Mein Leben als Film

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Mein Leben als Film
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Mein Leben als Film

1  Mein Leben als Film

2  Der Film meiner Kindheit

3  Meine Jugend als Film

4  Zweite Jugend als Film

5  Ein Mann – ein Film

6  Der Film vom Jenseits

7  Impressum

Mein Leben als Film

Spät erst war ich in Berlin angekommen. Wie vor ewigen Zeiten übernachtete ich im romantischen Atelier der Malerin Linde Bischof. Nach kurzer Begrüßung ging sie. Ich legte mich ins Bett und konnte doch nicht schlafen. Mit leisem Rufen schlug der Regen an die Fensterscheiben. Ich stand auf und zog mir die Jacke an, dabei die Treppen hinunter springend. Ohne Schirm lief ich über nass glänzende Bürgersteige. Hier kannte ich jeden Winkel. Das Neue, Bunte, die Fassaden aus Glas und Stahl, nahm ich nicht wahr. Noch immer gab es den Geheimweg, vorbei an der einstigen Stellmacherei, auf zur Heinersdorfer Straße. Gegenüber lag der gemauerte Torbogen neben der Brotfabrik. Schwarz vom Ruß, vom Dreck der Stadt, waren die Backsteine. Magisch angezogen blieb ich stehen, die Wand anstarrend. Anfänglich flimmernd, dann deutlicher werdend, erkannte ich im Licht der fernen Laterne ein Plakat: Der Film deines Lebens – Eintritt nicht für jedermann.

Ich hatte nasse Füße bekommen und fror, dennoch blieb ich noch eine Weile wartend stehen. Eine einsame Windbö schubste mich hinaus auf den brachliegenden Platz, gerahmt von einigen ausgeschlachteten Autowracks. Der langgestreckte Bau dahinter war das Kino RIO. In der Kindheit sah ich hier ILJA MUROMEZ und SHERIFF TEDDY. Seit mehr als zwanzig Jahren war das Kino geschlossen. Die einst breit geöffnete Tür zur Welt schöner Fantasien war vernagelt. „Nur für Verrückte“ war über beide Flügel gesprüht worden. Lächelnd stieß ich gegen das Holz. Geräuschlos gab die Tür nach, ich trat ins Foyer. Kleine Notlämpchen boten gelbliche Helligkeit. Vielleicht übernachteten hier Obdachlose. Ich lauschte. Ich betrat den Vorführsaal. Stille. Wie aus großer Ferne trommelte leise der Regen aufs Flachdach. Ich schob mich zur Mitte der letzten, der Fummelreihe, ganz hinten und nahm Platz. Plötzlich rasselte es. Der samtrote Vorhang wurde nach links und rechts aufgezogen. Die Notlämpchen verloschen flackernd. Tiefe, beruhigende Musik erklang. Der Titel leuchtete von der Leinwand:

Der Film meiner Kindheit

Mein Vater war Kriegsgefangener. In Holland stapelte er in einer großen Lagerhalle Tag für Tag Matratzen von einer Seite auf die andere. Nie lag eine Frau dazwischen. So kam es nach seiner Entlassung zum Heimatschuss, aus dem ich neun Monate später entstand. Zur Geburt war meine Mutter nicht zu Hause und auch ich wurde erst zwölf Wochen später als Gefangener der Wohnhaft eingetragen. Wir lebten in den Mostrichhäusern. In diesem undefinierbaren Farbton war die Fassade angepinselt. Das Reihenhaus war bis oben offen. Eine nicht explodierte Bombe hatte allein durch ihr Gewicht Dach und Etagen durchschlagen. Wahrhaft ein Symbol für das beginnende Eheleben. Der pensionierte Maurermeister Schott half beim Aufbau. Nach dem dritten Flachmann stürzte er hinunter. Mein Kinderwagen federte den harten Aufprall ab. Bei mir blieb es lebenslang umgekehrt. Später besuchte ich diesen Opa. Bettlägerig für immer lag er, eingezwängt zwischen Kanonenofen und Bierkiste, in seiner Laube. Ab und zu tapste ich nun in die Kolonie HELGOLAND hinüber, um den Stiftzahn seiner Frau zu bewundern. Sie legte ihn vor dem Essen immer an der Tischkante ab. Nach einer Weile kam ein Bruder in meinen Haushalt. Gewaschen und gewickelt lag er im Wagen, abgestellt neben dem Buddelkasten. Eimer für Eimer Sand schüttete ich hinein. So lernte ich zu schuften wie ein Schwerstarbeiter. In letzter Sekunde, bevor das Baby erstickte, wurde mir die Schippe aus der Hand gerissen. Arbeit macht nicht frei. Das erfuhr ich am Abend. Eingewickelt ins Badetuch wurde ich zu den Nachbarn gebracht und ins Welpenkörbchen gelegt. Sie betrieben erfolgreich eine Schäferhundzucht. Gern hätte mich meine Mutter dort gelassen. Die Nachbarin wollte aber nicht. Ich hätte mit meinem Aussehen die strengen Zuchtregeln verdorben. Die anderen Nachbarn hatten eine Tochter. Regina war zwei Jahre älter. Jetzt lernte ich Heimtücke und Hinterlist kennen. Dieses Frauenbild prägte sich mir ein. Eines Tages schlug ich Regina mit dem großen Holz-LKW alle Zähne aus. Na, demnächst wuchsen ihr sowieso neue. Es gab noch mehr und vor allem ältere Mädchen. Schweinebaumeln an der Kloppstange war ein schönes Spiel. Oder zu Fünft baden in der Regentonne. Bärbel hatte knallrote Lackschuhe. Ich leckte in feuchten Bahnen den Staub herunter. Mit jedem Zungenschlag glänzte die Reklame für zu erwartende Herrlichkeiten. Ein Schuhfetischist wurde ich trotzdem nicht.

