Ein Leben für die Freiheit

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In dieser Tradition ist auch das geschickt manipulative Buch „AIM - American Indian Mafia“ des ehemaligen FBI-Spezialagenten Joseph Trimbach geschrieben, eben jenes FBI-Agenten, der maßgeblich für den FBI-Einsatz bei der Besetzung Wounded Knees mitverantwortlich war und der 2009 im Vorfeld der Begnadigungsanhörung Leonard Peltiers Präsident Obama immer wieder aufforderte, Peltier niemals freizulassen.63

Unzweifelhaft waren einzelne AIM-Aktivisten bewaffnet und auch bereit, bei ihren Aktionen die Grenzen zur Legalität zu überschreiten und dabei ihr eigenes Leben einzusetzen. Und wie in allen sozialen Bewegungen gab es Kontroversen über Militanz und deren Grenzen. So waren für Vernon Bellecourt (1931 - 2007), älterer Bruder des AIM-Mitgründers Clyde Bellecourt und langjähriger AIM-Leader, einige AIM-Aktivisten, die ihm in Washington oder auch in Custer auffielen, als diese Feuer legen wollten und Brandsätze warfen, suspekt. Solche Aktionen fanden nicht bei allen AIM-Führern Zustimmung. Erst später stellte sich die Frage, ob es sich hierbei einfach um militante Aktivisten oder um eingeschleuste Provokateure handelte. Solche Fragen nahmen nach den Zwischenfällen von Oglala 1975 eine noch größere Bedeutung ein64; denn längst war AIM in den Fokus des FBI und anderer polizeilicher Geheimdienste geraten, um analog den Black Panthers nun auch den indianischen Widerstand zu zerschlagen. Die Methoden blieben gleich. Diese waren: die Unterwanderung der Bewegung durch Provokateure, das gegenseitige Ausspielen zentraler AIM-Aktivisten, aber auch Kriminalisierung, Strafverfolgung und Mord.

Der Tod der beiden FBI-Agenten Coler und Williams nach dem Schusswechsel auf dem Jumping Bull Gelände bei Oglala diente zur weiteren Kriminalisierung des indianischen Widerstandes und Kampfes um Souveränität, zur Verfolgung von AIM-Aktivisten und zu einer öffentlichen Stimmungsmache, in der AIM als gefährlichste Terrorgruppe der USA gebrandmarkt wurde. Im Laufe dieser Zeit zeigte die Unterwanderungsstrategie der Geheimdienste, die sogenannte COINTELPRO-Strategie, bereits ihre fortgeschrittene Wirkung. Einzelne Aktivisten misstrauten sich gegenseitig, diffamierten sich wechselseitig als FBI-Agenten oder liquidierten sich sogar gegenseitig. Das Misstrauen innerhalb der Bewegung wurde immer größer und nahm in einzelnen Fällen paranoide Züge an, doch wie sich anhand des FBI-Informanten Douglas „Doug“ Durham zeigte, nicht ohne konkreten Anlass.

Auf Empfehlung von Ron Petite (AIM Office, Des Moines, Iowa) stellte Douglas Durham sich 1973 Dennis Banks, Russell und Ted Means, Clyde und Vernon Bellecourt und einigen weiteren Anwesenden als ehemaliger Polizist vor, der vom Dienst entlassen worden sei und bereits seit längerem mit AIM sympathisiere, so dass er sich mit seinen Kompetenzen gerne auch für AIM engagieren würde. Er könnte sich vorstellen, als Bürokraft und auch als Fotograf für AIM zu arbeiten, und hätte außerdem eine Pilotenlizenz. Obwohl acht von zehn AIM-Leadern misstrauisch blieben und Vernon Bellecourt Durhams Einstieg bei AIM, auf die frühere Polizeitätigkeit Durhams hinweisend, mit den Worten „Einmal Schwein, immer Schwein“ ablehnte, bekam Durham seine Chance.

