Wiener Hochzeitsmord

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Jetzt fehlte nur noch Dr. Frieds Bruder Albert. Es war untypisch für ihn, dass er nicht überpünktlich erschien. Als Notar legte er Wert auf Genauigkeit und Zuverlässigkeit in allen Lebenslagen. Diese Eigenschaft hatte die beiden Brüder mehr auseinandergetrieben als zusammengebracht. Nicht dass sie zerstritten wären, nicht im Geringsten. Dr. Otto Fried liebte seinen Bruder Albert und Dr. Albert Fried liebte seinen Bruder Otto. Da gab es keinen Zweifel. Ihre Bruderliebe wuchs allerdings im selben Maße, in dem sie Distanz zueinander wahrten – räumlich wie zeitlich.

Wann hatten sie einander das letzte Mal gesehen? Dr. Fried dachte an das Begräbnis seiner Frau, aber so lange konnte es nun auch wieder nicht her sein. Das wäre eine Schande gewesen, den eigenen Bruder eine so lange Zeit … Nein, das konnte nicht stimmen. Die Verlobungsfeier! Natürlich! Vor ziemlich genau einem Jahr, in den Weinbergen Wiens, als Picknick gestaltet. Dr. Albert Fried hatte von dem Bräutigam seiner Nichte denselben Eindruck gehabt wie Dr. Otto Fried und es dem Bruder gleich zugeflüstert: »Eine gute Wahl, dieser junge Mann. Gratuliere. Der wird seinen Weg machen.«

Dr. Albert Fried trug einen Backenbart, in dem nur mehr marginale Spuren des ehemaligen tiefen Schwarz zu erkennen waren, das zudem dereinst sein üppiges Haupthaar bestimmt hatte. Üppig war es immer noch, doch inzwischen begann sogar schon das Grau zu weichen und einem bleichen Weiß Platz zu machen.

Ganz anders Dr. Otto Fried: Sein Gesicht war glatt rasiert, einzig als junger Mann hatte er einmal mit einem Oberlippenbart geliebäugelt. Es waren jene Zeiten gewesen, in denen er seine Wirkung auf junge Frauen hatte testen wollen. Er war vielleicht nicht gerade unwiderstehlich, aber auch nicht völlig erfolglos. Und sein Haupthaar – nun ja, die Fülle wie bei seinem Bruder hatte er selbst als Kind nicht aufbringen können. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden.

Das Haustor wurde geöffnet und die alte Frau, die Dr. Fried bei seinem ersten Besuch bei Pater Anzelm begegnet war, streckte ihren mageren Kopf heraus. Sie musterte die Versammelten auf der Straße und schien sie aufgrund der festlichen Kleidung für die richtige Gesellschaft zu befinden, denn mit einem einladenden Lächeln zog sie die Tür weiter auf und sagte etwas in ihrer Sprache, was »herein« oder »Kommen Sie bitte weiter« bedeutete.

»Zuerst ihr alle«, ordnete Dr. Fried an. »Wir kommen dann nach.«

Natürlich machte er von seinem väterlichen Vorrecht Gebrauch, die Braut persönlich vor den Altar zu führen, um sie dort dem Bräutigam zu übergeben. Max Becker legte kurz seine Hand auf Amalias Schulter, drückte sie sanft und strahlte sie an.

»Nimmst du sie?«, bat ihn Amalia und hielt ihm die Schachtel mit der Kerze entgegen. Er würde wissen, wo er sie aufzustellen hatte.

Während die kleine Hochzeitsgesellschaft der alten Frau die Treppe hinauffolgte, nahm Dr. Fried seine Tochter bei beiden Händen, der zarte Brautstrauß zwischen ihnen wie eine verbindende Brücke.

»Nun ist es also so weit«, sagte Dr. Fried und atmete schwer aus.

Er fühlte sich gut und er wusste, seiner Tochter ging es ebenso. Er drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange, als ein Rufen in seinem Rücken ertönte.

