Marie bucht einen Mann

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Marie bucht einen Mann
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Für meinen Freund, Verleger und Agenten

Michael Becker

in Erinnerung an unsere wunderbare Freundschaft

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright 2021 by Prinzengarten Verlag

Dr. Hans Jacobs, Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

Foto Umschlag: Karolina Grabowska / Kaboompics

ISBN 978-3-89918-822-6

Marie bucht

einen Mann

Micha Rau

Erste Begegnung

Ihr Herz klopfte bis zum Hals und ihre Hände waren feucht vor nervöser Anspannung. Zimmer 1413. Zum wiederholten Mal fischte sie ihr Handy aus der Manteltasche, suchte die SMS heraus und versicherte sich, dass es die richtige Zimmernummer war. 1413. Kein Zweifel.

Sie stand im 14. Stock des Holiday Inn und spürte wie sich die Fahrstuhltüren hinter ihr mit einem leisen Zischen schlossen. Sie schluckte. Ich kann einfach wieder gehen, dachte sie. Ich bin verrückt. Jens wird es merken. Jemand könnte mich sehen, wenn ich aus dem Hotel komme. Mit fahrigen Bewegungen verstaute sie ihr Handy wieder in der Tasche und holte Luft.

Nein! durchfuhr es sie. Ich will es! Ich hasse mein Leben! Drei Schritte und sie stand in dem langen Flur, von dem links und rechts die Zimmertüren abgingen. Blaurot gemusterter Teppichboden dämpfte jedes Geräusch. Ein Lächeln umspielte ihren Mund, als sie daran dachte, welche Arten von Geräuschen dieser Flur wohl jeden Tag und vor allem jede Nacht mit anhören musste. Langsam schritt sie die Türen ab, bis sie vor der Nummer 1413 anlangte. Sie lauschte, aber nichts verriet ihr, ob sich hinter dieser Tür etwas regte.

Wie würde er aussehen? Sie dachte an die Fotos auf seiner Website, die ihn im besten Licht zeigten. Sie hatte diese Seite erst entdeckt, als sie schon aufgeben wollte. Gab man Callboy bei Google ein, erschienen unzählige Treffer homosexueller Männer, die ihre Dienstleistungen anboten. Und diejenigen Seiten, die sich an Frauen wendeten, hatten sie eher abgestoßen als angezogen. Muskelmänner mit dümmlichem Gesichtsausdruck und den unmöglichsten Posen boten die bizarrsten Sexspielchen an. Und unter den wenigen halbwegs annehmbaren männlichen Prostituierten hatte sie niemanden gefunden, der sie gereizt hätte. Sie lächelte. Sagte man Prostituierte zu Männern, die Sex für Geld anboten? Vielleicht würde sie ihn danach fragen. Aber dazu musste sie ihn erst einmal sehen.

Als sie die Hand hob, um anzuklopfen, hielt noch einmal inne. Sie wollte sich sein Gesicht, das sie nur von den Fotos her kannte, noch einmal ins Gedächtnis rufen. Und wenn er so ganz anders aussah als in seinem Internetauftritt, würde sie sich sofort wieder verabschieden. Ja, dachte sie, das mache ich. Schließlich bin ich die Kundin, und wenn mir die Ware nicht gefällt, gehe ich wieder. Sie wusste nicht, ob für eine geplatzte Buchung eines Callboys Gebühren fällig wurden, sie wusste nur, dass sie niemals mit einem Mann ins Bett gehen würde, der sie nicht rundherum ansprach. Klar, grinste sie innerlich, du könntest die Augen schließen und ihn einfach machen lassen. Aber natürlich würde sie das nicht tun können. Ich bin eine Spießerin! fauchte sie in Gedanken. Nimm ihn. Es geht nur um Sex.

Sie kämpfte mit dem Impuls, zum Fahrstuhl zurückzurennen und aus dem Hotel zu verschwinden. Ihre Hand hing noch immer in halber Höhe der Tür. Ihr Blick fiel auf den Spion und ihr wurde heiß. Betrachtete er sie gerade in diesem Moment von innen und lachte lautlos über ihr Verhalten? Klopf an! Nein, geh!

