Das Blut des Wolfes

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Das Blut des Wolfes
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Michael Schenk

Das Blut des Wolfes

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81 Karte von Wolfgarten

Impressum neobooks

Kapitel 1

Das Blut des Wolfes

Horror-Roman

von

Michael H. Schenk

© 2010 / 2017

„Die Abzweigung muss bald kommen.“

„Bist du sicher?“ Lydia Proschke sah ihren Mann abschätzend an.

„Natürlich bin ich sicher“, knurrte dieser. Klaus Proschke spähte suchend durch die Windschutzscheibe seines Geländewagens. „Durch Gemünd sind wir durch und das hier ist die B 265. Wo soll es hier denn sonst hingehen?“

„Du weißt, wie oft dein Navi schon gespinnt hat.“

„Gesponnen“, korrigierte er automatisch.

„Ich doch auch egal.“ Sie lehnte sich zurück und zog einen Schmollmund. „Jedenfalls ist das hier am Arsch der Welt.“

„Was erwartest du? Das man einen Nationalpark mitten in Köln anlegt?“

„Wir hätten uns das Schloss ansehen sollen.“

„Das Schloss?“

„Ja, das gräfliche Schloss in Schleiden. Da hätten wir hinfahren können.“

Klaus verzog das Gesicht. „Bei dem schönen Wetter latsche ich doch nicht durch so ein altes Gemäuer.“

„Nein, bei dem heißen Wetter treibst du mich durch einen Mückenverseuchten Park.“

Ihr Mann stieß ein ärgerliches Knurren aus. Lydia liebte Naturfilme, aber sie hatte keinerlei Drang, die Natur tatsächlich zu erleben. Sie war nun einmal eine richtige Stadtpflanze, nur unermüdlich, wenn es galt, die Fußgängerzonen zu erkunden.

Die Bundesstraße führte von Gemünd aus in einigen Kurven und deutlicher Steigung in den Höhenzug des Kermeter hinauf. Immerhin mussten über hundertundzwanzig Meter Höhenunterschied überwunden werden. Es war eine malerische Strecke, umgeben von dichtem Wald und Klaus genoss die Fahrt trotz der sommerlichen Hitze. Er hörte die Ankündigung des Navigationsgerätes und sah die nach Links führende Abzweigung. Er seufzte erleichtert. „Da, siehst du? Da ist das Schild. Wolfgarten, nach Links auf die Landstraße 249.“

Sie bogen in die Landstraße ein. Auch hier wurde der Weg von Wald gesäumt, der oft den Blick auf die weitere Landschaft versperrte. An einigen Stellen standen die Bäume so dicht an der Fahrbahn, dass sie lange Schatten auf eine Seite der Fahrbahn warfen. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch nicht erreicht und das zwischen den Bäumen hindurch fallende Licht zauberte irrlichternde Muster auf den schimmernden Asphalt der Fahrbahn.

 

„Du musst auf Rehe achten“, mahnte Lydia. „Ich möchte nicht, dass du so ein armes Tier überfährst.“

„Meinst du, ich will mir den Wagen ruinieren?“

„Nein, du ganz bestimmt nicht.“

„Was soll das heißen?“

Sie zupfte an ihrer Bluse. „Ach, nichts.“

„Wir müssen bald da sein“, sagte Klaus. „Wolfgarten liegt ja auf dem Kermeter.“

„Auf dem was?“

„Der Kermeter ist ein Höhenzug“, erklärte er. „Ziemlich steile Berge und ziemlich groß. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass er hauptsächlich von Wald bedeckt ist. Von Wolfgarten aus soll man eine tolle Aussicht haben.“

„Wie soll man denn bei den vielen Bäumen was sehen?“

„Wolfgarten liegt ziemlich oben auf dem Berg, Schatz. Und da gibt es einen alten Feuerwachtturm, der für seine Aussicht berühmt ist.“

„Ich dachte, du wolltest unbedingt in den Park? Fahr langsamer.“ Lydia hielt sich am Handgriff fest. „Ich mag es nicht, wenn du so rast.“