»Sind wir zu spät? Ihr habt doch noch nicht angefangen!« Es war Dr. Fried, Albert, der Notar, im Schlepptau seine Frau Victoria und sein Sohn Wilhelm. Er hatte ihn mit dem zweiten Vornamen seines Bruders benannt. Eines der wenigen Zeichen, dass zwischen ihnen beiden eine engere Verbindung bestand, als sie sich einzugestehen bereit waren.

Wilhelm war ein Nachzügler in der Familie Albert Fried. In Kürze würde er fünfzehn werden und hatte optisch wie charakterlich das meiste von seiner Mutter mitbekommen.

»Rauf mit dir!«, rief Dr. Otto Fried dem Neffen zu. Er war als Ministrant vorgesehen und Pater Anzelm wartete sicher schon auf ihn.

»Wir wollten deutlich früher hier sein«, entschuldigte sich Albert Fried und reichte seinem Bruder die Hand.

Der wandte sich zuerst Frau Dr. Albert Fried zu, begrüßte sie mit einem Handkuss und Küsschen links und rechts auf die Wange, dann griff er nach der kräftigen Hand seines Bruders. Sie blickten sich bei dem langen und festen Händedruck tief in die Augen, als ob jeder sich in der dahinterliegenden Seele des anderen wiedererkennen würde.

Wilhelm stürmte die Stufen hinauf, während die beiden Frieds und Amalia unten innehielten.

»Ich freue mich für dich«, wandte sich Dr. Albert Fried an seine Nichte.

Diese sah ihn mit einem milden Gesichtsausdruck an. Es war dem Verhältnis der beiden Männer zu verdanken, dass sie ihrem Onkel nicht oft im Leben begegnet war. Aber jedes Mal hatte er sich als ihr sehr zugewandter Mensch erwiesen.

»Dein Mann – dein zukünftiger Mann«, er grinste und blickte aus den Augenwinkeln zu Dr. Otto Fried hinüber, »ist ein großartiger Mensch. Als ich ihn damals bei eurer Verlobung kennenlernen durfte, war mir das sofort klar. Du hast eine gute Wahl getroffen, meine Kleine, und er noch viel mehr!«

Amalia ließ sich von ihrem Onkel in den Arm nehmen. Er roch nach Seife und einem dezenten Eau de Toilette.

»Es ist so weit!«, rief Wilhelm keuchend, der mit lauten Schritten die Stufen heruntergetrampelt kam.

Er trug den Talar und das strahlend weiße Rochett des Ministranten. Wild gestikulierend bedeutete er den dreien, ihm zu folgen.

»Na dann …«, sagte Dr. Albert Fried, nickte seinem Bruder zu, zwinkerte in Richtung Amalia.

Er folgte Wilhelm hinauf in die Kapelle. Dr. Fried und Amalia machten sich bereit, würdig und feierlich die Stufen hinaufzusteigen. Es waren die letzten Minuten, die letzten Sekunden, in denen Dr. Frieds Leben noch das alte war. So kann man den Wandel in Zahlen fassen, dachte er sich, als sie am Fuß der Treppe Position bezogen, fünfzehn Stufen, zehn Stufen, noch fünf Stufen – zehn Sekunden, neun, acht … Amalia hatte sich bei ihm eingehakt, diesmal befand sich das Brautsträußchen zwischen ihnen wie ein verbindender großer Knopf.

Schwerer Atem war plötzlich draußen vor dem Haustor zu hören. Dr. Fried wollte gerade die erste Stufe mit seiner Tochter nehmen, als sich ein schmaler Kopf und ein schweißglänzendes Gesicht zur Tür hereinschoben. Der Mann trug einen abgewetzten Filzzylinder, sein festlicher Anzug wirkte, als wäre er ihm wenigstens eine Nummer zu groß.

»Tut mir leid, ich bin wohl zu spät«, sagte der Mann schweratmend.

Amalia fiel ihm um den Hals, während er aus dem Hosensack ein weißes Taschentuch hervorfingerte und sich umständlich das Gesicht abwischte.

»Onkel Novi!«, rief Amalia freudig aus.

»Tut mir leid, Herr Doktor«, flüsterte der Novak in Richtung Dr. Fried, während die junge Frau seinen Hals umklammerte.

