Stil und Text

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2.3.2 StilgestaltenStilgestalt im Text

Im Folgenden wollen wir StilgestaltenStilgestalt an konkreten Texten ausfindig machen und beschreiben. Wir beginnen mit der Stilgestalt AnschaulichkeitAnschaulichkeit und untersuchen, welche GestalteinheitenGestalteinheit gestaltbildend in Betracht kommen. Doch worauf können wir uns dabei stützen? Anschaulichkeit hat viele Gesichter, tritt in unterschiedlichen Ausprägungen in Erscheinung, was auf die im GestaltungsmusterGestaltungsmuster VeranschaulichenVeranschaulichen angelegten Möglichkeiten zurückzuführen ist. Verschaffen wir uns deshalb zunächst einen Überblick (siehe Tab. 6).


StilgestaltStilgestalt AnschaulichkeitAnschaulichkeit(Ausprägungen)GestalteinheitenGestalteinheit
sprachmedial: Exempel (konkrete Beispiele, Beispielerzählungen)bildmedial: Fotos, Zeichnungen, Diagramme, Organigramme u.a.m.

Tab. 6: Ausprägungen von AnschaulichkeitAnschaulichkeit

Die aufgeführten Ausprägungen von AnschaulichkeitAnschaulichkeit können in Texten natürlich auch kookkurrieren. Sie können sich überschneiden, z.B. in Form von bildhafter oder bildlicher DetailliertheitDetailliertheit. Auf den Unterschied zwischen BildhaftigkeitBildhaftigkeit und BildlichkeitBildlichkeit haben Elise Riesel und Evgenia Schendels (1975: 205ff.) aufmerksam gemacht. Sie verweisen darauf, dass Bildhaftigkeit bereits in der BedeutungSemantik/semantisch lexikalischer Einheiten angelegt ist (Beispiele liefern bildhafte Verben wie trippeln statt gehen oder nippen statt trinken), während Bildlichkeit i.d.R. erst im Text entstehen kann, durch die Verwendung lexikalischer Einheiten. Bildlichkeit ist allerdings vielen phraseologischen Einheiten eigen, z.B. SprichwörternSprichwort (Viele Köche verderben den Brei.). Durch ihre Verwendung entsteht formelhafteFormelhaftigkeit/Formelhaft-Machen Bildlichkeit. Im Unterschied dazu ist die GestaltqualitätGestaltqualität AndringlichkeitAndringlichkeit kennzeichnend beispielsweise für Texte, die von einem vergangenen oder zukünftigen Geschehen handeln, als sei es ein gegenwärtiges. Das Geschehen wird dicht an den Rezipienten herangebracht (vgl. Schneider 1931: 19). GestalteinheitenGestalteinheit sind Verbformen im Präsens sowie Temporaladverbien wie gerade oder soeben, die verdeutlichend hinzutreten können.

Betrachten wir nun zwei Textproben im Hinblick darauf, welche Ausprägung von AnschaulichkeitAnschaulichkeit sie zu erkennen geben.

Es sieht aus wie eine ganz normale Kneipe, eine recht kleine eben. An vier Tischen sitzen junge Menschen vor gefüllten Gläsern und Tassen, sie quasseln und lachen. Die Frauen haben Make-up aufgelegt, manche mehr, manche weniger. Einige haben ihre Nägel lackiert, andere nicht. Sie haben Hosen, Röcke, Kleider an. Die Männer tragen Hemden, T-Shirts, lange Haare, kurze Haare, Vollbärte, Nullbärte. Sie reden miteinander, durcheinander. Sie lachen, streiten, debattieren. Quer über die Tische hinweg. Frauen mit Frauen, Frauen mit Männern, Männer mit Männern. Wie es eben so abends an Orten aussieht, an denen sich Studenten treffen. Nur dass dieser Ort in einer mittelgroßen Stadt im Iran liegt: Siraz.

Beispieltext 5: Reisereportage (Textanfang)

Das Magazin, Nr. 4/2015, 47.

Im Rahmen der journalistischen TextsorteTextsorte Reportage stellen sich u.a. folgende Stilfragen:

 Welcher Einstieg wird reportageeröffnend gewählt?

 Wie wird der Schauplatz des Geschehens beschrieben?