„Hier kommt doch eh keiner“, seufzte er und sah ihren ängstlichen Blick. „Schön, ich fahre langsamer. Zufrieden?“

„Wir hätten auch in den Zoo oder einen Tierpark fahren können. Oder zur Urfttalsperre.“ Lydia öffnete ihre Handtasche und begann darin zu suchen. „Das wäre weniger umständlich gewesen und wir müssten nicht durch so eine gottverlassene Gegend fahren.“

„Das ist nicht dasselbe.“ Er warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. „Im Naturpark leben die Tiere ungestört und ganz natürlich.“

„Das tun sie im Zoo auch.“ Sie zog einen Handspiegel hervor und prüfte den Sitz ihrer Frisur. „Die haben sich ja längst an die Besucher gewöhnt, nicht?“

„Das ist trotzdem nicht dasselbe.“ Er legte die Hände etwas fester um das Lenkrad und atmete einige Male tief durch. Er musste auf seinen Blutdruck achten. Der war wieder Mal viel zu hoch. Kein Wunder, bei der ewigen Nörgelei von Lydia.

Sie fuhren an einem Schild vorbei, das auf ein Forsthaus hinwies. Automatisch verlangsamte er die Fahrt und schaltete herunter. „Muss gleich kommen“, murmelte er.

„Wirklich, wir hätten so schön in Gemünd spazieren können.“

„Wir sind ja schon da.“ Gelegentlich nervte ihn seine Lydia doch beachtlich. Aber es war besser, mit Bedacht darauf zu reagieren, sonst bekam sie wieder ihre Migräne und dann war sie tagelang ungenießbar. Ebenso, wie das Essen, dass sie ihm dann vorsetzte. „Hier, halblinks. Das ist das Merrchen.“

Wolfgarten lag Links der Landstraße und es gab zwei Straßen und einen ausgebauten Weg, über die man das Dorf erreichen konnte. Da Klaus und Lydia über Gemünd gefahren waren, fuhren sie nun über die Straße am südlichen Ortsrand, „Am Merrchen“. Ein Stück weiter hätten sie die Kermeterstraße nutzen können, doch Klaus hatte dies mit Bedacht vermieden. Dort lag die bekannte Kermeter Schänke und Lydia hätte sicherlich erneut Hunger und Durst verspürt. Klaus hatte jedoch nicht vor, die besten Stunden des Tages am Tisch zu verbringen.

Zunächst führte auch die Straße „Am Merrchen“ zwischen dicht stehenden Bäumen hindurch, bis diese zunächst auf der Linken und dann auch der Rechten Seite wichen und den Blick auf den Ort freigaben.

„Da, da vorne, das muss Wolfgarten sein!“ Sie deutete durch die Frontscheibe.

„Ich sehe es“, brummte er. „Bin ja nicht blind, oder? Achte Mal lieber darauf, ob du irgendwo ein Hinweisschild zur Rangerstation findest.“

„Dafür hast du ja wohl dein Navi“, erwiderte sie schnippisch.

Er sah auf den Schirm des Navigationsgerätes und runzelte die Stirn. „Das Ding tut es nicht.“

„Ich habe dir ja gleich gesagt, du sollst nicht so ein Billigding holen.“

„Scheint das GPS zu sein“, murmelte er und versuchte, die Fahrbahn im Auge zu behalten und zugleich die Funktion des Navigationsgerätes zu überprüfen. „Probier mal dein Handy aus.“

„Und wen soll ich anrufen?“

„Ist doch Scheißegal“, zischte er erregt. „Meinetwegen ruf den Pizzaservice. Ich will nur wissen, ob du Empfang hast.“

Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Handtasche und nickte. „Ja, habe ich.“

„Komisch.“ Er seufzte. „Na, wenigstens sind wir in Wolfgarten. Den Ranger zu finden, kann ja nicht so schwierig sein.“

Wolfgarten war eines jener malerischen Dörfer, wie sie häufig in der Eifel zu finden waren. Mit rund zweihundert Einwohnern war es eine relativ kleine Siedlung, die aus Fachwerkhäusern und Neubauten bestand. Der Ort lag, malerisch von Wäldern umgeben, auf der Kermeter Höhe und seine Lage galt nicht umsonst als einmalig, befand er sich doch inmitten des Naturparks. Alles wirkte idyllisch, denn zwischen den Häusern gab es Abstand für Gärten und immer wieder waren kleine oder größere Gruppen von Bäumen zu sehen.

