Buch lesen: «Emil aus der Drachenschlucht»
KNABE VERLAG WEIMAR
für Leser ab 8 Jahren
MICHAEL KIRCHSCHLAGER
Das Moor
H
och oben im rauen Norden, wo vor Urgroβväter Zeiten
Wölfe und Bären in den Wäldern hausten und unheimliche
Geister und Kobolde das Land heimsuchten, lebte in einem
finsteren, fauligen Moor eine Drachenmutter mit ihrem Kind.
Der Vater des Kleinen, ein mächtiger Seedrache namens Krea-
tor, war vor vielen Jahren von Wikingern gefangen worden
und musste seitdem einem grausamen Wikingerkönig die-
nen. Überhaupt waren fast alle Drachen, ob sie nun zu den
Guten oder zu den Bösen zählten, von Rittern und anderen
Helden, die sich stolz „Drachentöter“ nannten, ausgerottet.
Die neunköpfige Hydra, die in den Sümpfen von Lerna haus-
te, wurde von Herakles besiegt und der aus Schlamm und
Schleim erwachsene Python vom Gott Apollon mit tausend
Pfeilen erschossen. Besonders übel erging es dem Drachen
Fafnir, der von Siegfried erschlagen wurde und dem groβen
Recken als Braten gemundet hat.
So verwundert es nicht, dass unsere Drachenmutter aus Angst
vor den Menschen ihr Drachenkind nahm und in einem üblen,
brodelnden Sumpf Zuflucht suchte. Diesen Ort hatte bisher
kein Mensch zu betreten gewagt.
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Der Kleine wuchs heran und je älter er wurde, desto gröβer wurde sein Wissens-
durst.
Eines Tages, er hatte wieder einmal ein gutes Dutzend Frösche verspeist, stellte er
seiner Mutter folgende Fragen: „Mama, warum müssen wir eigentlich in diesem
feuchten Moor leben? Können wir uns nicht einfach eine warme Höhle suchen? Und
warum muss ich immer diese schleimigen Frösche essen? Ich denke, das machen nur
die Franzosen?“
Die Drachenmutter wurde darüber sehr nachdenklich. Als Emil, so war sein Name,
in ihren Armen eingeschlafen war, streichelte sie ihr Kind zärtlich über den Kopf
und fasste einen schweren Entschluss.
Mein geliebtes Kind, dachte sie, ewig kann ich dich doch nicht in diesem Moor ver-
stecken. Schon bald bist du groβ und flügge und wirst in all deiner kindlichen Neu-
gier die Welt entdecken wollen. Deine Zähne sind schon fest gewachsen, die Flügel
stark. Feuer spucken lernst du schnell und fliegen auch. Ich hoffe, dir wird es nicht
arg ergehen und es findet sich ein Wesen, das dich aufnimmt und - so es der Schöp-
fer aller Drachen will - zum guten Drachen erzieht.
An dieser Stelle muss gesagt werden, dass die Drachenmutter aus dem Geschlecht
der Feuerdrachen stammte und über ganz besondere magische Kräfte verfügte.
Dazu zählte auch, dass ein Wunsch, ein einziger Wunsch eines Feuerdrachens stets
in Erfüllung geht. Die meisten Drachen behielten sich ihren Wunsch sehr lange auf.
Manchmal viele hundert Jahre. Und auch unsere schlaue Drachenmutter hatte sich
diesen einen Wunsch bis zum heutigen Tag aufgehoben.
Die Drachenmutter begann zu weinen, doch für ihren Liebling schien es ihr das Bes-
te zu sein. Ein letztes Mal küsste sie ihr Kind auf die Stirn. Dann schloss sie ihre Au-
gen und wünschte sich ihren kleinen Emil an einen Ort, an dem die Menschen die
Drachen noch achteten und liebten. Sie selbst musste hier im Sumpf bleiben und auf
Emils Vater warten, denn sicher würde der groβe Kreator eines Tages aus der Wikin-
gergefangenschaft wieder heimkehren. Dann würden sie gemeinsam den kleinen
Emil suchen und wären wieder eine glückliche Drachenfamilie.
