Der alte Kettenhund
Als der letzte Karpfen in Emils Schlund verschwunden war, rieb sich unser Drache
den Bauch und fauchte zufrieden: „Mit 'nem vollen Magen lässt sich ein Schläfchen
wagen.“ Sprachs und streckte sich auf der Dorfwiese nieder.
Wenn Drachen ein Nickerchen machen, dauert das erfahrungsgemäß einige Tage oder
noch länger. So war es auch hier. Als Emil nach einer Woche wieder erwachte, stand ein
alter Hund vor ihm, der eine Kette um den Hals trug. Es war der Kettenhund Otello.
Einst glänzte sein glattes Fell in schönstem Rabenschwarz. Nun war es aber zerzaust
und zur Hälfte grau. Kaum dem Welpenalter entsprungen, hatte man ihn an eine Kette
gelegt und ihn zum Wachhund erniedrigt.
Sein ganzes Leben lag er nun schon in Ketten, durfte nur bellen und erhielt wenig
Fressen. Oft empfing er die Rute, wenn die Katzen Würste stahlen oder er die Marder
nicht von den Hühnerställen fernhalten konnte. Wie sollte er das mit der Kette auch?
Sie hielt ihn kurz. Im Laufe der Zeit erkannten Gänse, Katzen und Marder die schwache
Stelle des Kettenhundes und er wurde fortan zum Gespött aller.
„Du bist ein dummer Hund, Otello, ich würge die Hühner und werde weit und breit
geachtet. Aber du, du liegst an der eisernen Leine und wirst für deine Dienste mit kal-
tem Fressen belohnt“, sagte der ansonsten stille Marder eines Tages zu ihm und strich
sich über seinen weißen Kehlfleck.
„Miau, miau, Otello, du starker Held. Sieh, wir haben uns wieder Würste geholt. Du
sagst ja gar nichts? Miau, bist aber heute wieder kurz angebunden, hihihi“, stänkerten
die Katzen voller Falschheit.
Aber noch schlimmer als die ewigen Hänseleien der Katzen war das unerträgliche
Geschnatter der dummen Gänse, die überhaupt keinen Respekt vor ihm hatten
und ihm die letzte Ruhe raubten.
7
Otello stand vor Emil und bestaunte seine Größe. Er
war ganz dicht an den Drachen herangegangen, so
weit es ihm die Kette erlaubte. Im Unterschied zu den
anderen Tieren, die den Drachen mieden, fürchtete
er ihn nicht.
„Du hast es gut, Emil, du bist frei“, winselte er traurig
und altersschwach.
Emil öffnete die Augen und sah Otello an.
„Beim Maule meines Großvaters, niemand soll in Ketten
liegen“, fauchte er missmutig. „Willst du frei sein?“
„Ja, aber wo soll ich alter Hund dann hin?“
„Bleibe hier, aber ohne Ketten.“
„Das würden die Menschen niemals dulden.“
„Ein Versuch wäre es wert.“ Und kaum hatte Emil seinen Satz beendet, zerriss er mit
seinen starken Drachenkrallen die Kette.
Der alte Otello konnte seine neu gefundene Freiheit gar nicht fassen. Wie ein Welpe
sprang er ausgelassen herum und freute sich seines Lebens. Als die Katzen aber sahen,
dass der alte Kettenhund frei war, liefen sie um ihr Leben und stoben in alle Richtungen
auseinander. Die Gänse verstummten respektvoll und auch bei den Mardern sprach es
sich schnell herum, dass der alte Otello nicht mehr an der Kette lag.
Als der Bauer sah, dass Emil die Ketten zerrissen hatte, sagte er nachdenklich: „Recht
getan, Emil, das wollte ich schon lange tun!“
„Wisst ihr, wo ich meine Mama finden kann?“, fragte nun Emil, aber alle schüttelten
die Köpfe. Nur Otello wusste zu berichten, dass hoch oben im Moor, welches sich
hinter dem nördlichen Meer befindet, ein Drache hause. „Das erzählten mir letzten
Herbst die Saatkrähen“, fuhr er fort, „und ich dachte mir noch: Er wird genauso
einsam sein wie ich.“
„Das ist meine Mama!“, schnaufte Emil. Und mit diesen Worten erhob sich unser Drache
in die Lüfte.
„Fauch, schmauch, Drachenzahn, lebt wohl, ich muss weiter!“
8
Der Flug über das Meer
Nach einer geraumen Zeit erreichte Emil mit kräftigen Flügelschlägen das im Norden
befindliche Meer. Eine frische Seebrise umstrich seine Nase. Unter sich sah er zwischen
den Wellen allerlei Fische wie Heringe, Dorsche, Seenadeln, Flundern, in der Tiefe
schuppenlose Seeteufel und plumpe Seehasen, einen spindelförmigen Heringshai, ge-
heimnisvolle Sternrochen, aber auch andere Tiere wie Seesterne, Krebse, Quallen und
Ringelrobben. Im dichten Seegras lauerte ein großer Meeraal. Dazwischen tummelten
sich Rotaugen, Karauschen und Stichlinge.