»Gehen S’ schnell rauf, Novak«, wies ihn Dr. Fried freundlich an. »Suchen S’ sich einen Platz, es geht gleich los.«

Wie als Kommando erklang die Orgel von oben herunter und spielte etwas unsicher den Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Der Novak stieg schnell die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und verschwand um die Ecke. Dr. Fried war verwundert, dass sein Assistent die Treppe auf so sportliche Weise bewältigte, aber ihm war in der letzten Zeit schon aufgefallen, dass dessen beeinträchtigtes Knie sich stärker belasten ließ als früher. Nun würde er also gleich schnellen Schrittes in die Kapelle hineinstürmen. Die Hochzeitsgäste würden sich wundern, dass er es war, der zu den musikalischen Klängen in die Kapelle trat, dachte sich Dr. Fried. Ja, er fühlte sich heiter und leicht.

»Gehen wir!«, forderte er seine Tochter auf und sie hakte sich erneut bei ihm unter.

Mendelssohn-Bartholdy beflügelte ihn. Er konnte sich nicht mehr erinnern, in welcher Stimmung er damals gewesen war, als er seine Frau diese Stufen nach oben geführt hatte. Sicher nicht so locker wie heute. Dabei veränderte auch dieser Tag sein Leben grundlegend, so wie es damals gewesen war. Die Stanislauskapelle schien ein Ort zu sein, der immer wieder massiv in seinen Lebenslauf eingriff.

Maximilian Ritter von Becker stand vor dem Altar, der weit geöffneten schmalen Tür zugewandt, durch die Dr. Fried und Fräulein Dr. Amalia Wilhelmina Fried vor die Festgäste und vor Gott traten. Dr. Fried übergab seine Tochter dem jungen Mann, nickte ihm ernsthaft zu und gesellte sich zu den anderen, die sich in verschiedenen Reihen platziert hatten. Der Novak saß ganz hinten, alleine in der letzten Reihe, schüchtern und in sich zusammengesunken, immer noch das Gesicht mit dem Taschentuch wischend, vor der mobilen Orgel, deren Pfeifen ihm ziemlich laut in die Ohren bliesen. Seinen abgelebten Zylinder hatte er auf den Stuhl neben sich abgelegt.

Dr. Fried nahm in der ersten Reihe Platz, neben der Bräutigammutter, der die Rührung des Augenblicks anzusehen und am schniefenden Atem anzuhören war. Die Brautjungfern saßen am äußersten Ende der Reihe. Und dann trat Pater Anzelm auf.

Es war wirklich ein Auftritt. Er hatte ein prachtvolles Ornat angelegt, viele Goldfäden waren hier eingearbeitet worden. Er kam durch einen kleinen Durchgang rechts neben dem Altarbereich, der von der restlichen Gemeinde durch eine hüfthohe schmiedeeiserne Begrenzung abgetrennt war. Das doppelflügelige Türchen in der Mitte stand offen, davor zwei gepolsterte Stühle und die Gebetsbank für die zu Trauenden. Wilhelm folgte als Ministrant dem Priester und vermied jeden Blickkontakt mit den Hochzeitsgästen. Dr. Fried bemerkte die alte Frau in dem Raum hinter der Kapelle, der als Sakristei diente. Schnell schloss sie die Tür und die Hochzeitsgesellschaft war für sich allein, konzentriert auf das Geschehen vorne vor dem Altar.

Pater Anzelm machte das Zeichen, dass alle sich erheben mögen, und sprach in die Bekreuzigungen der Gäste hinein die ersten Worte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

 

Viertes Kapitel:
29. Juni, nachmittags

In der Bierklinik servierte man traditionelle Wiener Küche. Dr. Fried wäre es im Traum nicht eingefallen, irgendein exotisches Lokal, eines von diesen Mode-Restaurants, für die Hochzeitsfeier in Betracht zu ziehen. Bodenständiges Essen galt ihm als die Krönung des Tages, als das Tüpfelchen auf dem i.