„Gott, ist das Nest winzig“, stellte Lydia fest. „und es sind gar keine Leute zu sehen.“

„Wir wollen hier ja nicht shoppen gehen.“ Er konzentrierte sich darauf, ob er ein Hinweisschild auf die Rangerstation fand. „Außerdem sind die Leute jetzt sicher zur Arbeit. Ist doch mitten in der Woche“, brummte er.

„Hier werden die sicher keine Arbeit finden“, meinte Lydia. „Hier gibt es bestimmt nicht einmal einen Laden.“

Links von ihnen erhob sich ein hoher Turm über die Bäume am Ortsrand. Es war der alte Feuerwachtturm der als Eifelblick diente. Klaus war froh, dass Lydia ihn nicht bemerkte. Sie liebte Aussichtstürme und er hatte keine Lust, die vierundneunzig Stufen zur überdachten Plattform zu ersteigen. Er hatte seine Digitalkamera nicht dabei, um die schöne Landschaft zu fotografieren, sondern wollte ein paar der Tiere aufnehmen.

„Verdammtes Navi“, knurrte er. „Ausgerechnet jetzt versagt das Mistding. Na ja, wir werden uns wohl kaum verfahren können. Ich glaube, wir müssen zum anderen Ende von dem Dorf.“

Eigentlich konnte man sich wirklich nicht verfahren. Am Ende der Straße bog er nach Rechts in die Straße „Zum Stich“ und erreichte kurz darauf die Straße „Wolfgarten“. Hauptstraße und Dorf trugen den gleichen Namen und die Straße teilte den Ort mit ihrer angedeuteten S-Form.

„Wir müssen Links“, entschied er.

„Woher willst du das wissen?“

„Rechts kommen wir wieder zur Landstraße“, erwiderte er lakonisch. „Da kommen wir ja her.“

Ein kurzes Stück die Straße entlang, sah Klaus die richtige Abzweigung. „Ziegenbendges Weg. Hier müssen wir Rechts rein.“

„Schau mal, die haben sogar eine Polizeiwache“, stellte Lydia fest. „Und das in diesem kleinen Kaff.“

„Die haben hier sogar eine Feuerwehr.“

„Ach, wirklich?“

„Wir sind eben fast dran vorbei gefahren. Von der Kreuzung aus, da konnte man sie sehen.“

„Oh.“ Sie lehnte sich in die Polster zurück. „Na, jedenfalls sind wir jetzt da.“

Nach der Abzweigung zur Rangerstation passierten sie einige Häuser und einen Bauernhof. Rechts und Links lagen kleine Weideflächen, auf denen ein paar Kühe grasten und wenige Hundert Meter voraus begann schon wieder der dichte Wald. Unmittelbar davor lagen ein Parkplatz und das von Klaus ersehnte Ziel.

Die Zufahrt war kaum mehr als ein asphaltierter Feldweg. Es war drückend heiß und Klaus ließ die Seitenfenster nach unten gleiten. Er genoss den leichten Fahrtwind, der ein wenig Linderung verschaffte. Links am Ziegenbendges Weg lag die Rangerstation mit dem großen Parkplatz, Rechts war ein hoher Zaun zu erkennen, der dort das Areal und einen kleinen Teil der Weide absperrte.

„Gibt es hier wilde Tiere?“, fragte Lydia prompt.

„Deswegen sind wir ja hier“, seufzte er.

„Deswegen bist du hier“, korrigierte sie ihn.