Bald wurde ich hinüber zum GOLDENEN FAß geschickt, um zwei Flaschen Bier für meinen Vater zu holen. Da trat ich so oft ins Glück, bis mir klar wurde, wie übertrieben es sei, das auch noch von Schuhen zu lecken. Im GOLDENEN FAß saßen die Laubenpieper, wenn die Kantine, also der Ausschank von HELGOLAND, geschlossen war. Benno, der Ziegenbock, hatte seinen Platz am Stammtisch, wo er angeleint etwas schräg stand. Ab und zu hielt ihm jemand das Bierglas hin, aus dem er laut schlürfend soff. Goldene Tropfen glitzerten in seinem Bart. Irgendwann hieß der Staatschef Ulbricht, da wurde der Bock geschlachtet. Seine Ähnlichkeit mit dem hohen Politiker konnte gefährlich werden. Bald schloss die Kneipe und ein Postamt wurde in der Gaststube eingerichtet. Jetzt saßen dieselben alten, fetten Männer in Uniform hinter Schaltern. Die Stempel knallten sie aufs Pult wie vorher die Bierkrüge.

Endlich konnte mein Bruder laufen und in der freien Zeit versuchten wir, uns umzubringen. Ich lag im Liegestuhl. Er schlich sich von hinten an, löste die Sicherung und das Gestänge knallte runter. Meine Finger dazwischen wurden zerquetscht. Später stemmte ich mich gegen die schwere Haustür, während mein Bruder draußen schrie. Er hatte seine Patschhand zwischen Tür und Rahmen und es dauerte lange, bis ihm neue Nägel gewachsen waren. Unsere Wohnküche war groß. Da schlug mich die Mutter mit dem Siebensträher. Eine Peitsche mit sieben vierkantigen Lederstriemen. Wie eine Fliege klebte ich an der Wand, während sie schrie: Mir blutet das Herz! Als mein Bruder geschlagen wurde, verbrannte ich das Ding im Badeofen. Anschließende Schläge mit der Hand waren wie Liebkosungen.

Am Wasserturm in Heinersdorf wurde ich eingeschult. In den großen Pausen kam das Überfallkommando. Polizisten mit Tschakos. Sie schlugen Kumpel Grünewald mit dem Gummiknüppel K.O. Er hatte sich gegen die Zustände gewehrt. Jede Woche wurde ein anderes Kind abtransportiert. Wir sammelten rostige Munition aus Weltkriegstagen und klopften am Schmiedestein das schwarze Pulver heraus, um Schule und Turm hochzujagen. Zur Schulspeisung gab es Lunghaschee. Das war kackbraunes Glibberzeug, welches wir uns mit Blechlöffeln in die Haare klatschten. Danach kämpften wir am Panzer. In diesem großen, gemauerten Behälter lagerte der Hausmeister die Asche der Heizung unter zwei Stahlklappen ab. Deshalb also Panzerklappen. Wir sprangen hinein und schossen mit Wasserpistolen, die aber bald von der Asche verstopft wurden. So wie wir. Die Sieger blieben in die Asche gekuschelt. Die Verlierer rannten um die Ecke und kippten die Schweinetonne mit den Lunghascheeresten um. Täglich wurde sie vom Schweinemeister mit dem Pferdewagen abtransportiert. Eigentlich hätte er uns auch an seine Herde verfüttern können.

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