Plötzlich vernahm sie ein surrendes Geräusch. Augenblicke später öffneten sich die Türen des Fahrstuhls mit dem gleichen zischenden Laut wie zuvor. Jemand stieg aus und es ertönte ein Quietschen. Eine Sekunde später kam ein Zimmermädchen um die Ecke und schob einen Servicewagen vor sich her. Ihre Blicke trafen sich, und für einen kurzen Moment durchzuckte Marie die Vorstellung, sie könnte sich in Luft auflösen, zu Hause aufwachen und anfangen, das Bad zu putzen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»N … nein, danke. Ich … ich will zu meinem Mann.«

Sie klopfte an, viel zu stark und heftig, dass ihr der Knöchel wehtat. Mit hochrotem Kopf registrierte sie, wie der Servicewagen hinter ihr vorbeigeschoben wurde. Dann wurde ihr klar, dass sie es getan hatte. Endlose Sekunden vergingen, und es tat sich nichts. Sie wandte kurz den Kopf und sah das Zimmermädchen mit grinsendem Gesicht in ihre Richtung schauen. Sie denkt, dass ich die Nutte bin! durchfuhr es sie. Na klar, als Ehefrau hätte ich auch eine Zimmerkarte! Wie blöd muss ich sein, dass …

Die Tür öffnete sich und er stand vor ihr.

»Du bist Marie?«, fragte er, und sein Lächeln entwaffnete sie auf der Stelle. Im Bruchteil einer Sekunde wusste sie, dass sie nicht gehen würde. Das war er also. Der Mann, der sich verkaufte. Unzählige Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Er sah gut aus. Winzige Fältchen in den Augenwinkeln verrieten ihr, dass er irgendwo zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig sein musste. Sie wollte ihn sich von oben bis unten anschauen, aber ihr kam das in diesem ersten Moment unpassend vor, und außerdem ging es nicht. Seine Augen hielten sie fest, schienen sie zu durchdringen und all ihre Gedanken zu erfassen.

»Möchtest du nicht hereinkommen?«

Peinlich berührt ging ihr auf, dass ihre Hand immer noch in der Luft hing und es schien, als würde sie nicht mehr an die Tür, sondern an seine Brust klopfen wollen.

»Ja … doch …«, war alles, was sie hervorbrachte. Als sie eintrat und er die Tür sachte hinter sich schloss, war sie sich sicher, dass das Zimmermädchen vor sich hin lachte und die kleine Episode wohl noch am selben Tag beim gesamten Personal die Runde machen würde. Aber sie schüttelte den Gedanken ab.

»Du bist aufgeregt«, sagte er leise und mit einer Stimme, die ihr durch und durch ging. »Das brauchst du nicht. Wenn du dich nicht wohlfühlst oder du mich aus irgendeinem Grund nicht leiden kannst, dann geh einfach wieder.«

Er hatte hinter ihr gestanden, und jetzt drehte sie sich um und schaute ihm erneut in seine braunen Augen. Er musterte sie neugierig, aber voll respektvoller Distanz.

Er ist ein Callboy! schoss es ihr durch den Kopf. Er spielt dir das nur vor!

»Es ist warm«, war alles, was ihr als Antwort einfiel. Wortlos trat er hinter sie, half ihr aus dem Mantel und hängte ihn an die Garderobe. Die zwei Sekunden, die es dauerte, nutzte sie, um ihn zu betrachten. Er war ein gutes Stück größer als sie, vielleicht einen Meter fünfundachtzig. Seine Haare trug er länger als die meisten Männer, aber das wirkte weder affig noch unpassend. Kleine, offensichtlich schwer zu bändigende Wirbel ließen ihn jünger erscheinen als er war. Seine schlanke Figur war weder schlaksig noch zu muskulös, aber dennoch erkannte sie in seinen Bewegungen Kraft und Energie. Er bewegte sich so selbstsicher, wie sie es nie gekonnt hätte. Ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest, als ihr aufging, dass sie es sich hatte gefallen lassen, dass er ihr den Mantel auszog.

Aber deswegen bist du hier, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Angespannt beobachtete sie, wie er das Bitte-nicht-stören-Schild von einem der Garderobenhaken nahm, die Zimmertür öffnete und es außen an den Türknauf hängte.

»Ich kenne die Putzfrauen«, lächelte er. »Kaum jemand sonst kann gleichzeitig anklopfen und reinkommen. Ich glaube, es ist besser, wenn uns niemand stört.«

Jetzt bin ich ihm ausgeliefert, dachte sie beklommen. Er kann mich fesseln und vergewaltigen, und wenn er dieses Zimmer unter falschem Namen gemietet hat, wird niemand je herausfinden, wer mich ermordet hat …

Es schien, als würde er ihre Gedanken erraten. Er kam zu ihr, ergriff ihre Hand, was in ihr einen zugleich angstvollen wie erregenden Schauer auslöste, und führte sie zu der kleinen, nicht unbedingt gemütlichen Sitzecke. Als er ihre Hand losließ, fühlte sie ein leises Bedauern.

