Buch lesen: «Homöopathie»
Michael Kotsch
Homöopathie
Wie gehe ich mit alternativen Heilmethoden um?
Reihe AUFKLÄRUNG
Band 62
Michael Kotsch
Homöopathie Wie gehe ich mit alternativen Heilmethoden um?
1. Auflage 2007
2. Auflage 2008
3. Auflage 2010
4. Auflage 2011
© 2013 Lichtzeichen Verlag, Lage
Umschlag: Manuela Bähr-Janzen
Satz: Gerhard Friesen
ISBN: 9783869549552
Bestell-Nr.: 548955
E-Book Erstellung: LICHTZEICHEN Medien
www.lichtzeichen-medien.com
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Inhaltsverzeichnis
Homöopathie heute
1. Vorgeschichte der Homöopathie
1.1. Medizin am Ende des 18. Jahrhunderts
1.2. Historische Vordenker der Homöopathie
2. Samuel Hahnemann und seine Zeit
2.1. Hahnemanns Jugend
2.2. Hahnemanns Studienzeit
2.3. Hahnemanns erste Erfahrungen als Arzt
2.4. Anfänge der Homöopathie in Stötteritz
2.5. Hahnemanns Irrenhaus in Gotha
2.6. Hahnemanns Übergang zur homöopathischen Praxis
2.7. Hahnemanns Versuche, “ans große Geld zu kommen”
2.8. Auf dem Weg zu Globuli und höheren Verdünnungen
2.9. Organon - Bibel der Homöopathie
2.10. Hahnemann an der Leipziger Uni und zu Hause
2.11. Homöopathische Arzneimittelprüfung
2.12. Hahnemanns Freunde und Gegner in Leipzig
2.13. Die medizinische Praxis Hahnemanns in Leipzig
2.14. Hahnemann als herzoglicher Leibarzt in Köthen
2.15. Miasmen als eigentliche Krankheitsursache
2.16. Durchschlagende Arzneien durch Hochpotenzen
2.17. Hahnemanns Kampf um die reine Homöopathie
2.18. Hahnemanns späte Liebe
2.19. Hahnemann als Modearzt in Paris
2.20. Der Kult um Hahnemann
3. Alternative Heilmethoden nach homöopathischem Vorbild
3.1. Herings Nosodentherapie
3.2. Reckewegs Homotoxikologie
3.3. Schüßlers Biochemie
3.4. Steiners anthroposophische Medizin
3.5. Psychologische Homöopathie
3.6. Elektroakupunktur / Kinesiologie
3.7. Komplexmittelhomöopathie
4. Das homöopathische Weltbild
4.1. Die Stellung der Homöopathie zur klassischen Medizin
4.2. Religiöse Bezüge in der Homöopathie
4.3. Der Mensch in der Homöopathie
4.4. Krankheit und Gesundheit in der Homöopathie
5. Homöopathie als medizinische Methode
5.1. Der Patient und sein Lebensumfeld
5.2. Die Arzneimittelprüfung und ihre Anwendung
5.3. Die Dynamisierung und ihre Wirkung
6. Kritische Bewertung der Homöopathie
6.1. Anspruch der Homöopathie
6.2. Wissenschaftliche Kritik an der Homöopathie
6.3. Logische Unstimmigkeiten der Homöopathie
6.4. Homöopathie und christliches Weltbild
7. Praktische Ratschläge zum Umgang mit Homöopathie
Literatur
Vorwort
Die Homöopathie ist eine der bekanntesten alternativen Heilmethoden. Sie ist individuell, günstig und scheinbar ohne unerwünschte Nebenwirkungen. Vor dem Hintergrund einer in Aberglauben und Alchemie verstrickten Medizin des frühen 19. Jahrhunderts, entwickelte der innovative Arzt Samuel Hahnemann (1755-1843) ein vollständig neues Konzept von Krankheit und Heilung. Seine Betonung des ausführlichen Patientengesprächs (Anamnese), sein Ähnlichkeitsprinzip (Substanzen, die Krankheitssymptome hervorbringen, können diese beim Kranken auch heilen), seine Auffassung von der menschlichen “Lebenskraft” und seine Idee von der Dynamisierung (je höher die Verdünnung, desto stärker die Wirkung) werden bis heute lebhaft diskutiert. In dieser Veröffentlichung sollen die geschichtlichen, medizinischen, weltanschaulichen und geistlichen Hintergründe der Homöopathie eingehend betrachtet werden.