Als GestalteinheitenGestalteinheit von AnschaulichkeitAnschaulichkeit kommen folgende StilelementeStilelement in Betracht:

 eine Vielzahl an Konkreta unter den Substantiven, d.h. Wörtern, die Gegenständliches bezeichnen (Kneipe – Tische – Gläser – Tassen – Haare – Bärte usw.);

 ein bildhafter VergleichVergleichbildhafter (aussehen wie eine ganz normale Kneipe);

 eine Vielzahl an paarigen Aufzählungsgliedern (Gläser und Tassen – quasseln und lachen – manche mehr, manche weniger – einige, andere – miteinander, durcheinander – Frauen mit Frauen usw.);

 eine Vielzahl an Asyndeta (Hosen, Röcke, KleiderHemden, T-Shirts, lange Haare, kurze Haare, Vollbärte, Nullbärte – lachen, streiten, debattieren – Frauen mit Frauen, Frauen mit Männern, Männer mit Männern);

 ein ZeugmaZeugma (Hemden und T-Shirts tragen vs. Haare und Bärte tragen – die Aufzählungsglieder liegen nicht auf ein und derselben begrifflichen Ebene);

 das historische PräsensPräsenshistorisches (z.B. An vier Tischen sitzen junge Menschen.).

Wir stellen fest: Es dominiert das AufzählenAufzählen von Einzelheiten eines Erscheinungsbildes, was dem Text DetailliertheitDetailliertheit verleiht. Weitere Ausprägungen von AnschaulichkeitAnschaulichkeit im Text sind BildhaftigkeitBildhaftigkeit (siehe Konkreta und bildhafter VergleichVergleichbildhafter) und AndringlichkeitAndringlichkeit (siehe historisches PräsensPräsenshistorisches). Dass sich die StilgestaltStilgestalt Anschaulichkeit im Rahmen der TextsorteTextsorte Reportage entfalten kann, ist in der journalistischen Kommunikationsaufgabe begründet, über Geschehnisse an einem Ort aus eigenem Erleben, d.h. vor Ort Bericht zu erstatten. Der Reporter ist immer Augenzeuge eines Geschehens und baut eine „Erlebensperspektive“ (Lüger 1995: 115) auf. Der Einstieg, die Texteröffnung, muss jedoch nicht zwangsläufig anschaulich gestaltet sein, denn Journalisten können auch mit einer These, einem abstrakten Gedanken, einem Standpunkt beginnen (vgl. Gehr 2010: 172f.). Anschaulich hingegen ist der szenische Einstieg, bei dem sich der Reporter schon mit dem ersten Satz „räumlich in einer ‚Szene‘ situiert“ (Burger 2005: 216) – wie bei unserem Beispieltext.

Die nächste Textprobe ist ein Auszug aus einem Roman.

Unter einer gläsernen Käseglocke sind sie miteinander eingeschlossen, Erika, ihre feinen Schutzhüllen, ihre Mama. Die Glocke läßt sich nur heben, wenn jemand von außen den Glasknopf oben ergreift und ihn in die Höhe zieht. Erika ist ein Insekt in Bernstein, zeitlos, alterslos. Erika hat keine Geschichte und macht keine Geschichten. Die Fähigkeit zum Krabbeln und Kriechen hat dieses Insekt längst verloren. Eingebacken ist Erika in die Backform der Unendlichkeit.

Beispieltext 6: Roman (Auszug aus Teil I)

Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. 27. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2003: Rowohlt Taschenbuch, 17f.

Im Rahmen der poetischenPoetizität/poetisch TextsorteTextsorte Roman sind u.a. folgende Fragen stilistisch relevant:

 Aus welcher PerspektivePerspektive/Perspektivieren wird das fiktionale Geschehen erzählt?

 Wie werden die Figuren des fiktionalen Geschehens bezeichnet und beschrieben?

Erzählstilistisch relevant ist an dem Auszug aus Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ erstens, dass das Erzählersubjekt keine Figur des Romans ist, erzählt wird von einer Außenperspektive aus, dass sich das Erzählersubjekt zweitens reflektierend in das Romangeschehen einschaltet, es damit unterbricht, und dass es drittens – und das ist für unsere Untersuchung relevant – seine Reflexionen mit BildlichkeitBildlichkeit ausstattet, und zwar mittels einer dreigliedrigen Kette von AllegorienAllegorie. Dabei finden drei unterschiedliche Bildmotive Verwendung (Käseglocke, Bernsteinschmuck, Backform), aber nicht im Sinne einer Aneinanderreihung von Einzelheiten, wie sie für die DetailliertheitDetailliertheit von Texten (vgl. Text 5) charakteristisch ist, sondern im Sinne der Entfaltung eines gemeinsamen allegorischen Themas. Bei allen drei Allegorien finden Elemente einer gegenständlichen (toten, starren) Welt Verwendung, um Eigenheiten der Psyche der Hauptfigur zu verbildlichen. Wir stellen fest, dass sich die einzelnen Teilbilder wechselseitig ergänzen. Bildlichkeit wie diese basiert auf gestalterischer Kreativität. Insofern manifestiert sich in dieser GestaltqualitätGestaltqualität zugleich eine GestaltungsideeGestaltungsidee.