Als die Drachenmutter ihre Augen nach einer Weile öffnete, war ihr Kind weg. Trau-
rig und mit schwerem Herzen, aber in der Hoffnung, dass der Kleine nun in einem
Land freundlicher Menschen friedvoll aufwachsen konnte, streckte sie sich lang aus,
legte die Flügel an ihre Seiten und versank im Moor.
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Allein in der Schlucht
Als der kleine Emil aus seinem Schlaf erwachte, war er zunächst erstaunt. Der Sumpf
war weg und kein fauliger Gestank zog mehr in seine Nase. Er befand sich in einer
schmalen Schlucht mit steilen und hohen Steinwänden. Ein kleines Flüsschen, welches
klares frisches Wasser führte, floss in der Mitte der Schlucht hindurch. Nun sah er sich
erschrocken um. Das ist ja gar nicht unser Moor, dachte er, und Mama ist auch nicht zu
sehen.
Verzweifelt und ängstlich begann das Drachenkind seine Mama zu suchen, doch nir-
gends konnte Emil sie finden.
Bei seiner Suche gelangte er an den Rand der Schlucht, wo er merkwürdige Laute hör-
te. Er kannte Menschenstimmen und Hundegebell nicht und kroch voller Furcht zu-
rück. Schlieβlich fand er eine trockene, aber tiefe und finstere Höhle. Hier versteckte er
sich und vergoss Tränen über Tränen. Er weinte ein ganzes Jahr und beinahe wäre er
vor Kummer fast gestorben, wenn eines Tages nicht folgendes geschehen wäre:
Wie vom Zufall gewollt flog eine alte Rabenkrähe durch die Schlucht und hörte das
Weinen und Wimmern aus der Höhle. Was ist denn das, dachte der Krähenvogel und
flog flugs in die Höhle hinein. Wie groβ war sein Erstaunen, als er dort einen kleinen
Drachen vorfand.
„Kräh, kräh, wo kommst du denn her?“, fragte die Rabenkrähe neugierig.
Emil erschrak fürchterlich vor dem schwarzen Vogel mit der krächzenden Stimme, des-
sen Schatten sich an der Höhlenwand zu einem bizarren Ungetüm formten. Völlig ver-
schreckt zog er sich in den hintersten Winkel seiner Zufluchtsstätte zurück.
„Kräh, kräh, na du bist mir ja ein furchtsamer Drache. Hast du etwa Angst vor einem
alten Raben? He, Kleiner, du bist hundertmal gröβer und stärker als ich. Also zeig dich
und sag mir, wie du heiβt.“
Vorsichtig tapste Emil der krächzenden Stimme entgegen. „Ich heiβe Emil und suche
meine Mutter. Und wie heiβt du?“
„Kräh, kräh, ich bin Professor Jakoble, Lehrer an einer Krähenschule. Aber sag, wie
kommst du denn hierher? Ich habe deinesgleichen hier noch nie gesehen.“
„Das weiβ ich auch nicht“, antwortete Emil traurig und erneut rannen Tränen aus sei-
nen Augen.
Professor Jakoble war eine pechschwarze Rabenkrähe mit einem schwarzen dicken
Schnabel und ebensolchen schwarzen Beinen. Verächtlich nannten die Menschen seine
Art auch Aaskrähe, aber darüber ärgerte er sich nicht sonderlich, denn er kannte die
Macken der Menschen. Zudem wusste er, dass die meisten von ihnen nicht allzu schlau
waren. Viele Jahre diente er einem Mönch als Gesprächspartner, und wenn der heilige
Mann rief: „Jakoble, bring mir mein Brillenglas“, dann wusste der kluge Vogel sofort,
was er zu tun und wo er zu suchen hatte. Der Mönch war zwar ein gelehrter Mann, aber
auch sehr vergesslich. Und so vergaβ er mehrmals am Tag, wo er sein Glas zuletzt hin-
gelegt hatte. Als der Mönch gestorben war, verlieβ Jakoble das Kloster und nahm das
Glas als Andenken mit. Es diente ihm zunächst als Spielzeug, mit dem man allerlei