Ich kenne ihn erst zwei Minuten, dachte sie. Das kann nicht sein.

Er nahm Platz, und seine Augen schienen in ihr zu lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. »Setz dich doch. Ich weiß, dass du unsicher bist. Und ich bin es auch.«

»Du bist … unsicher …? Das glaube ich nicht.« Sie musste sich zwingen, den Blick von ihm zu wenden. Als sie nach der Sessellehne tastete und sich unbeholfen setzte, rasten ihre Gedanken. Sie wusste nicht, was man in einem solchen Moment sagen, wie sie sich verhalten oder wer womit beginnen sollte. Sie kam sich vor wie ein fünfzehnjähriger Teenager bei seinem ersten Date. Und als ihr dieser Gedanke kam, beschloss sie, dass es aufregend war. Denn das war es.

Sie betrachtete seine Hände. Für einen Mann waren sie überraschend feingliedrig. Er trug weder einen Ehering noch sonst irgendeinen Schmuck. Sie hoffte, dass er kein Tattoo hatte, denn so etwas mochte sie nicht. Nun, dachte sie, wenn er sich auszieht, werde ich es sehen.

»Ja, ich bin unsicher«, meinte er.

»Warum?«, rutschte es ihr heraus.

»Stell dir vor, du erwartest einen Mann, den du noch nie zuvor gesehen hast. Der für dich bezahlt und der dir sehr nahe kommen wird. Und dann geht die Tür auf, und vor dir steht ein Hängebauchschwein mit dreckigen Fingernägeln und Doppelkinn.«

Sie konnte nicht anders, sie musste laut lachen.

»Siehst du«, meinte er und lehnte sich zurück.

»Ja, schon … aber ich habe keine dreckigen Fingernägel und auch kein Doppelkinn.«

»Wahrlich nicht.« Seine Augen blitzten. »Nein, du bist eine schöne Frau. Aber das konnte ich nicht ahnen.«

Er macht dir Komplimente, weil er Geld dafür bekommt, dachte sie. Aber jetzt, in diesem Moment in diesem Hotelzimmer, war ihr das vollkommen egal. Sie würde alles glauben, was ihr dieser Mann in den kommenden zwei Stunden sagte. Auch wenn es bezahlte Komplimente waren.

 

»Ich bin keine schöne Frau«, sagte sie, ehe sie es zurückhalten konnte.

»Es gibt hübsche Frauen, die mit oberflächlichem künstlichem Getue und getunten Körper meinen, schön zu sein. Aber Schönheit geht viel weiter. Sie ist geprägt von Blicken, Gesten, Bewegungen, der Ausstrahlung und dem Herzen einer Frau.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Er ist ein Callboy, dachte sie. Warum zum Teufel kann er sich so ausdrücken?

»Du hast mich für zwei Stunden gebucht.«

»Ja«, antwortete sie und wischte unbewusst ihre feuchten Handflächen an ihrem Kleid ab. Ihr fiel etwas ein. Hastig kramte sie in ihrer Handtasche und fingerte einen Umschlag hervor.

»Nein«, sagte er halblaut.

»Aber ich dachte …«

»Ich möchte, dass du mich an diesem ersten Vormittag nicht bezahlst. Ich werde heute nicht mit dir schlafen.«

Verblüfft starrte sie ihn an. »Ich bin doch die Kundin …«, sagte sie lahm.

Er stand auf und kam zu ihr herüber. Eine Armlänge entfernt stand er vor ihr, und sie erhaschte einen Hauch von Joop. Ihr Puls beschleunigte sich. Was war mit diesem Mann? War er ein wenig verrückt? War er vielleicht sogar gefährlich? Nein, entschied sie sofort, das war er nicht. Obwohl sie ihn erst für Minuten kannte, spürte sie Vertrautheit und Sicherheit. Kurz blitzte das Bild von Jens vor ihrem geistigen Auge auf. Sie musste innerlich lachen. Wann habe ich das letzte Mal bei meinem Mann diese Gefühle gehabt?

»Steck es wieder ein«, sagte er ruhig. »Wenn dir dieser Vormittag etwas gebracht hat, dann bring es das nächste Mal wieder mit.«

Sie tastete nach ihrer Handtasche und verstaute den Umschlag mit seinem Honorar wieder. Als sie aufschaute, streckte er ihr seine Hände hin.