 

Der nächste Beispieltext beherbergt eine StilgestaltStilgestalt von gänzlich anderer Natur.


Beispieltext 7 : Bildwitz

Jan Bleiß: Kalender „Kulinarische Missverständnisse“. 2015 (Privatarchiv).

Stilfragen, die sich im Rahmen der TextsorteTextsorte Witz und ihrer Variante, dem Bildwitz, stellen, richten sich vor allem auf die GestalteinheitenGestalteinheit PointePointe und PointenvorbereitungPointenvorbereitung:

 Wie wird die PointePointe vorbereitet?

 Auf welche Weise wird die PointePointe entfaltet?

PointenvorbereitungPointenvorbereitung: Das zu betrachtende Textexemplar ist – wie unschwer zu erkennen ist – zweigeteilt: in einen sprachmedialen und einen bildmedialen Teiltext. Der sprachmediale Teiltext steht über dem bildmedialen und ist deshalb als pointenvorbereitender Teiltext anzusehen. Die PointePointe wird mit einer alltagssprachlichen Äußerung vorbereitet, erkennbar an den ApokopenApokope/Apokopieren (Lautabstoßungen am Wortende) dies statt dieses und mach statt mache, an der intimen Anrede Schatzi und dem RegionalismusRegionalismus (Berlinismus) ick. Durch Fettschrift hervorgehoben ist ein Ausdruck aus der FachspracheFachsprache der Kochkunst: der ProfessionalismusProfessionalismus Karpfen blau, der auch in die AlltagsspracheAlltagssprache eingegangen ist. Dass mit der Äußerung die Pointe vorbereitet wird, erschließt sich, wenn man die Zeichnung betrachtet und feststellt, dass man, um die Pointe zu verstehen, zuvor die Äußerung gelesen haben muss. Bildmedial dargestellt ist ein Mann in einem häuslichen Milieu, an einer Badewanne stehend, in der ein Karpfen schwimmt, in die Wanne eine Flasche mit Alkohol gießend. Eine bereits geleerte Flasche mit der Aufschrift Schn(aps) liegt auf dem Boden, weitere Flaschen mit Alkohol stehen bereit. Die Zeichnung illustriert nicht die Äußerung, hat also nichts mit AnschaulichkeitAnschaulichkeit zu tun, sondern macht die Äußerung als Teil eines Bildwitzes überhaupt erst interpretierbar. Die beiden Teiltexte passen nicht nur zueinander (die alltagssprachliche Äußerung korrespondiert hervorragend mit der bildmedialen Darstellung einer Badezimmer-Szene), sie gehören vielmehr pointenentfaltend zusammen.

PointenentfaltungPointenentfaltung: Die PointePointe entfaltet sich zwischen beiden Teiltexten. Der Überraschungseffekt, der sich einstellt, basiert auf der Überlagerung von zwei Bedeutungsvarianten eines Wortes. Es überlagern sich die fachsprachliche und die umgangssprachliche BedeutungSemantik/semantisch des Adjektivs blau. Die fachsprachliche Bedeutung (‚blau verfärbt‘) ist an den ProfessionalismusProfessionalismus Karpfen blau gebunden. In der UmgangsspracheUmgangssprache aber hat das Adjektiv blau die Bedeutung ‚betrunken‘. In die Beschreibung der StilgestaltStilgestalt können wir also das UmdeutenUmdeuten eines fachsprachlich gebundenen Wortes in ein umgangssprachliches Wort als pointenentfaltendes GestaltungsverfahrenGestaltungsverfahren aufnehmen.

GestaltqualitätGestaltqualität: Bei der Erfassung des Gestaltungszusammenhangs, in den sich die GestalteinheitenGestalteinheit PointePointe und PointenvorbereitungPointenvorbereitung einordnen, ist es wohl naheliegend, sich für WitzigkeitWitzigkeit zu entscheiden – eine Gestaltqualität, die auf dem GestaltungsaktGestaltungsakt Witzig-Machen beruht. Wir können uns dabei auf eine eingeformte kommunikative „Ordnungswidrigkeit“ stützen und damit auf eine besondere GestaltungsideeGestaltungsidee. Sie besteht darin, den ProfessionalismusProfessionalismus Karpfen blau einem Missverständnis auszusetzen. Dessen Besonderheit ist es, dass ihm eine absurde Denkweise innewohnt, die absurde Konsequenzen nach sich zieht. Erst durch die Absurdität des Denkens und Handelns wird das Missverständnis witzig. Rezipienten sind angehalten, die Pointe zu rekonstruieren, indem sie beide BedeutungenSemantik/semantisch des Adjektivs blau in eine Interferenzbeziehung bringen. (Weiteres zur TextsorteTextsorte Bildwitz u.a. bei Hoffmann 2001.)