Die Kellner sausten durch die verschiedenen Stuben des Lokals. Sie trugen einheitlich schwarze Hosen und weiße Hemden und hatten lange schwarze Schürzen um die Hüften gebunden. Die Gäste waren an diesem Samstag wohl eher aus der Nachbarschaft zusammengesetzt. Arbeiter und Büromitarbeiter waren keine zu sehen. Die Baustelle gegenüber ruhte seit ein paar Tagen, worüber Dr. Fried sehr froh war. Keine lästigen Geräusche, kein Lärm, der die Zeremonie stören konnte.

Pater Anzelm hatte seinen Part perfekt gespielt. Sicher, für ihn war es kein Spiel, sondern ein hochheiliger Akt, ein Sakrament, das sich die beiden Eheleute gegenseitig gaben unter seiner Leitung. Nur seine Predigt war Dr. Fried etwas zu moralisierend gewesen, aber was sollte er von einem katholischen Priester anderes erwarten.

Max Becker war ihm nervöser erschienen als ursprünglich gedacht. Hatte er noch heiter und mit einem von innen herausleuchtenden Lächeln Amalia aus der Hand des Brautvaters entgegengenommen, so war seine Miene, seine ganze Körpersprache mit einem Schlag gehemmter gewesen, als der Priester auftrat. Ja, so war das, wenn man dem Ernst des Lebens real ins Antlitz blickte …

»Im Hof! Im Hof!«, rief der Oberkellner dem langsam sich hereinschleichenden Brautvater zu.

Dr. Fried hatte – als Gastgeber – als Erster die Kapelle verlassen, während alle anderen sich in die Arme fielen und zum Teil unter Tränen Gratulationen und beste Wünsche zum Ausdruck brachten. Mit einem Seitenblick in die Sakristei hatte Dr. Fried beim Hinausgehen bemerkt, wie die alte Frau und Pater Anzelm über das Körbchen gebeugt standen und die Scheine und Münzen zählten, die die Frau während der Kollekte eingesammelt hatte.

Es waren nicht einmal hundert Meter, die die Bierklinik von der Stanislauskapelle trennten. Und über diese kurze Distanz zog sich die Hochzeitsgesellschaft wie ein unendlich ausgedehnter Strudelteig.

Zuallererst also Dr. Fried. Er wollte die Gäste in den kleinen Innenhof dirigieren, wo eine Tafel vorbereitet war. Weißes Tischtuch, weiße Servietten, das beste Tafelgeschirr, das das Lokal zu bieten hatte. Silberbesteck? Wer weiß, Dr. Fried hatte es nicht explizit verlangt, wahrscheinlich verfügte das Lokal gar nicht über solchen Luxus. Man musste ja nicht übertreiben.

Recht schnell nach Dr. Fried folgte Anton Novak. Immer noch wirkte er wie verloren, zum Glück hatte Dr. Fried Namenstäfelchen bei jedem Sitzplatz aufstellen lassen und seinen Assistenten neben sich selbst platziert. Nun standen die beiden mitten im Lokal, auf dem Weg zwischen Eingang und Zugang zum Hof – und den Kellnern im Weg. Stets wurden sie durch ein hastiges »’tschuldigung« oder ein etwas angriffigeres »Achtung!« zur Seite geschoben und waren auch dort ein ärgerliches Hindernis für das Personal.

Das nächste Grüppchen, das laut schnatternd in das Lokal flatterte, waren Amalia und ihre beiden Brautjungfern. Man könnte meinen, das große Ereignis stünde noch bevor, so aufgeregt und hochgeputscht wirkten die drei.

»Dort hinein«, dirigierte sie Dr. Fried. »Also hinaus natürlich …«

Die drei jungen Frauen schienen ihn gar nicht zu bemerken und zogen unbeirrt an ihm vorüber durch die halb offen stehende Tür in den Hof. Den Brautstrauß hielt Amalia fest in beiden Händen, während zur Linken und zur Rechten sich Julia und Veronika eingehakt hatten. Julia trug mit Bedacht die Schachtel, in der sich Amalias Kerze befand.

»Ich geh’ auch schon mal raus«, sagte der Novak und folgte den Frauen.