Homöopathie heute
Im Gefolge des allgemeinen Trends hin zu alternativen Heilmethoden gewinnt auch die Homöopathie wieder zunehmend an Interesse. Nach einem ersten Höhenflug Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ging die Bedeutung der Homöopathie in den folgenden Jahrzehnten eher zurück.
Gegenwärtig gibt es keine einheitliche homöopathische Szene. Verschiedene Schulen und Ausrichtungen konkurrieren miteinander. Neben klassischer Homöopathie wird mit homöopathisch verdünnten Schüsslersalzen, Bach-Blüten und bakteriellen Krankheitserregern (Nosoden) experimentiert. Homöopathische Medikamente werden nicht mehr nur nach Hahnemanns Ähnlichkeitsregel verschrieben, sondern mit Hilfe astrologischer Berechnungen, zweifelhafter Muskeltests oder durch Pendeln und Ruten bestimmt. Zeitweilig wird Homöopathie als Allheilmittel gegen Umweltgifte, Krebs, AIDS, Erdstrahlen, Charakterschwächen, psychische Probleme und Sinnlosigkeit angepriesen. Die vom Haus- oder Kinderarzt verschriebenen Komplexmittel haben mit der klassischen Homöopathie nur noch am Rande zu tun, da sie zumeist ohne eingehende Anamnese verschrieben werden. Außerdem ging Hahnemann davon aus, dass sich in einer Kombination verschiedener homöopathischer Heilsubstanzen deren unterschiedliche Wirkung gegenseitig behindern oder gar aufheben würde. Im Extremfall könne ein nicht genau auf den Patienten abgestimmtes homöopathisches Medikament sogar zu schweren neuen Krankheitssymptomen führen.
Außerdem wehrten sich Hahnemann wie die meisten seiner Schüler vehement gegen eine Kombination klassischer (“allopathischer”) mit homöopathischer Behandlung. Da es sich um zwei einander ausschließende Medizinkonzepte handle, sei es sinnlos oder sogar schädlich beide nebeneinander anzuwenden. Entweder stören die naturwissenschaftlich ausgerichteten Medikamente die Wirkung der homöopathischen Arzneien oder verhindern sogar deren Heilwirkung.
Einem weit verbreiteten Missverständnis muss an dieser Stelle auch noch entgegen getreten werden. Bei der Homöopathie handelt es sich nämlich nicht um eine Pflanzen- oder Naturmedizin im eigentlichen Sinne. Einerseits greifen Homöopathen bei der Erstellung ihrer Medikamente neben pflanzlichen auch auf tierische und mineralische Substanzen zurück. Andererseits setzte Hahnemann gerade nicht auf die materielle, biochemische Wirkung einer Pflanze, sondern auf deren “dynamisierte” immaterielle Kraft, die in keinem direkten Zusammenhang mit der chemisch und physikalisch wahrnehmbaren Ausgangssubstanz steht. Heilung soll durch die nicht näher definierte “Energie” der pflanzlichen oder tierischen Substanz bewirkt werden. Deren Potenz liegt nicht in ihrer chemischen Struktur, sondern in dem von Hahnemann entwickelten Prozess der Wirkungssteigerung durch “Dynamisierung”.
Auch dem weitverbreiteten Irrtum, homöopathische Medikamente seien weitgehend frei von Nebenwirkungen, muss hier aus Hahnemanns Sicht deutlich widersprochen werden. Demnach können falsch angewandte homöopathische Wirkstoffe erhebliche Nebenwirkungen verursachen, im Extremfall sogar zum Tod führen. Hahnemann hielt seine Medikamente nicht für harmlos, sondern für weit wirkkräftiger als herkömmliche Medizin.
Auch richtig diagnostizierte und dosierte Homöopathika führen gewöhnlich zu einer “Erstverschlimmerung” der behandelten Erkrankung. Es können auch lange überwundene Phasen der Krankheit erneut ausbrechen oder zum Heilungsprozess gehörige unangenehme Begleiterscheinungen auftreten. Hahnemann ging davon aus, dass durch “allopathische” Medizin unterdrückte Symptome durch die homöopathische Behandlung erneut sichtbar werden können.