„Hier gibt es Biber und Luchse“, erklärte er, denn er wusste, dass seine Frau vor allem die putzigen Biber liebte. „Und natürlich Rotwild und Wildschweine. Vielleicht haben sie den Zaun errichtet, damit die Tiere nicht gestört werden.“

Der Wagen rollte auf den Parkplatz der Rangerstation und Klaus war froh, dass er direkt am Waldrand lag. Zwar gab es noch keinen Schatten, aber sobald sie wieder nach Hause fuhren, musste sich das geändert haben und der Wagen würde dann nicht mehr so aufgeheizt sein. Er musste trotzdem daran denken, einen Sonnenschutz über das Lenkrad zu legen. Jedenfalls würde sein nächster Wagen eine Klimaanlage haben. Dieser Sommer war ja wirklich kaum auszuhalten.

Die Markierungen der Parkbuchten wirkten frisch, ebenso wie das Holz des Zaunes, der den Platz eingrenzte. Während er den Wagen einparkte, warf er einen Blick zum Stationsgebäude. Es erinnerte Klaus an eine Baubaracke, die man mit etwas Farbe aufgewertet hatte.

„Rangerstation Wolfgarten“, las Klaus von dem Schild ab. „Na, also.“

„Viel ist hier aber auch nicht los“, meinte Lydia mit Blick auf die drei Fahrzeuge, die auf dem geräumigen Platz standen.

„Es ist Mittwoch und keine Urlaubszeit. Was erwartest du da?“ Klaus stellte erleichtert den Motor ab. „Am Wochenende ist hier sicher Betrieb.“

Auch der Belag des Parkplatzes wirkte noch neu, ebenso wie die Grillhütte, die man hier für die Besucher aufgebaut hatte. Klaus stieg aus und blieb an der Fahrertüre stehen. Unschlüssig blickte er zu der Station hinüber, vor der ein lindgrüner Rangerover stand. Tafeln und Hinweisschilder an der Längswand des Gebäudes wiesen auf die Themen der Wanderpfade und einen Verkaufskiosk hin. Letzterer war geschlossen. Ein anderes Schild trug die Beschriftung „Ranger“.

„Gott, wie im Wilden Westen.“ Lydia saß auf dem Beifahrersitz, zog ihre Pumps aus und die Wanderschuhe an.

„Hat man aus den USA übernommen“, stellte Klaus fest. „Wildhüter täte es auch, aber heutzutage muss ja alles amerikanisch klingen. Gehen wir Mal rüber. Ich glaube, da ist jemand.“

Ein Mann in Rangerkleidung und mit einem „Mountain-Peak“-Hut, wie ihn auch die kanadische berittene Polizei trug, trat aus dem Stationsgebäude und sah den Ankömmlingen mit einem Lächeln entgegen. „Herzlich willkommen im Naturpark Hohes Venn-Eifel“, sagte er zur Begrüßung. „Mein Name ist John Turner und ich bin hier der zuständige Ranger.“

„Sie sind aber kein Deutscher, oder?“, fragte Lydia Proschke.

Der Farbige lächelte. „Inzwischen schon, junge Frau.“ Er deutete mit einer ausholenden Bewegung um sich. „Ich war früher Soldat bei den amerikanischen Streitkräften. Habe ein nettes Mädel kennengelernt und bin nach meiner Entlassung hier hängen geblieben.“ Er sah Klaus an. „Sie waren noch nie hier?“

„Nein, ein Bekannter hat uns von Wolfgarten erzählt“, gestand Klaus Proschke ein. „Wir wussten gar nicht, dass es ein Dorf mitten im Nationalpark Eifel gibt. Ist ja sehr schön hier. Jedenfalls haben Sie hier eine Menge Wald.“