Durch die Scheibe der Hoftür sah Dr. Fried, wie Amalia ihrem »Onkel Novi« erneut um den Hals fiel. Der hielt den Filzzylinder von sich, damit ihm ja kein Leid geschehe, und als die Braut von ihm abließ, zog er ein schmales Kuvert aus seinem Sakko und überreichte es ihr mit feierlicher Miene. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, dachte sich Dr. Fried, der genau wusste, wie bescheiden der Lohn seines Mitarbeiters war, der niemals die Chance hätte, in die Gehaltsklassen akademischer Beamter aufzusteigen. Die Welt war manchmal ungerecht.

Erneut schwappte ihm ein genuscheltes »’tschuldigung« entgegen und Dr. Fried trat schon wieder zur Seite, um dem heranrasenden Kellner auszuweichen. Dabei geriet er gefährlich nah an den Tisch eines älteren Paares, das sich schweigend gegenübersaß und tief in die Augen blickte. Verliebtheit in reiferen Tagen, überlegte Dr. Fried amüsiert und gönnte es den beiden. An einem Tag wie diesem!

»Hierher!«, rief Dr. Fried, als er Frau Ritter von Becker und Lucia eintreten sah. Die Hochzeitsgesellschaft schien sich tatsächlich in Kleinstgruppen im Lokal einzufinden.

Wenn das so weiter ging, würde es wenigstens eine halbe Stunde dauern, bis alle beisammen waren. Und das für einen Weg, der bei normalem Schritttempo ein bis eineinhalb Minuten in Anspruch nehmen sollte.

Der ältere Mann an dem Tisch, dem Dr. Fried so bedrohlich nah gekommen war, hatte einen Teller Suppe vor sich stehen. Als aufmerksamer Beobachter bemerkte Dr. Fried, dass der Inhalt des Tellers nicht dampfte. Der Mann musste seine Suppe kalt werden gelassen haben über sein ununterbrochenes fasziniertes Starren auf die Frau ihm gegenüber.

Eigentlich hatte sich Dr. Fried vorgestellt, dass alle schnell eintreffen würden und er den Mittagstisch mit einer kurzen Rede eröffnen könnte. Einer Rede über die Zukunft der beiden jungen Eheleute – indirekt über seine eigene Zukunft, die nun eine andere Richtung nahm. Stattdessen spazierte Georg gelassen mit Wilhelm auf ihn zu. Wilhelm wirkte wieder wie ein normaler Jugendlicher, abgesehen von dem an ihm deplatziert wirkenden Festanzug.

»Macht es euch draußen schon mal gemütlich«, schickte Dr. Fried sie gleich weiter. »Wenn alle da sind, werde ich kurz das Kommando übernehmen.«

Georg lächelte vielsagend, als wollten seine Lippen den Satz »Du hast doch sowieso alles unter deinem Kommando« zurückhalten. Er legte seine Hand auf Wilhelms Rücken und schob ihn zwischen Dr. Fried und einem böse dreinblickenden Kellner vorbei.

»Enge Stube«, murmelte Georg und ging mit ausgestreckten Armen auf die Braut zu.

Dr. Fried dachte sich nichts bei Georgs Verhalten. Es war die Mühe nicht wert. Gerade trippelte alleine und verlassen Max Beckers Schwester herein. Sie wirkte hilflos und ohne Orientierung, also nahm Dr. Fried sich ihrer an und führte sie in den Hof hinaus. Er musste ja nicht den Haushofmeister spielen und alle empfangen, die anderen würden den Weg zur Festgesellschaft schon finden.

Platz genommen hatte bislang niemand. Der Novak stand aber bereits hinter seinem Stuhl, die Hände auf die Lehne gelegt, als wollte er jederzeit bereit sein, sich hinzusetzen. Dr. Fried beschloss, die Gäste noch ein paar Minuten miteinander plaudern zu lassen und den Kellner zu ersuchen, den gekühlten Champagner zu servieren. Sollten alle zuerst einmal locker anstoßen, und wenn die restlichen Gäste und vor allem der Bräutigam dann eingetroffen waren, würde er alle auf ihre Plätze bitten und den jungen Eheleuten seine speziellen Worte auf den weiteren Lebensweg mitgeben.