1. Vorgeschichte der Homöopathie
1.1. Medizin am Ende des 18. Jahrhunderts
Nach der im 18. Jahrhundert vorherrschenden Lehrmeinung war die Gesundheit (Eukrasie) von dem optimalen Verhältnis der vier Kardinalsäfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) abhängig. Krankheit (Dyskrasie) wurde vorzugsweise mit ausleitenden Verfahren (Aderlass, künstliche Hauteiterung, Brech- und Abführmittel) behandelt. Ein intensiver Gebrauch dieser Methoden verschlimmerte den Zustand vieler Patienten, manche fanden dabei auch den Tod. Nicht besser sah es mit der medikamentösen Behandlung aus. Zahlreiche Heilmittel entstammten der Alchemie, magische Vorstellungen über die Wirkung besonders eklig angesehener oder außergewöhnlich wertvoller Substanzen mischten sich mit punktuellen klinischen Erfahrungen. Die Dosierung wurde weitgehend willkürlich vorgenommen. Immer wieder starben Patienten an tödlichen Medikamentenverschreibungen (z.B. Quecksilber). Auch die häufig abstrusen Diäten hatten kaum Einfluss auf die Krankheitsbekämpfung.
Für den Tod Kaiser Leopold II waren wohl auch seine Ärzte verantwortlich, die den schwerkranken Monarchen mehrfach einem Aderlass unterzogen. Nachdem der erste nicht half, ließ man das Blut laufen, bis er tot war. Schuld daran war nach Ansicht der Ärzte natürlich nicht ihre Therapie, sondern die Schwere der Krankheit.
Die medizinische Diagnostik war Ende des 18. Jahrhunderts mehr als dürftig, die Therapiemöglichkeiten äußerst eingeschränkt. 20% der Krankheiten wurde ohne nähere Differenzierung als “Fieber” bezeichnet. Daneben fanden sich “Auszehrung”, “Pocken”, “Schlagfluss” oder “Rheumatismus”. Wobei die konkreten Erkrankungen mit den heute diagnostizierten Erkrankungen nicht unbedingt zu tun haben. Krankheitsursachen sah man in Diätfehlern, Lebensumständen, Umweltbedingungen (Miasmen, Energien) oder übernatürlichen Kräften (Gott, Dämonen, Hexen). Krankheiten wurden häufig auch moralisch gewertet: Gott straft die Sünde, die Natur rächt sich, die maßlose Lebensweise fordert ihr Tribut.
Angesichts hoher Sterblichkeit in den Krankenhäusern und den pauschalen Rosskuren der Ärzte wurden Kranke erst in letzter Not zu “medizinischen Spezialisten” gebracht. War der Kranke erst einmal den Ärzten ausgeliefert, herrschte ein strenges Regiment. Der Mediziner verstand sich als unhinterfragbare Autorität, dem der Patient und die Angehörigen sich zu unterwerfen hätten. Die tatsächliche Kompetenz des Heilkundigen allerdings war von beträchtlichem Unterschied. Studierten Wundärzten, Apothekern und Hebammen stand eine große Gruppe von Kräuterweibern, Magiern, Privatgelehrten und Kurpfuschern gegenüber. Wer von denen die bessere Therapie hatte, stand nicht von vornherein fest. Beide griffen gleichermaßen auf die Lehren des griechischen Mediziners Galen (ca. 129-216) zurück, nachdem das korrekte Verhältnis der vier Körpersäfte über Krankheit und Gesundheit entschied. Heilsubstanzen aus Kräuter- und Ekelmedizin (Kot, Sperma, Quecksilber) fanden sowohl hier als auch dort Anwendung. Der Zuspruch eines Arztes maß sich mehr an seinem durch spektakuläre Heilungen begründeten Ruf, nicht so sehr an dessen Ausbildung oder theoretischer Befähigung.
Krankheitsursachen wurden gewöhnlich von philosophischen Systemen, nicht von pathologischen Studien abgeleitet. Und nur wer die inneren Ursachen einer Krankheit benennen konnte, wurde in jener Zeit als kompetenter Arzt gehandelt. Die naturhistorische Richtung (1825-1845) stützte sich auf empirische Daten, die naturphilosophischen Mediziner (1800-1840) hofften durch spekulatives Denken den Geheimnissen von Leben und Krankheit auf die Spur zu kommen. Insbesondere mit der letztgenannten Gruppe setzte sich Hahnemann des Öfteren kritisch auseinander. Der schottische Arzt John Brown beispielsweise unterschied zwischen den durch Reizüberflutung und den durch Reizmangel ausgelösten Krankheiten.