Dennis Banks sagte hierzu später:

… AIM hatte nichts zu verbergen … Er kann uns nicht schaden, lasst ihn für uns arbeiten, mal sehen ob er uns helfen kann. Und er konnte. Doug hatte viele Fähigkeiten; ich konnte mich auf ihn verlassen. Nach Wounded Knee wurde mir eine ständige Security angeraten, und als mein Bodyguard war er bewaffnet und ich war dies nicht, und er hatte einige Möglichkeiten mich an abgelegene Stellen zu bringen, die er jedoch nicht nutzte … Egal, einige trauten ihm von Anfang an nicht, und nach einem Jahr misstrautem ihm auch viele andere.65

In den folgenden zwei Jahren gelang es Durham als Bodyguard von Dennis Banks immer mehr, in die unmittelbare Nähe der AIM-Führung zu gelangen und an den Schaltstellen des Informationsflusses zu sitzen. Immer wieder fiel er dabei durch seine Vorschläge zu besonders militanten Aktionen auf. So regte er an, beim Konflikt in Gresham, Wisconsin, wo die Menominee Warrior Society eine längst leerstehende Abtei besetzte und wo Dennis Banks zwischen den 25 Besetzern und einer zehnfachen Übermacht von Polizei und später National Guard für AIM zu vermitteln versuchte, entgegen dieser deeskalierenden AIM-Strategie den zuständigen Gouverneur zu entführen und bei den Aktionen auch schwere Waffen einzusetzen. Ein anderes Mal schlug er vor, bei einem Flug eine Bombe auf das Haus des damaligen Oberstaatsanwalts und späteren Gouverneur von Süd-Dakota, Bill Jancklow, abzuwerfen. Auch Peltier wurde zunehmend misstrauisch.

Ich mochte ihn nicht, denn unsere Alten trautem ihm nicht. 1974 sahen ihn einige von ihnen Fotos beim Sonnentanz bei Crow Dogs Sonnentanz-Camp machen und wurden misstrauisch. Ich bemerkte auch …, dass er mich von Dennis (Banks; der Verf.) fernhielt, der begann mir die kalte Schulter zu zeigen. Aber zu diesem Zeitpunkt konnte darüber niemand mit Dennis reden …66

Zum Kreise derer, die Banks immer wieder vor Durham warnten, zählte auch Anna Mae Aquash. Die kanadische Mi‘kmaq und AIM-Aktivistin Anna Mae Aquash sollte ein Jahr später, im Dezember 1975, selbst zum prominentesten Opfer einer Diffamierungskampagne werden, in der sie ebenfalls als FBI-Informantin denunziert, gekidnappt und erschossen wurde. Die Täter stammten nach Indizienlage aus dem Umkreis von AIM. Bestimmte Kreise, z. B. um Russell Means, beschuldigten zeitweise u. a. Vernon Bellecourt oder Leonard Peltier, für die Ermordung Aquashs mitverantwortlich gewesen zu sein. Zwar gab es nach der Enttarnung Durhams seitens einiger AIM-Leader auch wütende Statements im Sinne von „Wir sollten mit ihm hinausfahren und ihn erschießen und irgendwo vergraben“, und Anna Mae, die genau auf diese Weise sterben sollte, war angeblich selbst bereit, Durham so zu beseitigen, doch Vernon Bellecourt und Dennis Banks konnten laut eigenem Bekunden die restlichen Anwesenden von solchen Rache- und Vergeltungsgedanken abhalten.67

Letztendlich ist aber die an anderer Stelle dieses Buches ausführlicher beschriebene FBI-Strategie des COINTELPRO bestens aufgegangen, ohne dass sich ein polizeilicher oder polizeilich gedungener Killer dabei die Finger schmutzig machen musste. Anna Mae Aquash wurde 1975 ermordet. Douglas Durham reiste nach seiner öffentlichen Enttarnung durch das AIM im gleichen Jahr völlig unbehelligt durch die USA und hielt Anti-AIM-Vorträge, u. a. für die John Birch Society und andere rechte Organisationen und beschuldigte dabei AIM mit den absurdesten Vorwürfen.