Seeschwalben und Möwen umkreisten ihn mit lautem Geschrei und mit einem Mal
fühlte Emil, dass das Wasser ebenso wie das Feuer zu seinen Elementen zählte.
Als er kein Land mehr sah und sich die Meeresfluten zu einer weißen Gischt brachen
und sich gewaltig in die Höhe hoben, wurde ihm dann doch etwas mulmig zumute.
Was würde geschehen, wenn ihn seine Kräfte verließen? Würde er bis zum nächsten
Ufer schwimmen können?
Glücklicherweise tauchte vor ihm eine längliche Insel auf, die über und über von
Seetang bedeckt und mit Muscheln bewachsen war. Geschickt landete Emil genau in
der Mitte.
Merkwürdig, dachte er, sie scheint nicht fest zu stehen, sondern eher zu schwimmen.
Mit ein paar gekonnten Griffen angelte er sich einige Fische, die an der Insel knabberten.
Sie schmeckten köstlich!
Plötzlich hörte Emil einen geheimnisvollen, wehmütigen Gesang. Der kleine Drache
sah sich verdutzt um. Aber es wurde noch merkwürdiger. Die Insel bewegte sich! Ja,
sie tauchte sogar unter! Emil stieg in die Lüfte auf. Nach einer Weile öffnete sich das
Meer und die Insel erhob sich erneut aus den Wogen.
Mit einem Mal blies jemand eine Art Nebelfontäne aus der Insel. Emil erschrak,
schließlich könnten ja noch mehr Fontänen herausschießen. War er auf einem Vulkan
gelandet, ging es ihm durch den Kopf. Nein, das konnte nicht sein, denn aus einem
Vulkan brach Lava hervor und keine feuchte Luft, oder doch?
„Uuuuuuhhhhh“, rief ihm die Insel mit einer tiefen Stimme zu, „da bin ich wieder.“
Emil traute seinen Augen nicht.
Unter ihm schwamm ein Tier von gewaltigen Ausmaßen! Das muss eines von diesen
Seemonstern sein, sagten ihm seine grauen Drachenzellen, Mama hat mir von ihnen
die merkwürdigsten Geschichten erzählt. Augenblicklich schossen ihm Bilder von
langarmigen Riesenkraken, inselumschlingenden Seeschlangen und schifframmenden
Walfischen ins Gedächtnis. Geschickt wie eine Libelle umkreiste er das Seeungeheuer,
welches mit seinem Schwanz die Wellen peitschte. Wieder blies es eine riesig hohe,
feuchte Luftfontäne aus.
„Eine Seeschlange bist du nicht und wie ein Seedrache siehst du auch nicht aus, eher
wie ein Fisch. Bist du ein Walfisch?“, fragte Emil neugierig und flog direkt vor das
Gesicht des Meeresgiganten.
9
„Ich bin kein Fisch, kleiner Drache, ich bin ein Blauwal. Ich atme wie du. Man nennt
mich Balus.“
„Ich heiße Emil und suche nach meiner Mama, die in einem Moor lebt. Weißt du, wie
ich sie finden kann?“
Balus, der gewaltige Blauwal, stöhnte tief und laut.
„Ach Emil, ich habe einst eine große Dummheit begangen. Ich war es, der das Ei des
letzten Erddrachen an den Trollkönig Frott verriet. Unter falschen Vorgaukelungen
versprach er mir eine unermüdlich sprudelnde Quelle mit Plankton, welches ich doch
so gern esse. Stattdessen betrog er mich, nahm das Ei und ließ mich in meiner Schuld
zurück. Nun bin ich hier und warte auf dich, denn wie ich hörte, wollen die Trolle
deine Mutter zwingen, das Ei auszubrüten, und sich die Herrschaft über die ganze
Welt aneignen.“
„Meine Mama ist stark und schlau. So schnell wird es den Trollen nicht gelingen,
Schaden anzurichten! Aber sag, wo genau finde ich das Moor, in dem meine Mama
lebt?“
„Folge der Sonne! Wenn sie untergehen will, so stößt du auf ein Land mit hohen Berg-
kegeln. Man nennt es das Land der Nordmänner. In dessen Mitte befindet sich ein
riesiges, finsteres Moor. Am unteren Rand des Moores lebt eine Moorhexe, die die
Zukunft weissagen kann. Suche sie auf und sie wird dir den genauen Weg weisen.“