Die medizinischen Untersuchungsmethoden waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu heute sehr eingeschränkt. Urin wurde lediglich nach Geruch und Aussehen beurteilt. Das Stethoskop war zwar erfunden, aber noch nicht weit verbreitet. Gelegentlich griff man auf Körperbeklopfung (Perkussion) zurück. Fieber wurde durch die Messung des Pulsschlages gemessen. Von großer Bedeutung für den Arzt jener Zeit war die Krankengeschichte des Patienten.
An Arzneimitteln herrschte kein Mangel. Deren Herkunft und Wirksamkeit jedoch war oftmals mehr als zweifelhaft. Überlieferte Hausmittel standen neben alchemistischen Rezepten, angepriesenen Wundermitteln und immer wieder wechselnden Modemedikamenten. Hin und wieder fanden durchaus auch wirksame Präparate Anwendung. Zur Standardtherapie der meisten Ärzte gehörte der Aderlass (zeitweilige Öffnung der Adern mit dem Messer oder durch Blutegel), Klistiere (Darmeinläufe) und diverse Brech- bzw. Abführmittel. All diese Therapien zielten darauf, die schädliche Krankheit mit Blut, Urin und Kot aus dem Körper zu treiben. Haben erst große Teile der schädigenden Krankheitssubstanz den Menschen verlassen, könne der Körper sich weitgehend selber heilen.
Schmerzen wurden von den meisten Ärzten als unumgängliche Begleiterscheinung von Krankheit betrachtet und nicht behandelt. Nur selten wurde Opium oder Weingeist zur Schmerzbekämpfung eingesetzt.
Zu den populären Alternativbehandlungen am Beginn des 19. Jahrhunderts zählten religiös magische Heilverfahren (Wallfahrten, Besprechen, Gesundbeten, Geistheilung usw.), Wasserkuren, die Akupunktur und magnetische Anwendungen nach Franz Anton Mesmer (1734-1815).
Darüber hinaus war die Zeit Hahnemanns gekennzeichnet durch eine zunehmende staatliche Regulierung des Gesundheitswesens und eine deutliche Professionalisierung. Um medizinischem Missbrauch Einhalt zu gebieten, wurden Außenseiter immer stärker behindert und bekämpft.1
1.2. Historische Vordenker der Homöopathie
Spekulationen über die notwendige Ähnlichkeit zwischen Krankheit und anzuwendendem Heilmittel gehen weit in der Geschichte zurück. Im Alten Ägypten beispielsweise wurden Schädelwunden mit Öl eingerieben, in dem sich der Panzer einer Schildkröte und Falkenkrallen befanden. Die Härte des Schädels sollte durch die Härte des Schildkrötenpanzers wiederhergestellt werden. Gichtkranken wurde ein Amulett von Hirschhaut an den Fuß gebunden, in der Hoffnung, ihnen frühere Leichtfüßigkeit wiederzugeben. Im Schamanismus ist der Gedanke der Ähnlichkeitsmagie weit verbreitet: Das Essen oder Tragen eines Gegenstandes kann dessen Eigenschaften auf den betreffenden Menschen übertragen. Indianer tragen die Federn eines Adlers oder die Krallen eines Bären, um sich dessen Kraft zueigen zu machen. In der Traditionell Chinesischen Medizin (TCM) werden Extrakte aus Tigerhoden gegen Impotenz oder Schlangenfleisch gegen Kurzsichtigkeit angewendet. Suppe aus dem Fleisch der Kinder oder des Ehegatten (aus dem lebendigen Körper geschnitten) gilt als sicheres Stärkungsmittel für altersschwache Eltern. Die Chinesen kannten auch das Einblasen zerriebener Blatternkrusten in die Nasenschleimhaut zur Verhütung schwerer Pockeninfektionen. Gelegentlich soll in der TCM auch die rein äußerliche Ähnlichkeit medizinisch hilfreich sein. Demnach hilft gelber Safran gegen Gelbsucht, Leberblümchen gegen Leberleiden oder Leuchtkäfer gegen Augenerkrankungen. Ähnliche Formen eines “magischen Simile” (Ähnlichkeitsprinzip) findet sich bei Paracelsus. Auch in der Moderne sind vergleichbare Verhaltensweisen zu beobachten. So tragen Jugendliche die Kleidung ihres Idols und hoffen dadurch unterschwellig, dass etwas von deren Glanz auch auf das eigene Leben übergeht.2
Vorläufer der Homöopathie
Bezüge auf eine Ähnlichkeitsregel in der Erkenntnistheorie finden sich beispielsweise schon bei Empedokles (490-430 v.Chr.): “Denn mit der Erde in uns erkennen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser, mit der Luft die göttliche Luft, mit dem Feuer aber das verderbliche Feuer, die Liebe mit der Liebe, den Hass aber mit traurigem Hass.” Die hinter dieser Aussage stehende Lehre von den vier Elementen (Qualitäten) wirkte sich bis in die Neuzeit in der europäischen Medizin aus.