Das Ganze würde natürlich auch rein sprachmedial funktionieren:

Steht ein Mann im Badezimmer. In der Badewanne schwimmt ein Karpfen. Der Mann gießt eine Flasche Alkohol nach der anderen in die Wanne und ruft seiner Frau zu: „Schatzi, dies Jahr mach ick den Karpfen blau.“

In der bimedialen Fassung sind beide Teile, der sprach- und der bildmediale, aufeinander angewiesen. Fehlte einer von beiden, ginge nicht nur die WitzigkeitWitzigkeit des Textes verloren, sondern auch die Zugehörigkeit des Textes zur TextsorteTextsorte Bildwitz. Die Zeichnung für sich allein stehend würde sich allenfalls für ein Bilderrätsel eignen, bei dem der Sinn zu erraten wäre.

Abschließend sei noch ein Gedicht, Ernst Jandls „markierung einer wende“, auf seine stilistische Gestalthaftigkeit hin untersucht.


19441945
kriegkrieg
kriegkrieg
kriegkrieg
kriegkrieg
kriegmai
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
(markierung einer wende)

Beispieltext 8: Gedicht

Ernst Jandl: Augenspiel. Gedichte. Berlin 1981: Volk und Welt, 74.

Stilfragen im Textsortenrahmen Gedicht stellen sich u.a. wie folgt:

 Welche Einheiten umfasst die lyrische Textwelt, und wie werden sie bezeichnet?

 Welche GestaltungsmittelGestaltungsmittel der Gattung Lyrik werden gestaltbildend verwendet?

Als mögliche Einheiten einer das Gedicht prägenden StilgestaltStilgestalt drängen sich dem Betrachter keinesfalls typische lyrische GestaltungsmittelGestaltungsmittel auf. Statt deren vor allem diese:

 die Aufgliederung der Textfläche in zwei Spalten;

 der KontrastKontrast/Kontrastieren zwischen einer zwölfzeiligen (links) und einer fünfzeiligen Spalte (rechts) mit dem Monatsnamen mai an fünfter Position;

 das zwölfmalige Vorkommen des Gattungsnamens krieg in der linken Spalte und dessen viermaliges Vorkommen in der Spalte rechts;

 das Vorkommen von ZahlwörternZahlwort (Jahreszahlen) in Ziffernschreibweise als fettgesetzte Spaltenüberschriften (1944 und 1945).

Für die Synthese der GestalteinheitenGestalteinheit zu einer den Text prägenden GestaltqualitätGestaltqualität sind alle diese Beobachtungen am Text wesentlich. Alle registrierten Einzelheiten verweisen auf Eigenschaften, wie sie Kalendern in dieser oder jener Form zukommen. Kalender enthalten Jahreszahlen und Monatsnamen; sie sind in Spalten aufgegliedert und weisen eine zwölfteilige Struktur auf, in der der Monat Mai die fünfte Position besetzt. Dem Text – so wird man es deshalb sagen dürfen – ist die GestaltungsideeGestaltungsidee eingeformt, ein Gedicht in Kalenderform, eine lyrische Textwelt in der Art eines Kalenders zu präsentieren. Natürlich handelt es sich nur um eine schwach ausgeprägte ÄhnlichkeitsbeziehungÄhnlichkeitsbeziehung mit der TextsorteTextsorte Kalender. Aber wenn man sie bemerkt, d.h. sieht, könnten die Spalteninhalte mit dem stereotyp wiederholten Wort krieg als Einträge eines Kalenderbenutzers interpretiert werden und somit als ein Hinweis darauf, dass sich ein lyrisches SubjektLyrisches Subjekt als Stimme in der Textwelt des Gedichts artikuliert, aber im Monat Mai verstummt, da ja Monatsnamen in Kalendern vorgedruckt sind. Vielleicht mag sich der eine oder andere Rezipient des Textes zu Recht fragen, ob der Text überhaupt als ein Exemplar des Lyrik-Genres Gedicht gelten kann. Der Autor Ernst Jandl jedenfalls hat sich zu dieser Frage selbst geäußert und sie mit Ja beantwortet (vgl. Fix/Poethe/Yos 2001: 141).