Aufgrund dieser Entwicklung einerseits, aber auch, da nicht alle Natives mit den Strategien und zum Teil militanten Aktionen von AIM einverstanden waren, verlor AIM teilweise an Bedeutung. Auch einige Traditionelle wandten sich von AIM-Aktionen wieder ab, ohne jedoch die Verdienste von AIM zu negieren. „Frank Fools Crow68 hat die emotionale Ambivalenz der Bewahrer überlieferter Werte den Erneuerern gegenüber wie folgt ausgedrückt:

Wir Indianer sind so arm, so enttäuscht und so in unserer Situation gefangen, dass wir glauben, wir hätten nur wenig zu verlieren. Selbst die fragwürdige Beachtung, die AIM findet, brachte da einen dringend nötigen Schub, um unsere Würde und unser Selbstbewusstsein wieder etwas aufzurichten. Wir traditionellen Führer mögen keine Gewalt, deshalb unterstützen wir AIM nicht länger69. Aber sie bewerkstelligten Dinge, die wir mit unseren Methoden nie erreicht hätten.70

Und heute? AIM is still alive. Es gibt nach wie vor Chapters in vielen US-Staaten, Städten und Regionen, aber leider auch anhaltende gegenseitige Beschuldigungen, Verdächtigungen und Angriffe. Und es gibt leider auch immer noch viele Egotrips vor allem ehemaliger männlicher AIM-Galionsfiguren, die verhindern, dass neue Generationen nachwachsen bzw. auch AIM durch mehr Frauen repräsentiert wird. Doch es gibt auch neue Koalitionen. Themen gehen AIM sicherlich nicht aus: da ist nach wie vor der Kampf gegen Rassismus und die Nutzung stereotypischer Darstellungen von Indianern in der Werbung oder als Maskottchen im Sport, gegen die sich die National Coalition On Racism in Sports and Media zur Wehr setzt. Und es gibt weiterhin das Klischee vom ungebildeten faulen oder gewalttätigen „Wilden“. Da ist nach wie vor der Kampf für verbesserte Bildung, die Wiederaneignung der eigenen Sprachen, den Aufbau alternativer Schulen (the Federation of Survival Schools) und die Wiederentdeckung der eigenen kulturellen Wurzeln der jeweiligen Stämme. Da ist und bleibt der Kampf für die Freiheit des indianischen politischen Gefangenen Leonard Peltier, aber auch die Solidarität mit anderen indigenen Widerstands-, Protest- und Selbstbestimmungsbewegungen – in Kanada, den USA, Lateinamerika aber auch in Asien, Australien und Afrika oder im Nahen Osten (z.B. International Treaty Council). Es gibt nach wie vor den Kampf um die juristische Anerkennung der Verträge von Fort Laramie 1868 und die Rückgabe der Black Hills.

Involviert sind AIM-Aktivistinnen und -Aktivisten aber auch in vielen Umwelt- und Menschenrechtskämpfen, sei es gegen den Kohleabbau in der Navajo-Reservation, die Zerstörung der San Francisco Peaks für Skipisten in Arizona, gegen größenwahnsinnige Bauprojekte, gegen Uranabbau und nukleare Endlager oder gegen die Keystone XL-Pipeline. Auch im Sozial-, Gesundheits- und Ernährungs- sowie Rechtsberatungsbereich sind einzelne AIM-Chapter weiterhin aktiv. In Süd-Dakota entstanden neue Gruppen wie AIM Grassroots oder das Native Youth Movement (NYM), in denen sich vor allem traditionell orientierte Lakota organisieren.

Sicherlich, es gibt neben AIM noch viele weitere soziale Bewegungen und politische Gruppen des indianischen Amerika. Zu manchen ist die Grenze fließend, mit manchen wird kooperiert. Prinzipiell gilt, nicht alles ist AIM, was indianischen Widerstand ausmacht. Die Formen des Protests und auch von AIM-Aktionen haben sich verändert.

 

Wie sagte Dennis Banks, einer der AIM-Gründer Ende Januar 2012 in Stuttgart, sinngemäß:

Wir waren die blutige Generation von Kriegern, zu allem bereit. Wir waren bereit, für unseren Kampf unser Leben zu geben. Heute sind die Politikformen anders. Wir haben indianische Juristen und Ärzte, Professoren und Lehrer, Künstler und Medienspezialisten, die sich für die Rechte der Indigenen einsetzen und auf eine andere Form weiter kämpfen und agieren.