Hypokrates (460-370 v.Chr.) kommt der homöopathischen Ähnlichkeitsregel schon näher, wenn er beispielsweise Knoblauch gegen Rausch empfiehlt, weil der bei einem nüchternen Menschen Schwere im Kopf bewirken könne. In seiner Schrift “Von den Stellen im Menschen” argumentiert er ähnlich: “Die Schmerzen [Beschwerden] werden durch das ihnen entgegen gesetzte gehoben, jede Krankheit nach ihrer Eigenart … Eine Art ist folgende: durch das Ähnliche entsteht die Krankheit und durch Anwendung des Ähnlichen wird die Krankheit geheilt.” Wenig später führt Hypokrates aus, dass Harnzwang und Husten mit denselben Mitteln geheilt werden können, von denen sie auch verursacht werden. Auf diese und andere historische Beispiele der Ähnlichkeitsregel bezieht sich Hahnemann zur Unterstützung seiner Medizintheorie.3 An Hahnemanns Simile-Regel erinnern Aussagen der Arzneimittelforscher Petro und Dioskurides (1.Jhd.n.Chr.). Gegen Kurzsichtigkeit wird dort der Genuss junger Schwalben empfohlen, die im Ruf standen, besonders gut zu sehen. Gegen den Biss eines tollwütigen Hundes soll dessen Urin hilfreich sein. Der antike Arzt Galen (200 n.Chr.) hatte hodenähnliche Knollen von Orchis Morio zur Anregung des Geschlechtstriebes verordnet. Eine rein äußerliche Ähnlichkeitsregel soll der Heilige Cyrus angewandt haben, um eine Frau zu kurieren, die beim Wassertrinken einen Frosch verschluckt hatte. Er gab der Frau so viel zu trinken, bis sie sich erbrach und so auch den unliebsamen Frosch los wurde. Zum Schluss des geschichtlichen Berichts wird dann darauf hingewiesen, dass Heilige nicht wie sterbliche Ärzte durch Gegenmittel heilen, sondern durch das Ähnliche.4
Auffälligere medizintheoretische Parallelen finden sich zwischen Hahnemann und Paracelsus (1493-1541). Paracelsus wendet sich gegen die bis dahin dominierende Auffassung Galens, der dazu aufforderte, Krankheitssymptome mit Mitteln zu bekämpfen, die einen gegensätzlichen Zustand auslösen (z.B. Kühlung gegen Fieber). Paracelsus hingegen will Krankheiten mit Therapien bekämpfen, die gewöhnlich gerade diese Krankheitssymptome hervorrufen: “Contraria a contrariis curantur, das heißt: Heiß vertreibt Kaltes, das ist falsch, in der Arznei nie wahr gewesen.”5 Er vertritt die Ansicht, dass die Substanz, die einen Krankheitszustand verursacht, auch in der Lage ist diesen zu beseitigen. “… So du nun das hast, so zeigt es dir die Kur an, denn Arsenik heilt den Arsenik, Anthrax den Anthrax, wie Gift Gift heilet … also heilt gleich Anatomie je eins das andere. So du nun weißt, was Arsenik ist, so heile nach Inhalt der Anatomie den Arsenik mit dem Arsenik …”6 Entsprechend der Signaturenlehre verstand Paracelsus unter Anatomie die Beziehung zwischen der äußeren Erscheinung