„Sogar eines der größten geschlossenen Waldgebiete des Rheinlands“, erklärte der Ranger mit sichtlichem Stolz. „Über dreiunddreißig Quadratkilometer. Zur Hälfte Buche und Eiche, der Rest Eiche, aber deren Anteil nimmt ab. Einige Bereiche des Waldes überlassen wir sich selbst. Umgestürzte Bäume und abgebrochene Ästen lassen wir im Wald, so dass wir allmählichen den Urzustand wieder herstellen können. Wissen Sie, Totholz bietet Flechten, Pilzen, Moosen und einer Menge Insekten einen natürlichen Lebensraum. Daraus ziehen Tiere und Pflanzen ihren Nutzen, die hier ein seltenes Refugium gefunden haben.“ John Turners Lächeln vertiefte sich. „Hier finden sie genügend Platz und Ruhe, sich ungestört zu entwickeln und ihre Verhaltensweisen auszuleben. Besonders für störanfällige Arten ist so ein geschützter Lebensraum entstanden.“

„Aha“, sagte Lydia, deren Interesse sich in überschaubaren Grenzen hielt.

Ihr Mann Klaus hingegen nickte. „Scheint aber nicht sehr vielen bekannt zu sein, sonst wäre hier mehr los.“

„An den Wochenenden und in der Urlaubszeit ist hier die Hölle los. Aber viele Besucher des Parks fahren natürlich auch zur Dreiborner Hochfläche und, natürlich, an die Urfttalsperre.“

„Ha“, machte Lydia triumphierend. „Ich sagte doch, wir hätten zur Talsperre fahren sollen.“

Im Gegensatz zu Klaus, nahm Turner ihr die Bemerkung nicht übel. Der Ranger deutete auf eine Karte, die an der Wand der Station hing. „Glauben sie mir, der Besuch des Parkbereiches lohnt sich. Wir konnten hier viele Farn- und Blütenpflanzen nachweisen, von denen eine ganze Reihe auf der Roten Liste der Bundesrepublik oder der des Landes stehen“, erklärte er mit sichtlichem Stolz. „Öffentlichkeitswirksamer sind natürlich die größeren Tiere wie Luchs, Wildkatze oder Rothirsch. Auch Rehe, Mufflons und Wildschweine, die hier ein Rückzugsareal gefunden haben. Das heißt für Sie, dass Sie sich im Zweifelsfall zurückziehen. Die Natur geht hier vor, aber das werden Sie als Naturfreund ja sicherlich verstehen.“

 

„Ja, natürlich.“ Klaus Proschke deutete auf seine Kamera. „Aber fotografieren wird man doch wohl dürfen, nicht wahr?“

„Selbstverständlich. Hier, auf der Karte sehen Sie die Wanderwege und den Jägerpfad. Ein Stück nördlich fließt der große Böttenbach. An ihm sind sogar einige Biber heimisch geworden.“ Turner sah das Interesse in den Augen von Klaus Proschke und lächelte entschuldigend. „Der größte Teil des großen Böttenbachs liegt aber im abgesperrten Bereich.“

„Dann sind die interessanten Dinge also hinter diesem Zaun“, brummte Klaus.

„Ich kann Ihnen versichern, als Naturfreund werden Sie voll auf ihre Kosten kommen. „Folgen Sie am Besten dem Ziegenbendges Weg. Alles Rechts von ihm und jenseits des Zauns können Sie fotografieren, aber Sie dürfen das Areal natürlich nicht betreten. Ein gutes Stück den Weg entlang, fließt der Bach auf die linke Seite hinüber. Es könnte also durchaus sein, dass Sie doch einen Biber zu Gesicht bekommen.“ Er sah die Proschkes mahnend an. „Sie sollten aber auf den vorgeschriebenen Wegen bleiben.“

„Selbstverständlich.“

Turner schob seinen Rangerhut ein Stück in den Nacken. „Alles auf der rechten Seite des Ziegenbendges Weges betreten selbst wir Ranger nur in absoluten Ausnahmefällen.“

„Verstehe“, seufzte Klaus. „Das Rückzugsareal.“

„Genau, das Rückzugsareal. Da müssen wir um Ihr Verständnis bitten.“

„Kein Problem“, versicherte Klaus Proschke. „Ich wollte mir ohnehin erst einmal einen Überblick verschaffen.“

„Es wird Ihnen gefallen“, versicherte John Turner.