Bei der gleichen Veranstaltung bedankte sich Dennis Banks‘ Tochter bei ihrem Vater für sein Engagement, obwohl er häufig wegen Morddrohungenwegen, Flucht oder bez. und Inhaftierung nicht bei seiner Familie sein konnte. Er habe mit der Gründung von AIM wesentlich dazu beigetragen, dass viele Natives ihre Würde wiedergewonnen haben und sich nun für indianische Belange einsetzen. AIM ist kein Mythos, keine Projektionsfläche für junge Militante, AIM heute ist anders. Nicht alle Natives waren mit AIM einverstanden, und AIM hat auch niemals für sich beansprucht, für alle zu sprechen. AIM war und ist eine soziale Bewegung, eine spirituelle Bewegung, vielleicht hier und da auch immer noch militant – auf alle Fälle aber radikal.

Und natürlich gibt es sicherlich auch über manche AIM-Positionen und auch AIM-Aktionen Kritisches anzumerken. Zu den AIM-internen Auseinandersetzungen, die auf die Zerschlagungsstrategie amerikanischer Geheimdienste, allen voran des FBI, zurückzuführen sind, werden wir hier nicht näher im Detail eingehen. Doch bieten sie sich als Lehrbeispiele dafür an, wie soziale Bewegungen – vor allem militante Gruppen – durch Infiltration, Denunziation und Liquidierungen gespalten und letztendlich zerstört werden können.

Ein Verdienst ist AIM nicht abzusprechen: Mit AIM fanden viele Native Americans wieder ihre Würde, ihre Wurzeln zurück, um sich mit Mut und Wut auf den eigenen Weg zu machen – auch gegen den Mainstream der materialistischen Welt und der kapitalistischen Verwertungslogik von Mensch und Natur. Oder um es mit den Worten von Birgil Kills Straight und Richard La Course zu sagen:

Dinge werden niemals so sein, wie sie waren, und das ist es, was AIM ausmacht … Sie werden respektiert von vielen, gehasst von manchen, aber sie werden niemals ignoriert. Sie sind der Katalysator für die indianische Unabhängigkeit … Das American Indian Movement ist folglich die Warrior Class des Jahrhunderts, … die mit ihren Körpern wählt statt mit dem Mund … Ihr Geschäft ist die Hoffnung.71

Leonard Peltier formulierte dies wie folgt:

Man darf das AIM nicht mit einer Einzelperson oder mehreren Einzelpersonen verwechseln, die sich AIM auf ihr Banner schreiben – egal, wie würdig oder unwürdig sie dessen sind. … Ich habe im Laufe der Jahre eine Menge Kritik an den oft im Widerspruch zueinander stehenden Führern und Sprechern vom AIM gehört … An Männern wie Dennis Banks und Leonard Crow Dog und Eddie Benton-Banai und den Means-Brüdern und den Bellecourts und John Trudell und vielen anderen. Keiner von ihnen war – oder ist vollkommen, genauso wenig wie ich. Aber dies waren die Männer, die für ihr Volk aufgestanden sind, als die Zeit dafür gekommen war … Jeder von ihnen stellte sich allein allem Widerstand entgegen und steckte die Schläge ein, die gegen ihr Volk gerichtet waren. Welche Fehler diese Männer auch hatten oder haben, wir sollten sie ehren. Sie haben in den Lauf der Geschichte eingegriffen. Sie haben uns den Stolz und den Glauben an uns selbst gegeben, den wir so verzweifelt brauchten und ersehnten. Sie haben uns gezeigt, dass wir existieren.72

Und sie haben dafür teilweise einen sehr hohen Preis gezahlt. Dennis Banks musste zwischenzeitlich Zuflucht in anderen Bundesstaaten nehmen und wurde wiederholt mit dem Tod bedroht. Russell Means wurde mehrfach schwer verletzt. Leonard Crow Dog, der spirituelle AIM-Leader und Medizinmann, war lange Zeit inhaftiert. John Trudell, AIM-Aktivist und später engagierter Musiker, verlor seine gesamte Familie. Nachdem er am 11. Februar 1979 vor dem FBI-Gebäude in Washington D.C. bei einer Aktion für Leonard Peltier und gegen die Kriegsführung des FBI gegen die Indianer eine US-Flagge verbrannte, ging noch in derselben Nacht das Haus seines Schwiegervaters Arthur Manning im Shoshone-Paiute-Reservat von Duck Valley an der Grenze von Idaho, Nevada, in Flammen auf. Dabei kamen Trudells schwangere Frau Tina, seine drei Kinder und seine Schwiegermutter ums Leben. Für John Trudell und viele andere steht immer noch das FBI im Verdacht, für diesen mörderischen Brandanschlag verantwortlich zu sein.