einer Sache und deren mutmaßlichen Wirksamkeit. “Also die Diestel stechen ihre Blätter nicht wie Nadeln? Dieses Zeichens halber ist durch Magie gefunden worden, dass kein besseres Kraut ist gegen inwendiges Stechen.”7 Paracelsus leitete daraus eine allgemeine medizinische Regel ab, nach der die “Form” jeder Krankheit ihre Entsprechung findet in der ähnlichen Form des Heilmittels. “Anatomie ist eine Kunst, die euch lehrt erkennen die Form eines jeglichen Dinges; denn ihr seht, nichts ist ohne Form, auch die Krankheit nicht …, sondern sie sind formig, … Nun, wenn ihr das wißt, so ist weiter vonnöten, dass ihr in solcher Gestalt die Anatomie der Kräuter wisst …, auf dass ihr da zusammen die gleiche Anatomie der Kräuter und gleiche Anatomie der Krankheiten in eine Ordnung bringet.”8 Allerdings weist Paracelsus auch darauf hin, dass diese Ähnlichkeit der Form nicht immer äußerlich sichtbar sein muss. Manchmal ähnelt die Arznei der Krankheit durch die Zuordnung zu einem der vier Elemente, manchmal gebe es auch eine spiritualistische Ähnlichkeit, die nur für den Heilkundigen sichtbar sei. Um die “anatomische Ähnlichkeit” einer Substanz festzustellen, scheint Paracelsus über deren Wirkung auf den menschlichen Körper genau Buch geführt zu haben, ähnlich wie Hahnemann bei seiner Arzneimittelprüfung. “Das Einnehmen des Realgar [Arsen] macht eine ausgedörrte Lunge … Macht auch Spalten und Schrunden der Leber, damit läuft ein unnatürlicher Durst einher … Auf solches nachfolgend viel zufallende Hitze, Klopfen und Zittern im Herzgrüble, demnach ein Ausschlagen in allen Gliedern …”9 Ähnlich wie Hahnemann ging auch Paracelsus nicht so sehr von einer chemisch-physikalischen als vielmehr von einer geistig immateriellen Wirkung der Arznei aus. “Denn nicht mit dem Gewicht, sondern außerhalb des Gewichts soll die Arznei administriert werden. Denn wer kann den Schein der Sonne wägen, wer kann die Luft wägen, wer wiegt den spiritum arcanum? Niemand. In diesem liegt nun die Arznei.”10 Abgesehen von der geistigen und der äußerlichen Ähnlichkeit zwischen Krankheitssymptom und dem dazu passenden Medikament sah Paracelsus auch noch ein “astrologisches simile”. “Der astrologische Grundsatz lautet: Wie oben, so unten”, d.h. Was am Himmel vor sich geht, hat jeweils seine Entsprechungen auf der Erde und in der Menschenwelt; es leuchtet also klar die magische Anteilnahme hindurch. Magische Entsprechungen verbinden die einzelnen Planeten … Mit bestimmten Körperteilen, so z.B. Sonne und Herz, Jupiter und Leber …”11 Ähnlich wie Hahnemann ordnet auch Paracelsus alle Krankheiten drei Ur-Krankheiten zu, den Merkur-, Sulfur- und Sal-Krankheiten. Zahlreiche Ärztegenerationen stützen sich auf diese Überlegungen von Paracelsus.