„Gibt es hier gefährliche Tiere?“, fragte Lydia rasch, als der Ranger Anstalten machte, in die Baracke zurück zu treten.

„Nun, wir haben hier Wildschweine und ein Luchspaar. Aber die Wildschweine haben ihr Revier mehr im Süden, in Richtung auf den alten Feuerwachtturm. Von dort aus kann man sogar ihre Suhle sehen und gelegentlich lassen sich da ein paar hübsche Fotos schießen. Die Luchse halten sich hinter der Absperrung auf der anderen Seite des Böttenbachs auf. Dennoch sollten sie ganz allgemein beachten, sich keinen Wildtieren zu nähern und deren Ruhe nicht zu stören. Ansonsten beachten sie die allgemeinen Vorschriften.“

„Weiß ich“, meinte Klaus ungeduldig. „Ist nicht mein erster Naturpark. Auf den Wegen bleiben, nicht rauchen und kein offenes Feuer, keine Abfälle und so weiter und so weiter.“

„Und keine Musik oder lautes Geschrei“, fügte Turner auflachend hinzu. „Der Besuch des Parks ist natürlich kostenfrei. Das gilt auch für die Wegekarte. Falls Sie Interesse an Souvenirs, Informationsschriften oder Erfrischungen haben, erhalten Sie die im Laden von Frau Honnig.“ Der Ranger deutete zum Kiosk. „Gehen sie einfach hinüber und klopfen sie an die Tür. Nun, dann also einen schönen Aufenthalt. Falls etwas sein sollte, so können sie die Rangerstation über die 113 erreichen. Sie haben ein Mobiltelefon dabei?“

„Ein Handy? Klar, haben wir.“

„Handy, sicher.“ Turner zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich kann mich mit diesem deutschen Begriff noch immer nicht richtig anfreunden.“ Er hob grüßend die Hand und ging ins Gebäude zurück.

Klaus Proschke vergewisserte sich, dass er Reserveakku und zusätzliche Chipkarte für seine Digitalkamera eingesteckt hatte. „Schön, machen wir uns auf den Weg.“ Er deutete vor sich. „Da, den Weg. Der führt am Zaun und diesem Böttenbach entlang.“

Ab der Rangerstation war der Ziegenbendges Weg kaum mehr als ein Feldweg. Rechts und links seiner Mitte hatten die Reifen von Fahrzeugen Spuren hinterlassen, die jedoch nicht besonders tief waren.

„Wir hätten auch mit dem Auto fahren können“, meinte Lydia prompt.

„Die fahren hier mit Forstfahrzeugen herum“, entgegnete Klaus. „Als Besucher geht man in einem Naturpark zu Fuß. Du fährst beim Einkaufsbummel doch auch nicht mit dem Auto durchs Geschäft, oder?“

Lydia sah ihn missbilligend an und fächelte sich frische Luft zu.

Der Weg führte in eine urwüchsige und unberührte Landschaft hinein. Wildblumen und Gräser wucherten am Wegesrand, während zwischen den Bäumen dichte Farnbüschel wuchsen. Lydia verzog das Gesicht, als ein dicker Käfer vor ihr über den Weg kroch und wurde dann vom Anblick eines Eichhörnchens wieder versöhnt. Manchmal wichen die Bäume etliche Meter zurück, an anderen Stellen führte der Pfad unter ihren schützenden Zweigen hindurch. Kleintiere und Insekten huschten und summten umher. Ab und zu war das Knacken eines zerbrechenden Zweiges zu hören.