Der Innenhof der Bierklinik war so klein, dass sich gerade eine größere Tafel ausging. Sie hatten also quasi ein »Chambre séparée«, überspannt von der dichten Blattkrone eines Kastanienbaumes, der das einzige Grün in dem Hof war. Der Boden war mit Kieselsteinen bedeckt, bei jedem Schritt, den man tat, knirschte es unter den Füßen.

Der Kellner stellte ein Tischchen mit dem Sektkübel bereit, der fast randvoll mit Eis gefüllt war. Darin steckte die Champagnerflasche. Jeder würde ein Glas erhalten, zum Anstoßen und um das Brautpaar hochleben zu lassen. Danach herrschte freie Getränkewahl.

Der Novak sah dem Kellner skeptisch zu. Er freute sich eher auf das, was danach kommen würde: ein ordentliches großes Glas Bier, die weiße Schaumkrone, das von der Kühle des Gerstensaftes außen beschlagene Glas. Sein Zeigefinger bohrte sich in den Kragen, um ihn ein wenig zu lockern.

Noch immer keine Spur von den anderen, vor allem von Max nicht. Dr. Fried wies den Kellner an, langsam einzuschenken und die Gläser ohne Eile an die Gäste zu verteilen. Er bemühte sich, die Zeit so weit auszudehnen, um dann, wenn die Gesellschaft vollständig war, auf den Punkt genau allen ihre Gläser angeboten zu haben.

Da kamen sie endlich: Lucia, Frau Dr. Albert Fried und Albert selbst traten fröhlich in den Hof hinaus und nahmen überrascht zur Kenntnis, dass bereits der Champagner ausgegeben wurde.

»Holla, lieber Bruder!«, rief Dr. Albert Fried aus. »Hast du es so eilig, deine Gäste abzuspeisen und wieder nach Hause zu schicken?« Er lachte als Einziger laut auf und strich sich mit beiden Händen über den Backenbart.

»Es fehlt noch der Bräutigam«, knurrte Dr. Otto Fried, langsam etwas verärgert. »Hast du ihn gesehen?«

Dr. Albert Fried schüttelte den Kopf. »Er wird sich schon nicht verlaufen haben«, gab er sich immer noch humorig. »Oder sollte er sich ins falsche Lokal verirrt haben? Er kommt sicher gleich mit dem Priester nach.«

Dr. Otto Fried verdrehte die Augen. Zwar gab es in die andere Richtung, die Kurrentgasse hinunter dem Judenplatz zu, ein paar Lokale, aber Max Becker wusste genauso Bescheid wie alle anderen. Schließlich hatte Dr. Fried nichts dem Zufall überlassen, auch nicht die genauen Informationen auf den Einladungen, die er fast jedem persönlich überbracht hatte.

Es war nun sicher annähernd eine halbe Stunde vergangen, seitdem die Hochzeit zu Ende war und alle aufgebrochen waren. Eigentlich hätte Max gemeinsam mit seiner Braut kommen sollen, dachte sich Dr. Fried. Nein, mit seiner Frau, die Amalia nunmehr war. Frau Dr. Amalia Wilhelmina Becker.

»Ich bin untröstlich!«, hörte Dr. Fried plötzlich Max Beckers jugendliche Stimme. »Es ist mir äußerst unangenehm!«

Er stürzte überhastet in den Hof und wurde von allen mit »Ah«- und »Oh«-Rufen empfangen. Sein Gesicht glänzte wächsern und war bleich.

»Ich habe mich plötzlich nicht wohl gefühlt«, erzählte Max Becker in die Runde und trat auf Dr. Fried zu. Leiser fügte er hinzu: »Da musste ich leider ziemlich viel Zeit auf dem … Ort …« – seine Hand wies fahrig auf das Lokalinnere – »zubringen …« Er lächelte beschämt.

»Das kann vorkommen«, beruhigte ihn Dr. Fried und legte ihm kameradschaftlich die Hand auf die Schulter. In Max’ Augen lag ein wachsähnlicher Glanz. Ihm musste wirklich sehr übel gewesen sein. Hätte ich mir nicht gedacht, dass er so sensibel und nervös ist, überlegte sich Dr. Fried. Doch eigentlich war diese Empfindsamkeit ja ein sympathischer Zug. So gab er seine Tochter wenigstens nicht in die Hände eines gefühllosen Mannes.