Mount Rushmore Monument

Im Herbst 1970 und dann nochmals im Frühjahr 1971 besetzten Sioux verschiedener Reservationen das Mount Rushmore Monument und richteten am Fels ein Camp ein. Dabei beriefen sich die Besetzerinnen und Besetzer vor allem auf den Vertrag, der 1868 in Fort Laramie geschlossen wurde und die Black Hills für ewig den Indianern zusprach. Diese Besetzung wurde anfänglich nicht vom AIM geplant und durchgeführt, sondern von drei Lakotafrauen, die in Rapid City lebten. Richard Erdoes, dessen Frau später selbst an der Besetzung teilnahm, interviewte oben in den Bergen Lizzy Fast Horse und Muriel Waukazoo:

Es war unsere Idee, hier heraufzukommen. Wir druckten einige Handzettel über die Bewegung, um die Reservationsbewohner in Pine Ridge darüber zu informieren, was geschehen würde. Wir brachten diese Handzettel von Haus zu Haus und baten die Leute, darüber internes Stillschweigen zu halten und nichts nach außen dringen zu lassen. So wussten die Leute von der indianischen Community in Rapid City sowie in der Reservation bereits einen Monat vor der Besetzung Mount Rushmores über die Aktion Bescheid, während die Weißen ahnungslos waren.

Lizzy Fast Horse fuhr fort: „Da waren nur wir drei Frauen. Wir dachten, noch andere Leute kämen dazu, aber die kamen nicht. Ich denke, sie hatten Angst. Da war heftiges Gewitter bei unserem ganzen Aufstieg, aber wir dachten an Crazy Horse und wussten, er war mit uns. Wir hatten wirklich Angst, dass die Ranger uns festnehmen würden. Für einige Tage verteilten wir Flugblätter an die Touristen unten am Parkplatz. Doch dann kamen Lee Brightman und eine Gruppe seiner Leute, um uns zu unterstützen. Wir wurden mutiger und mutiger, und nun haben wir vor nichts mehr Angst.“73

Lee Brightman (28.4.1930 - 18.6.2017), dessen Urgroßvater bei der Schlacht am Little Big Horn getötet wurde, hatte Ende der 60er die United Native Americans gegründet, war Herausgeber der Zeitschrift „Warpath“ und galt als einer der „jungen Löwen in der indianischen Welt.“74 Aufgrund seiner militanten Aktionen und Argumentationen verlor der Doktorant allerdings seinen Lehrposten an der kalifornischen Universität von Berkeley. Lee, der zuvor nochmals die Lakota mit den Worten agitierte „Nobody gives a **** about us. Let‘s do something. Let‘s make them some news. Let‘s take over this whole **** in mountain,“75 übernahm die Führung der nun auf über 23 Personen angewachsenen BesetzerInnengruppe am Berg, während John Fire Lame Deer, ein traditioneller Lakota-Medizinmann, der spirituelle Führer der Gruppe wurde. In einer Zeremonie benannte er den Mount Rushmore in „Crazy Horse Mountain“ um.

Die Besetzung, an der nun auch mehr und mehr Lakota-Frauen teilnahmen, dauerte annähernd drei Wochen, wurde allerdings nur in einigen amerikanischen Medien publik. Auch Russell Means und John Trudell, einer der Besetzer von Alcatraz, nahmen an der Aktion teil. Es war Trudell, der noch während der agitatorischen Rede Brightman‘s ausrief: „Screw it, let´s take over the mountain.“76