„Ich hoffe, wir sehen etwas Interessantes.“ Klaus fingerte an seiner Kamera. „Nicht, dass wir den ganzen Weg umsonst gemacht haben.“

Irgendwo war ein Specht zu hören und Lydia zuckte zusammen. „Ich hoffe, wir begegnen keinem Wildschwein. Die sollen gefährlich sein.“

„Du hast ja gehört, die sind woanders.“

„Aber dieses Knacken hört sich an, als würde uns jemand verfolgen.“

„Ist wahrscheinlich ein Hirsch oder ein Reh“, erwiderte er. „Außerdem ist der Wald hier ziemlich unberührt. Manchmal brechen alte Bäume auseinander.“

Der Weg führte sie am Zaun zum abgesperrten Bereich entlang. Klaus betrachtete das Metallgeflecht mit Unbehagen. „Ist ziemlich neu“, brummte er. „Den haben die erst vor Kurzem aufgestellt.“

„Ist ja alles neu hier. Bestimmt wegen der Luchse.“ Lydia schauderte zusammen. „Die sollen gefährlich sein.“

„Für dich ist ja jedes Tier gefährlich, dass du nicht als Kleidungsstück erwerben kannst.“

„Was soll das denn heißen?“

„Du findest ja jedes Tier gefährlich, dass nicht als Kragen um deinen Hals hängt.“

„Also, hör mal…“

„Ach, schon gut. Lass uns weitergehen.“

Die Vielzahl der Pflanzen und Tiere war tatsächlich überraschend und doch interessierten sie Klaus nur wenig. Die von Ranger Turner erwähnten Luchse fand er da schon weitaus spektakulärer. Die Wildkatzen zu fotografieren würde sich wirklich lohnen. Allerdings hatte er schon gehört, dass die Tiere sehr scheu und eher nachtaktiv waren. Keine guten Aussichten, sie auf den Chip zu bannen. Trotzdem war es ein reizvoller Gedanke.

Klaus schätzte, dass sie inzwischen zwei Kilometer zurückgelegt hatten, als Lydia ihn plötzlich anstieß. „Du, da vorne liegt was.“

„Hm? Wo?“

„Na, da vorne, wo die ganzen Fliegen sind.“ Sie deutete aufgeregt vor sich. „Da, Rechts.“

Sie waren beide neugierig und näherten sich der Stelle.

„Ich glaube, das ist ein Hund“, meinte Lydia und verzog angewidert das Gesicht. „Aber man kann nicht mehr viel erkennen.“

Klaus ging in die Hocke. Auf der anderen Seite des Zauns lag ein kleiner Kadaver, den er nicht richtig zuordnen konnte.

„Fass das Vieh bloß nicht an“, warnte Lydia. „Nachher hat es was Ansteckendes.“

„Der Ranger hat nichts von Tollwut gesagt.“ Klaus nahm einen kleinen Ast vom Boden auf. Das tote Tier lag dicht am Zaun. „Aber keine Sorge, ich gebe Acht.“

Er stocherte an dem Kadaver. „Der kann noch nicht lange hier liegen. Sieht nach einem Hund aus. Frage mich, wie der auf die andere Seite rüber gekommen ist.“

„Lass uns hier verschwinden, das sieht eklig aus.“

„Könnte auch ein Wolf gewesen sein“, vermutete Klaus.

„Ein Wolf? Gott, der arme. Das sind doch diese süßen Hunde mit den schönen blauen Augen.“

„Du meinst Huskies“, korrigierte er. Er stocherte erneut. „Dem ist der Kopf abgerissen worden. Das sollten wir dem Ranger melden.“

Irgendwo war ein lautes Knacken zu hören.

„Komm, Klaus, lass uns jetzt wirklich hier verschwinden“, sagte Lydia. „Das ist mir jetzt echt zu unheimlich.“

Er kannte diesen Blick an ihr und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Wir sind gerade Mal angekommen.“

„Wir müssen wieder bis nach Köln.“

„Na schön“, lenkte er widerwillig ein. „Heute Abend ist ohnehin die Übertragung von dem Länderspiel.“

„Du und dein Fußball.“

„Na und?“ Er richtete sich auf und warf den Ast von sich. „Dafür siehst du dir diese hirntoten Talkshows an.“

„Klaus?“

„Was ist denn?“

„Da war was.“ Sie deutete in den Wald hinein und ihre Hand zitterte leicht. „Was großes.“

Er stieß ein leises Schnauben aus. „Jetzt lass dich von dem Kadaver hier nicht verrückt machen. Ist ganz normal, dass gelegentlich ein Tier stirbt oder gerissen wird.“

„Trotzdem habe ich da was gesehen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und sah ihn mit unverhohlener Angst in den Augen an. „Klaus Eduard Proschke, ich erwarte, dass wir jetzt sofort umkehren.“

Er dachte an ihre häufigen Migräneattacken, die von schlechten Kochkünsten begleitet wurden, und nickte widerwillig. „Schon gut. Von mir aus. Warte, ich mache nur schnell ein paar Fotos.“

„Du bist abartig. So was fotografiert man nicht.“

„Ist für den Ranger“, beruhigte er sie.