Der von einer magischen Medizin geprägte englische Arzt Robert Fludd (1574-1637) richtete sich bei seiner Behandlung von Blasen- und Nierensteinen nach der Ähnlichkeitsregel (simile). Bei diesen Erkrankungen empfahl er Präparate aus eben diesen Steinen. Ferner schreibt er: “Der Auswurf eines Schwindsüchtigen heilt nach der nötigen Zubereitung die Lungenschwindsucht.” Hahnemann beruft sich unter anderem auch auf Johannes Hummelius, der von einem dänischen Regimentsarzt berichtet, der seine Patienten immer nach dem Ähnlichkeitsgrundsatz behandelt habe (“Contraria contrariis”): Verbrennungen durch Annähern an Feuer, Erfrierungen durch aufgelegten Schnee und kaltes Wasser. De Haen behauptete, dass viele Gifte, weil sie giftig sind, deshalb auch heilsam sein müssten: “Die Stängel des Nachtschattens erregen in größerer Gabe Krämpfe und Raserei, in mäßiger jedoch lösen sie die Krämpfe und Zuckungen.” Der Hamburger Arzt J.A. Unzer spricht in einem Aufsatz davon, dass der Tabak dieselben Krankheiten, die er verursacht, auch heilen könne.12
Nicht nur die Ähnlichkeitsregel (simile), sondern auch die Arzneimittelprüfung am Gesunden kann auf eine längere Tradition zurückblicken. Neben den mehr von medizinischem Interesse geleiteten Untersuchungen des Herakleides von Taras beschäftigten sich schon früh verschiedene orientalische Herrscher mit der Wirkung von Arzneien auf gesunde Menschen. Mit besonderer Vorliebe allerdings ließen sie ihren Sklaven oder Dienern Gifte verabreichen, um dann mögliche Gegenmittel zu testen, die ihnen dann zur Verfügung stünden, sollten sie selbst einmal einem Giftanschlag ausgesetzt werden (z.B. Attalus III von Pergamon, Mithridates von Pontus). Auch Papst Clemens VIII ließ solche Menschenversuche durchführen, um sein kostbares Leben vor Vergiftungen besser schützen zu können. Der Bologneser Chirurg G. Caravita ließ ein von ihm entwickeltes Gegengift gegen Vergiftungen und gegen Bisse und Stiche giftiger Tiere testen, indem er Verbrecher erst mit Aconit vergiftete, um nachher sein Heilmittel ausprobieren zu können.
Im 16. Jahrhundert begannen einzelne Ärzte mit medizinischen Selbstversuchen. So nahm der Zürcher Botaniker Conrad Gesner nacheinander Dosen von Eupatorium, Gratiola, Helleborus und Nicotina ein, um deren Wirkung auf den menschlichen Körper zu studieren. G. Young experimentierte 1753 mit Opium und Anton Störck nahm 1760 versuchsweise Schierling zu sich. Nachdem Störck allerdings unter starken Schmerzen litt und seine Zunge deutlich anschwoll, beendete er diesen Versuch. Nachdem er später noch mit anderen Substanzen experimentiert hatte, schrieb er: “Wenn Stramonium durch Verwirrung des Geistes Gesunde krank macht, warum darf man dann nicht den Versuch machen, ob es nicht, indem des Kranken und Verrückten … Geistesgesundheit geben und bei mit Krämpfen Behafteten die Krämpfe heben könne?”13 In einer weiteren Schrift über Pulsatilla (1771) beschreibt Störck deren positive Wirkung auf Augenerkrankungen. Zur gleichen Zeit erproben Johann Friedrich Grimm in Halle die Wirkung des Opiums und William Alexander in Edinburgh die Wirkung von Salpeter und Kampfer, um daraus Rückschlüsse für den Einsatz der entsprechenden Substanzen für die Krankenbehandlung ziehen zu können.14
1 Vgl. Jütte: Samuel Hahnemann, 2005, S.9-20
2 Vgl. Michael Kotsch: Chinesische Medizin 2. Alternative Heilmethoden auf dem Prüfstand, Lage 2000, S.19-25 / Bernt Karger-Decker: Die Geschichte der Medizin, Düsseldorf 2001, S.13-22
3 Vgl. Hahnemann: Organon, 6.Aufl. 1921, Einleitung, Teil B
4 Acta Sanctorum, Antwerpen 1643, Januar, Bd.2, S.1091ff.
5 Paracelsus, Paracelsus Werke, Sudhoff Hrsg., München 1922, Bd.8, S.88
6 Paracelsus: Paracelsus Werke, Sudhoff Hrsg., München 1922, Bd.8, S.120
7 Paracelsus: Huser, Quart. Bd. IX, S.383
8 Paracelsus, Paracelsus Werke, Sudhoff Hrsg., München 1922, I, S.375
9 Paracelsus, Von der Bergsucht, Werke, Sudhoff Hrsg., München 1922, Bd.9, S.478
10 Paracelsus: zitiert in: Tischner: Homöopathie, 1950, S.18
11 Tischner: Homöopathie, 1950, S.19
12 Vgl. Tischner: Homöopathie, 1950, S.9-23
13 Anton Störck: Libellus, quo demonstratur Stramonium, Wien 1762
14 Vgl. Tischner: Homöopathie, 1950, S.23-26