Im Juni 1971, also im selben Monat, in dem Alcatraz polizeilich geräumt wurde und in New York eine Gruppe von Aktivisten die Freiheitsstatue besetzte, um damit auf die Behandlung und Situation der Native Americans in den USA aufmerksam zu machen, besetzten in Süd-Dakota indianische Aktivisten am 6. Juni erneut das Mount Rushmore Monument, unter ihnen Russell Means, Vernon, Clyde und Charlie Bellecourt, der älteste der Bellecourt-Brüder. Die Park-Ranger versuchten die Besetzer zu überreden, das Monument zu verlassen, ansonsten würde die Nationalgarde eingreifen und den Konflikt notfalls mit Waffen beenden. Doch die Besetzer antworteten lediglich: „Wir werden solange hier bleiben, bis ihr den 1868er Vertrag von Fort Laramie anerkennt und einhaltet.“77

Es dauerte nicht mehr lange, bis die Besetzer das Anrücken von Polizei und Nationalgarde-Soldaten hörten. Während Vernon Bellecourt mit einem Teil der Leute entschied, sich auf den Abstieg vorzubereiten, beschlossen seine Brüder mit Russell Means auf dem Monument zu bleiben.

Gegen die Überzahl der Uniformierten hatten die Besetzer keinerlei Chance. Sie wurden geschlagen, getreten, auf den Boden geworfen und anschließend mit Handschellen gefesselt. Ein spiritueller Altar wurde zerstört. Die zweite Besetzung des Mount Rushmore Monument endete erheblich gewalttätiger seitens der Staatsmacht, erregte in den Medien allerdings auch wesentlich mehr Aufmerksamkeit.

Trail of Broken Treaties

Der Mord an Richard Oakes, dem führenden Sprecher der Alcatraz-Besetzung, am 20. September 1972 forcierte die Vereinigung verschiedenster indianischer Protestgruppen und gab letztendlich einen zusätzlichen Anstoß für die Aktion, die als „Trail/ March of Broken Treaties“ in die Geschichte des indianischen Widerstandes eingehen sollte.

Eigentlich sollte die Sternfahrt, die Autokonvois aus verschiedenen Städten der USA nach Washington führte, friedlich verlaufen. Der Zeitpunkt, kurz vor der Präsidentschaftswahl, war bewusst gewählt, wollte man doch für das Thema der „gebrochenen Verträge“ (u. a. die Verträge von Fort Laramie) und des Unrechts, das man der indianischen Bevölkerung angetan hatte und immer noch antat, die Öffentlichkeit während des Wahlkampfes gewinnen und zugleich „ein neues indianisches Selbstbewusstsein wecken“, so Clyde Bellecourt.78

Um mögliche Eskalationen gerade auch durch jüngere Teilnehmer zu vermeiden, war Alkohol- und Drogenkonsum während der Sternfahrt durch die Organisatoren untersagt worden. Bob Burnette, der die ausschlaggebende Ideen für die Aktion hatte: „Wir müssen uns von unserer besten Seite zeigen. Keine Drogen oder Alkohol. Und keine Gewalttätigkeiten. Jeder, der diese Regeln verletzt, wird ausgeschlossen. Die Alten, die Kranken, die Kinder, die Ärmsten und Schwächsten, die alle nicht mitlaufen konnten, sind in ihren Gedanken mit uns. Dies muss einer der wichtigsten Momente unserer Geschichte werden.“79

Ziel war ein Treffen mit Regierungsvertretern, um mit ihnen über ein 20-Punkte-Programm zu verhandeln, das Vorschläge für die Erneuerung der Verträge enthielt und als Grundlage zur Verbesserung der Lebensbedingungen und der Rechtslage für die indianische Bevölkerung dienen sollte.

Am 30. September, zehn Tage nach dem Mord an Oakes, kamen insgesamt zwölf indianische Organisationen zusammen, um sich an der Vorbereitung der Aktion zu beteiligen. Neben dem AIM waren dies das National Indian Youth Council, das National American Indian Council, das National Council on Indian Work, der Native American Rights Fund, das National Indian Leadership Training, die American Indian Commission on Alcohol and Drugs Abuse, die United Native Americans, das Native American Women‘s Action Council, die National Indian Brotherhood aus Kanada, das National Indian Lutheran Board und die Coalition of Indian Controlled School Boards.