Jetzt musste nur noch Pater Anzelm eintreffen. Falls er überraschend seine Haushaltshilfe, die alte Frau, mitbrächte, würde sich sicher ein Stuhl finden.

»Dann schlage ich vor, wir stoßen an!«, eröffnete Dr. Fried den zweiten Teil der Feierlichkeiten und reichte Max das letzte verbliebene Glas Champagner. Auch noch auf Pater Anzelms Eintreffen zu warten, bis er den Mittagstisch eröffnete, erschien ihm nun doch zu viel des Guten.

»Ich hoffe, es wird dir nicht schaden«, flüsterte er ihm zu.

»Gewiss nicht«, entgegnete Max. »Ich fühle mich schon deutlich besser.« Langsam knirschten seine Schritte über den Kies zu Amalia hinüber, die ihn überglücklich anhimmelte.

Alle bezogen ihre Plätze. Tante Lucia machte eine unglückliche Miene über den leeren Stuhl neben sich und lächelte verlegen zu Amalia hinüber, die gemeinsam mit Max Becker schräg gegenüber in der Mitte der Tafel saß. Das Paar wurde eingerahmt von den Eltern, danach ging es in lockerer Aufteilung der Verwandtschaft weiter. Lediglich der Novak unterbrach diese Logik.

Dr. Frieds Ansprache war nicht gefühlsbetont. Dazu war er nicht der richtige Mann. Sie beinhaltete eher einen nüchternen Plan für eine langwährende Ehe. Ein Rezept. Georg schien Dr. Frieds Worte nicht zu goutieren, denn er flüsterte immer wieder zu seiner Frau hinüber, verzog das Gesicht und schüttelte sogar einmal den Kopf. Dr. Fried ließ sich davon nicht irritieren. Am Ende seiner Rede nahm er höflichen Applaus entgegen, eine kräftige Umarmung seiner Tochter und eine respektvollen Händedruck seines Schwiegersohnes.

 

Also konnte es mit dem vorbestellten Menü losgehen. Der Novak ließ sich ein Seidel Bier kommen und schien sofort wesentlich entspannter, als der Kellner es vor ihm auf den Tisch stellte. Während die Vorspeisen aufgetragen wurden, entspannen sich die ersten Tischgespräche kreuz und quer über alle Köpfe und Plätze hinweg. Ein gutes, geselliges Chaos, wie es sich Dr. Fried gewünscht hatte.

Tante Lucia warf immer wieder einen Blick auf den freien Stuhl zu ihrer Rechten. Es schien sie zu irritieren, dass Pater Anzelm immer noch nicht zu ihnen gestoßen war. Er müsste doch längst alles in seiner Kapelle in Ordnung gebracht haben.

Dr. Fried bemerkte die Unruhe seiner Schwägerin. Eigentlich hätte es ihm nichts ausgemacht, wenn Pater Anzelm trotz Zusage der Feier ferngeblieben wäre, aber Tante Lucia strömte eine Nervosität aus, die auch ihm Unbehagen verursachte.

»Du solltest nach ihm sehen und ihn zu uns herüberholen«, meinte sie schließlich. »Und wenn es nur für ein paar Minuten ist. Das gehört sich einfach so.«

Dr. Fried gab sich geschlagen. Während sich alle an der Vorspeise delektierten, stand er langsam auf und legte die Serviette auf dem Stuhl ab.

»Verhindern Sie doch bitte, dass der Kellner meinen Teller abserviert«, wandte er sich an den Novak, der sich Bierschaum von der Oberlippe wischte. »Ich bin gleich wieder da.«

Der Novak nickte stumm und säbelte an einer hauchdünnen Schnitte kalten Rindsbratens herum. Das Fleisch war exzellent. Wenigstens konnte Dr. Frieds Essen nicht kalt werden.