Erneut war das Knacken zu hören und als Klaus rasch in Richtung des Geräusches blickte, glaubte er, ein dunkles Schemen zu erkennen, welches sich zwischen den Bäumen bewegte. Er war sich nicht sicher, doch das Tier schien die Größe eines erwachsenen Menschen zu haben.

„Hast du es gesehen?“ Lydias Stimme vibrierte leicht.

„Ja, hab ich“, erwiderte er nachdenklich. „Sah mir aber nicht nach einem Tier aus.“

„Das ist mir Scheißegal“, ächzte sie. „Jemand oder etwas schleicht da herum und mir ist völlig egal, ob das so ein Perverser oder sonst was ist.“

Erneut war eine schnelle Bewegung zu erkennen. Als spränge ein Schatten von einem Baum zum nächsten. Und dieser Schatten kam mit jeder Bewegung näher.

„Hallo, wer ist da?“, rief Klaus, der nun selbst ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hatte.

„Bist du wahnsinnig?“, keuchte Lydia. „Du machst das Ding ja noch auf uns aufmerksam.“

„Der weiß ohnehin, dass wir hier sind.“ Klaus sah sich um und bückte sich nach einem stärkeren Ast. Das solide wirkende Holzstück gab ihm das Gefühl, nicht mehr ganz Schutzlos zu sein.

„Komm jetzt endlich!“ Die Panik in ihrer Stimme war unverkennbar.

Da war die Bewegung erneut. Viel näher als zuvor.

Klaus Proschke riss entsetzt die Augen auf. „Oh, Scheiße“, keuchte er. „Oh, Scheiße.“

Lydia wartete nicht auf ihren Mann. Sie schrie auf, warf sich herum und begann zu rennen.

Klaus hingegen starrte dem Wesen wie gelähmt entgegen. Er wollte den Ast heben, aber der schreckliche Anblick ließ ihn förmlich erstarren.

„Oh, mein Gott“, ächzte er.

Die Kreatur hatte die Größe eines Menschen und auch die ungefähre Gestalt eines solchen. Doch damit hörte die Ähnlichkeit auch auf. Der Schädel ähnelte dem einer Katze und das Wesen war vollständig mit einem unregelmäßig gestreiften Fell bedeckt. Hornige Krallen krümmten sich Klaus entgegen und als sich der Rachen öffnete, wurden lange Reißzähne sichtbar. Die geschlitzten Pupillen der Augen schienen bösartig zu funkeln.

„Oh, mein Gott“, wiederholte Klaus entsetzt.

Die monströse Gestalt ging ein wenig in die Knie, duckte sich und sprang.

Klaus Proschke spürte ein Brennen im Hals und warme Flüssigkeit, die seine Kehle hinunter sickerte. Dann einen scharfen Schmerz, als ein Hieb der Krallen seine Baudecke öffnete und die Eingeweide hervorquollen. Er sackte auf die Knie und seine Augen wurden bereits starr, noch während sein Körper leblos nach vorne sank.

Das Wesen hielt sich nicht mit dem Sterbenden auf. Mit gleitenden, elegant wirkenden Bewegungen sprang es hinter Lydia Proschke her.

Diese schrie und rannte um ihr Leben, doch gegen die Schnelligkeit des Verfolgers hatte sie keinerlei Chance. Das letzte, was sie in ihrem Leben vernahm, war das Bersten ihres Schädeldachs, als sich die gewaltigen Fänge unbarmherzig hinein bohrten.