Die Palette dieser zwölf Gruppen sowie die Anwesenheit vieler Stammesältester signalisierten, dass keine militanten Aktionen beabsichtigt waren. Und damit sich die Regierungsvertreter besser auf das Treffen vorbereiten konnten, schickte man diesen bereits zwei Wochen vor Ankunft der Konvois ein in Minneapolis verfasstes Verhandlungspapier einschließlich des bereits erwähnten „20-Punkte-Plans“ zu.

AIM-Gründungsmitglied Eddie Benton Banai erklärte später, dass es sogar Zusicherungen gegeben habe, dass eine Delegation der indianischen Vertreter Zugang zum Innenministerium und zum Weißen Haus erhalten würden. Dementsprechend positiv eingestimmt brachen am 6. Oktober die ersten Autokarawanen aus den unterschiedlichsten Staaten und Städten der USA zu ihrer zum Teil einmonatigen Fahrt nach Washington auf. Dennis Banks und „Mad Bear“ Anderson führten den Konvoi aus San Francisco an, Peltiers Cousin Steve Robideau leitete die Delegation von Seattle, Leonard Peltier den Konvoi aus Milwaukee.

 

Als die verschiedenen Konvois Anfang November zusammentrafen und in Washington D. C. einfuhren, hatten sie eine Gesamtlänge von über 6 km erreicht. Als am 2. November 1972 diese eindrucksvolle Karawane in das Regierungsviertel einfuhr, war ob dieses Erfolges die Stimmung unter den über 2.000 Teilnehmern optimistisch und euphorisch.

Dies sollte sich rasch ändern. „Wir hatten unsere Häuptlinge dabei – Frank Fools Crow und Charlie Red Cloud und viele andere“, sagte Leonard Peltier. „Für diese Stammesältesten war Unterkunft versprochen worden, aber die Kirche, wo sie untergebracht werden sollten, war voller Ratten … Dies waren die Häuptlinge unserer indianischen Nation, und wir fühlten, dass sie mit Respekt behandelt werden sollten. So entschlossen wir uns, zum BIA-Gebäude zu ziehen und mit Louis Bruce zu reden80, und als uns eine angemessene Unterkunft für unsere Häuptlinge verweigert wurde, war der Plan, mit einem Sit-in innerhalb des Gebäudes so lange zu bleiben, bis wir entsprechende Resultate erreicht hätten. Wir planten sicherlich keine Besetzung.“81

Mary Crow Dog berichtet in ihrem Buch „Lakota Woman“ von nicht funktionierenden Toiletten und fehlender Heizung in der Unterkunft. „Ein älterer kanadischer Indianer schleppte sich an seinen Krücken durch das Gebäude. Seine Beine waren verkrüppelt, und er konnte keinen gepolsterten Platz zum Rasten finden. Und ein junges Mädchen schrie, dass da nicht nur Ratten, sondern auch Millionen von Kakerlaken wären. Ein junger Ojibway-Mann sagte, dass er nicht die Slums von St. Paul für eine solche Unterkunft verlassen hätte.“82

Zur Eskalation trug weiterhin bei, dass keines der erwarteten Treffen mit Regierungsvertretern im Innenministerium oder Weißen Haus stattfinden sollte. Präsident Nixon, der sich auf dem Höhepunkt seines Wahlkampfes befand, lehnte es ab, sich Zeit für ein Treffen mit den indianischen Delegierten zu nehmen. Und als eine andere Gruppe des „Trail of Broken Treaties“ auf dem Heldenfriedhof Arlington den Pima-Indianer Ira Hayes ehren wollte (Hayes wurde weltweit durch das Foto bekannt, das eine Gruppe US-Soldaten zeigte, die nach der Schlacht um Iwojima auf dem Berg Suribachi die Flagge der Vereinigten Staaten hisste) und durch Ordnungskräfte daran gehindert wurde, da diese die religiöse Zeremonie als politische Aktion bezeichneten und daraufhin verboten, war die Wut vieler Teilnehmer nicht mehr zu stoppen. Auch der Versuch, das Sit-in im BIA-Gebäude durch Spezialkräfte zur Aufstandsbekämpfung brutal zu beenden, fachte vor allem bei jüngeren Aktionsteilnehmern die Wut an. Nach der versuchten Räumung ließen die Protestierenden alle Büro-Angestellten noch das Gebäude verlassen, bevor sie es von innen verbarrikadierten, sich aus Tischbeinen und anderen Gegenständen Waffen herstellten und die Versuche, in das Gebäude einzudringen, abwehrten, indem sie Gegenstände aus dem ersten Stock auf die schwer bewaffneten Polizeitruppen hinunterwarfen.