Während sein Chef über den Kies schlurfte, schien der Novak so richtig Freude an diesem Teil des Hochzeitsfestes zu haben. Er kannte den Menüplan bereits, Dr. Fried hatte ihm alles ausführlich erzählt und auch von den harten Verhandlungen mit dem Inhaber der Bierklinik berichtet, bei denen es um jede einzelnen Krone gegangen war. Dr. Fried war noch nie ein Mensch gewesen, der sein Geld leichtfertig ausgab.

Das alte Paar saß immer noch wortlos und blickintensiv an seinem Tisch. Der Teller mit Suppe war inzwischen abserviert und durch einen anderen mit einem herzhaften Schweinsbraten ersetzt worden. Dieser würde wohl ebenfalls mit wenig Beachtung bedacht werden und erkalten, befürchtete Dr. Fried, während er dem Ausgang zustrebte.

»Ich bin gleich wieder da«, rief er einem der Kellner zu, der in seiner Geschäftigkeit jedoch keine Notiz von ihm nahm.

Dr. Fried bog von der Steindlgasse in die Kurrentgasse ein und stand vor dem Eingang zu Haus Nummer 2. Die Tür war nicht abgeschlossen, sondern nur angelehnt. Er trat ein. Sofort hatte er das Gefühl, völlig allein in dem Gebäude zu sein. Akustisch wirkte es leer. Er stieg die abgetretenen Stufen hinauf. Der Zugang zur Kapelle stand noch so weit offen wie zuvor, als er die Hochzeitsgesellschaft als Erster verlassen hatte. Auch die Tür am Ende des kurzen Ganges war geöffnet.

»Pater Anzelm!«, rief Dr. Fried laut. »Wir warten auf Sie am Mittagstisch!«

Keine Reaktion, nur die eigene Stimme, die widerwillig von den Wänden verschluckt wurde.

Dr. Fried betrat die Kapelle. Die Stühle waren nicht mehr so exakt aufgereiht wie zu Beginn, man sah, dass hier Menschen gesessen und sich dann wegbewegt hatten. Die mobile Orgel befand sich unverändert an ihrem Platz, der Blumenschmuck hatte seinen Duft in dem kleinen Raum satt ausgebreitet.

Vielleicht war Pater Anzelm in der Sakristei und hatte ihn nicht gehört? Noch einmal rief Dr. Fried den Namen des Priesters, doch es regte sich nichts. Also beschloss er, einen Blick in den Nebenraum zu werfen.

Die schmale Zwischentür stand offen und Dr. Fried ging darauf zu. Der Altartisch war leer bis auf die Blumengirlande. Vor ihm und um ihn herum befanden sich viele Blumen. Dr. Fried durchschritt die Absperrung zum Altarraum, als er beinahe über zwei Füße in schwarzen Schuhen stolperte.

Er blickte nach links unten. Vor ihm lag ausgestreckt Pater Anzelm. Sofort erkannte er die Blutlache, deren Ausgangspunkt eine klaffende Wunde am Hinterkopf war. Der Kopf war zur Seite gekippt, das Rinnsal des Blutes hatte den Bart des Priesters erreicht und einen Teil davon dunkelrot gefärbt. Er trug noch sein Fest­ornat, hatte also nicht einmal Zeit gehabt, sich umzukleiden.

Dr. Fried trat in die Sakristei, erwartete aber nicht wirklich, jemanden dort anzutreffen. Sie war leer.

Alleine konnte er hier nichts tun. Innerlich von ruhiger Professionalität erfüllt, lief er die Treppe hinunter und zurück ins Lokal, wo gerade der Wechsel von der Vorspeise zur Hauptspeise vor sich ging. An seinem Platz stand noch der Teller mit dem dünn geschnittenen kalten Rindfleisch, der Novak hatte also seinen Auftrag erfüllt und Dr. Frieds Essen verteidigt.

»Novak!«, rief Dr. Fried und blieb in der Tür zum Hof stehen. »Kommen Sie sofort mit. Für uns beide hat sich das Feiern heute erledigt. Es gibt was zu tun.«

Ohne mit der Wimper zu zucken, vielleicht mit einem blassen Blick des Bedauerns auf sein nur zur Hälfte geleertes Glas Bier, stand der Novak auf, verabschiedete sich höflich in die verwunderte Runde und folgte seinem Chef zur Kapelle.

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