Menschen kannst du es heute noch zuflüstern?

„Ich hab’ dich lieb!“ – so einfache Worte, so eine unfassbare Kraft!

Lass dich von nichts und niemandem aufhalten, zum Botschafter der Liebe zu werden!

1 Vgl. 1 Petr 2,17.

Kapitel 4: Demenzgeflüster

Es war eine schreckliche Zeit nach dem Tod meines geliebten Onkels. Meine Tante verlor zunehmend an Lebensfreude, obwohl sie von ihrer Natur her ein Sonnenschein war und ist.

Ich hatte ja einen Großteil meiner Kindheit bei Onkel Heinz und Tante Elfriede verbracht, die die Schwester meines Vaters ist. Während mein Onkel mir das Kämpfen und sämtliche Spiele beibrachte, backte und kochte meine Tante, und immer wieder erzählte sie mir (wie auch meine Oma, also ihre Mama) von Jesus.

In schweren Lebenskrisen war sie, so wie Onkel Heinz, immer für mich da gewesen. Ihr herzhaftes Lachen war ansteckend, und oft konnte sie nur sehr schwer damit aufhören.

Sie ist Jahrgang 1933. Im Gegensatz zu Onkel Heinz, konnte sie über die Kriegszeiten offen sprechen und auch darüber, wie sehr ihr Jesus und ihre Mama eine Stütze waren. Ein intensives Erlebnis, über das ich hier nicht näher schreiben kann, hatte dazu geführt, dass ihre Beziehung zu Jesus unerschütterlich wurde. Gott hatte ihr in ihrer Not zur Seite gestanden, und das trägt sie fest in ihrem Herzen.

Kurze Zeit nach dem Tod ihres geliebten Mann tat sie sich immer schwerer damit, alles alleine zu bewältigen. So wurde das kleine Häuschen verkauft und Tante Elfriede ging in eine Einrichtung, welche sich „Betreutes Wohnen“ nennt. Schnell lebte sie sich hier ein; allerdings blieb die Sehnsucht nach ihrem Heinz und nach ihrem gemeinsamen Häuschen riesengroß.

Oft nahm ich sie einfach mit zu uns, zum Essen oder einfach nur so. Manchmal spielte ich ihr von meinem Handy Lieder aus uralten Zeiten vor. Sie liebte die Schlager der 70er- und 80er-Jahre und so manches Heimatlied. Und stets beteten wir gemeinsam. Ein Gebet trug sie mir immer und immer wieder vor:

Dich, o Jesus, bet ich an,

wie die Weisen es getan.

Gold und Schätze kann ich nicht

bringen vor dein Angesicht,

aber meines Herzens Gold

schenk ich dir, o Jesus hold.

Über alles lieb ich dich,

will dich lieben ewiglich!

So beteten und sangen wir fast immer, wenn wir zusammen waren bzw. sind. Der Montag wurde zu „unserem“ Tag. Ich holte sie am Nachmittag ab, dann gingen wir zum Friedhof und in die Kirche und zum Abschluss in unser geliebtes „Café Mayer“.

Zunehmend wurde sie vergesslicher und schwächer, bis der traurige Tag kam, an dem sie wieder umziehen musste. Das Altersheim ist nun zu ihrer letzten Wohnstätte geworden. Mehr und mehr verschwammen wohl ihre Lebensbilder bzw. fand sie die passenden Worte nicht mehr, oder beides. Dann kam die Zeit, in der sie weder meinen Namen noch mich kannte. Das war sehr schmerzlich; ich weiß nicht, ob auch für sie oder nur für mich. Selbst ihren geliebten Mann erkannte sie auf einem Foto nicht mehr und fragte mich, wer das denn sei. Doch eines blieb, war zutiefst in ihr verankert: Wenn ich ihr unser Gebet ins Ohr flüsterte, machte sie mit und wir flüsterten es gemeinsam.

 

Eines Tages, sie saß in einem Ohrensessel im Aufenthaltsraum des Heims, da kniete ich mich vor ihr hin und bat sie um Vergebung für all die Liebe, die ich ihr nicht gebracht hatte, und wo ich an ihr schuldig geworden war. Sie nahm mich behutsam in ihre Arme, küsste meine Tränen weg und sagte: „Ich hab’ dich lieb, mein Guter!“ Und dann fragte ich sie: „Weißt du, dass Jesus dich liebhat?“ „Ja, das habe ich nie vergessen!“, flüsterte sie liebevoll zurück.

Leider kam dann die Zeit, als wir auch nicht mehr gemeinsam weggehen konnten, nicht mehr auf den Friedhof, nicht in die Kirche, um gemeinsam zu beten, und nicht mehr zum Kaffeeplausch ins Café unseres kleinen Städtchens …

Vor Kurzem, bei einer gemeinsamen Fahrt durch unser Dörfchen zeigte sie liebevoll auf den kleinen Hügel, auf dem ihr Häuschen stand. Wortlos, mit feuchten Augen, zeigte sie mit ihrem Zeigefinger in Richtung des Hauses, in dem es so oft nach frisch gebackenem Kuchen, nach Rouladen oder heißem Kakao gerochen hatte. Ihr sehnsüchtiger Blick mit dem empor gehaltenen Finger erinnerte mich an „E.T.“, als der in einer Szene sagte: „Nach Hause gehen ...“

Ja, das ist es: Nach Hause gehen. So viele Sterbende flüsterten dies in mein Ohr – meine Oma, mein Papa und so viele andere auch.

Vor wenigen Wochen besuchte ich Tante Elfriede, und sie hielt gerade einen Mittagsschlaf. Süß, wie sie aufwachte; ein Lächeln verzauberte ihr Gesicht. Ich setzte mich an den Bettrand und hielt ihre Hände. Auf einmal erkannte sie mich: „Bist du es?“ „Ja, Dodo“, so nenne ich sie seit Kindheitstagen. „Ich bin es, Miggi!“ „Es ist gut, dass du da bist“, flüsterte sie leise mit einem kleinen Lächeln.

Ich legte meinen Kopf auf ihren Oberkörper und sagte ihr, wie sehr ich sie liebe. Und dann fing ich an, unser Gebet zu sprechen. Ganz sachte, fast schon zärtlich, flüsterte sie mit: „Dich, o Jesus, bet’ ich an … “ Dann flüsterten wir beide das Vaterunser, das Jesus uns selbst gelehrt hat. Sie sprach fast alles mit. Wenn auch das meiste andere vergessen schien oder die Worte irgendwo verschüttet waren, das Beten ging. Und gemeinsam sangen wir noch ein Lied. Es war ein Stück Himmel, mit ihr zum himmlischen Papa zu sprechen …

Bei jedem Besuch flüstere ich ihr meine Liebe ins Ohr und immer wieder: „Jesus liebt dich.“ Oft huscht dabei ein Lächeln über ihr Gesicht. Alles, was wir aus Liebe tun oder sagen, bleibt in Ewigkeit …

So verbringt sie ihre Tage in ihrem Altersheim, in dem sie liebevoll umsorgt wird. In ihrem Herzen ist eine große Sehnsucht, nach Hause zu gehen. Eines Tages wird sie ein letztes Mal umziehen, zu dem, der ihr versprochen hat, ihr eine Wohnung zu bereiten …1 Zu dem, der ihr ein Leben lang Halt und Trost gegeben hat. Sie wird nach Hause gehen, zu Heinz und zu Jesus, über den schon ihre Mama im Sterben flüsterte: „Sieh, wie schön er ist!“

1 Jesus sagte: „Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass auch ihr seid, wo ich bin“ (Joh 14,1-3 LUT).

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