Beim Entdecken der GestaltungsideeGestaltungsidee (Gedicht in Kalenderform) ist das Wissen des Rezipienten in zweifacher Hinsicht gefragt. Benötigt wird zum einen Sprachwissen: zu den Wortschatzbereichen Gattungsnamen, Monatsnamen und ZahlwörternZahlwort, zum anderen Kommunikationswissen: zu den typischen formalen Merkmalen von Kalendern und Gedichten. Wir kommen darauf zurück (siehe 3.1.2).

DISKUSSION

1 . Manche Texte weisen Stilbrüche auf. Wie verhält es sich hier mit der Ganzheitlichkeit von Stil?

‚StilbruchStilbruch’ ist eine Kategorie der Bewertung von Stil, bei der die GestaltungsprinzipienGestaltungsprinzip EinheitlichkeitEinheitlichkeit und StimmigkeitStimmigkeit als Bewertungsmaßstäbe fungieren. Es gibt gewollte (intendierte) und ungewollte Stilbrüche. Ein Beispiel für Letzteres ist eine kindersprachliche Äußerung wie Frau Müller, hast du einen Freund?, wo die förmliche Anrede und das familiäre Anredepronomen nicht zusammenpassen, unstimmig sind. Ein Beispiel für einen gewollten Stilbruch stammt aus einer Begräbnisszene in einer Filmkomödie. Der Trauerredner sagt Der teure Tote hat in seinem Leben stets die Kurve gekriegt. BrüchigBrüchigkeit an dieser Äußerung ist die Kombination von Ausdrücken der gehobenen und einer niederen StilschichtStilschicht (zum Begriff siehe Abschnitt 2.8.2). Der gehobensprachliche PhraseologismusPhraseologismus der teure Tote und der saloppsprachliche Phraseologismus die Kurve kriegen passen nicht zusammen. Sie sind für den GestaltungsaktGestaltungsakt Komisieren eingesetzt worden. Das Beispiel zeigt, dass auch Stilbrüche als StilgestaltenStilgestalt angesehen werden können – hier mit der GestaltqualitätGestaltqualität Komik als funktionalem Gestaltungszusammenhang zwischen zwei nicht zueinander passenden GestalteinheitenGestalteinheit. Dagegen müssen ungewollte Stilbrüche, die unfreiwillig komisch sein können, als Pannen oder auch als Fehler bei der Gestaltbildung eingestuft werden.

2 . Sind MustermischungenMustermischung Stilbrüche?

Legte man den Bewertungsmaßstab EinheitlichkeitEinheitlichkeit an, müsste man bei MustermischungenMustermischung (siehe dazu die Beispielanalysen zu den Texten 3 und 4 im Abschnitt 2.2) von gewollten Stilbrüchen sprechen. Legt man indes den Bewertungsmaßstab StimmigkeitStimmigkeit an, wird man in Mustermischungen, die dem Realisieren von GestaltungsideenGestaltungsidee dienen, keine Stilbrüche sehen, da die kombinierten Merkmale aus verschiedenen Mustern zueinander passen.

3. In der Literatur wird bisweilen davon gesprochen, dass StilgestaltenStilgestalt erst im Kopf des Rezipienten entstehen. Stimmt das?

Mit Ja beantwortet wird diese Frage u.a. von Ulf Abraham (1996: 290). StilgestaltenStilgestalt seien ein Gestalterlebnis und somit im wahrnehmenden Subjekt aufzusuchen, nicht im Text. Nach unserer Auffassung aber sind Stilgestalten wahrnehmbare und interpretierbare Ganzheiten im Text, d.h., ob und wie sie wahrgenommen und interpretiert werden, ist in der Tat rezipientenabhängig. Bevor sie jedoch wahrgenommen und interpretiert werden können, müssen sie wahrnehmbar und interpretierbar gemacht worden sein – sie sind also auch produzentenabhängig. Und als Gestaltungsprodukte sind sie – dieser Logik folgend – Eigenschaften von Texten. Anderenfalls müsste man auch Text und Stil voneinander trennen, so wie es Ulf Abraham konsequenterweise tut. Und folgte man dieser Auffassung, verlören auch gebräuchliche Gestaltkennzeichnungen wie Textdesign oder LayoutLayout (siehe Abschnitt 3.4.1) ihre Bindung an die Materialität von Texten und wären ausschließlich kognitive Entitäten.