Von da ab war das BIA-Gebäude für eine Woche besetzt. Gleichzeitig kam es auch immer wieder vor dem Gebäude und in den angrenzenden Straßen Washingtons zu Auseinandersetzungen zwischen indianischen Aktivisten und der Polizei. Kamerateams übertrugen diese Bilder in die Wohnzimmer überall in den USA und zeichneten dabei oftmals ein Bild von „wilden, gewalttätigen, kriminellen und politisch subversiven Indianern“. Unterstützung erhielten die Besetzer vor allem durch Organisationen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die Lebensmittel zum besetzten BIA-Gebäude brachten. Später folgten kirchliche Gruppen und andere Sympathisanten, die an Aktionen vor dem Haus teilnahmen oder Lebensmittel und Geld spendeten.

Dennis Banks sagte, dass AIM zwar gegen Gewalt sei, aber es schiene so, als müsse es ein weiteres Watts83 geben, um der Öffentlichkeit die Notlage der Native Americans klarzumachen. Russell Means merkte gegenüber einigen Reportern an, dass die Medien sie ignorierten: „Was müssen wir tun, um Aufmerksamkeit zu bekommen? Jemanden skalpieren?“84

Längst waren nun Russell Means, Dennis Banks, Clyde und Vernon Bellecourt zu den Sprechern der Besetzung geworden und hatten Bob Burnette mehr und mehr abgelöst. Es folgten zahlreiche Verhandlungen, und dabei erwiesen sich gerade auch die Frauen unter den Besetzern als starke Rednerinnen. „Eine unserer besten Sprecher war eine ältere Frau namens Martha Grass. Sie reckte ihre Faust vor dem Gesicht des stellvertretenden Sekretärs des Innenministeriums. In einer Rede sagte sie: „Wenn ich nicht das bekomme, weswegen ich hier bin, dann wird dieses Gebäude als Ruine enden. Warum haben sie alle diese wunderschönen Büros und sitzen hinter ihren polierten Schreibtischen und haben es bequem, aber sie haben nicht das Geringste für uns? In diesem Innenministerium gibt es doch nichts außer Betrüger und Lügner. Von hier aus stehlen sie dich blind. Das tun sie wirklich. Sie stahlen das gesamte Land. Sie stahlen die Luft, das Gras, alles was sie in die Hände bekamen. Wir holen uns das zurück, so gut wir können. Wir sind die Basis (Grassroot). Wir haben all dies so satt.“85

Letztendlich wurde auf eine gewaltsame Räumung des Gebäudes verzichtet. Der Kompromiss sah vor, dass den Besetzern alle Auslagen für die Heimfahrt bezahlt würden (66.650,-- $) und dass niemand für die Besetzung angeklagt werden würde. Auf den Zwanzig-Punkte-Katalog wurde allerdings auch nicht mehr eingegangen. Lediglich die Senatoren Edward Kennedy und Wayne Aspinall versprachen, das Papier in Extra-Anhörungen zu beraten.

Dennoch buchten die Besetzer die Aktion als Erfolg ab, denn sie hatten kollektiv und stammesübergreifend dem weißen Amerika getrotzt. Außerdem hatten sie zwei LKW-Ladungen mit dreißig Tonnen an Dokumenten mitgenommen, die jede Menge Beweismaterial zu Korruption und Unterschlagungen offenbarten. Leonard Peltier jedoch geriet mit dieser Aktion, nachdem er bereits 1970 bei der Besetzung von Fort Lawton verhaftet worden war, erneut in den Fokus des FBI. „Das war der Zeitpunkt, als mein Name als Sicherheitschef bei der BIA-Besetzung ganz oben auf ihren86 geheimen Abschusslisten landete, als ‚AIM-Agitator‘ und ‚Schlüsselfigur der Extremisten.‘… Jetzt war ich gebrandmarkt.“87