»Bitte gib mir deine Hände und steh auf.«

Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, versuchte, sich vorzustellen, was auf sie zukommen mochte, aber es gelang ihr nicht. Wie hypnotisiert ließ sie sich von ihm hochziehen. Vielleicht dreißig Zentimeter trennten sie nun voneinander, und als ihr bewusst wurde, dass sie seine Hände hielt, dachte sie unwillkürlich an ihre allererste Verabredung mit einem schüchternen Jungen namens Philipp. Er hatte noch nicht einmal versucht, sie zu küssen. Dieser Mann hier würde es tun. Sie wollte, dass er es tat. Verblüfft merkte sie, dass sie sich danach verzehrte, dass er es tat. In ihren Händen stieg Wärme auf, als würde ihr Blut von den Fingerspitzen zum Herzen laufen und nicht umgekehrt. Unsicher schaute sie ihn an.

Anstatt sie an sich zu ziehen, trat er einen Schritt zurück, ließ ihre rechte Hand los und drehte ihre linke so, dass sie in der seinen ruhte. Mit der anderen Hand kam er ganz nahe über ihren Handrücken und verharrte Millimeter über ihrer Haut. Sie wollte dem Drang nachgeben und nach unten schauen, um zu verfolgen, was er vorhatte, aber sie konnte sich nicht von seinem Gesicht lösen. Dann, ohne Vorwarnung, schien Strom durch ihre Hand zu fließen, und sie spürte wie sich die winzigen Härchen auf ihrem Handrücken aufrichteten. Es schien beinahe, als würden sie eine Verbindung zu diesem Mann suchen. Ihr Atem beschleunigte sich.

»Marie«, sagte er lächelnd, »wenn das, was du jetzt fühlst, nicht eingetreten wäre, dann hätten wir unsere Verabredung beenden müssen. Dann wäre es nicht weitergegangen.«

»Warum nicht?«, erwiderte sie ohne nachzudenken. »Du …« Fast hätte sie sich auf die Zunge gebissen, denn was sie hatte sagen wollen, schien ihr in diesem Moment nicht zu passen, obwohl es doch eigentlich auf der Hand lag.

»… nimmst Geld von den Frauen«, ergänzte er augenzwinkernd. »Da hast du recht, aber ich nehme nicht jede Frau.«

»Du suchst dir aus, mit wem du schläfst?«, fragte sie verblüfft.

»Tust du das nicht?«, fragte er zurück. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Natürlich hatte sie sich Jens ausgesucht. Vor fünfzehn Jahren. Aber sie hatte kein Geld genommen, um mit ihm zu schlafen. Plötzlich durchzuckten sie Gedanken an das Reihenhaus, den Zweitwagen, die Reisen und all die Dinge, die sie sich allein niemals hätte leisten können. Das ist etwas vollkommen anderes! Sie schüttelte den Kopf, doch in seinen Augen schienen sich ihre Gedanken zu spiegeln.

Immer noch schwebte seine Hand über der ihren.

»Es gibt Sympathie und es gibt Abneigung«, sagte er ruhig. »Wenn wir auf der Straße an jemandem vorbeigehen und ihn kurz anblicken, spüren wir sofort, ob wir diesen Menschen sympathisch oder abstoßend finden. Es gibt auch neutrales Empfinden, aber das würde nicht dazu führen, dass wir jemanden begehren.«

Das Hotelzimmer mit seinen überall auf der Welt gleichen Möbeln schien größer zu werden, zu verschwimmen, sich aufzulösen in Gedankenstrudeln, die sie durchfuhren.

»Du spürst, wie eine Verbindung zwischen uns entstanden ist?«

Sie nickte stumm.

»Die Anziehungskraft zwischen zwei Menschen wird nicht allein durch ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihre Wirkung, ihre Sprache oder ihre gesellschaftliche Stellung bestimmt.«

Plötzlich senkten sich seine Finger auf ihre Hand und sie zuckte zusammen.

»Da ist noch mehr«, sagte er. »Legt man die Hände zweier Menschen nah beieinander, kann man elektrische Felder messen, die sich entweder abstoßen oder die aufeinander zukommen und verschmelzen wollen.«

»Plus und Minus …« Sie schaute auf seine Hände, und urplötzlich stieg ein Verlangen auf, das sie kaum bewältigen konnte.

»Ganz genau.« Er lächelte. Dann ließ er ihre Hand langsam los, und sie standen sich nah beieinander gegenüber, ohne sich zu berühren. »Ich glaube, es ist eine Aura. Sie geht wahrscheinlich weit über die Nähe hinaus, die du eben gespürt hast. Als ich die Tür aufgemacht habe und wir uns angeschaut haben, wusstest du, dass du nicht wieder gehen würdest.«

Lange standen sie sich gegenüber und sahen sich nur an. Alles hatte sie erwartet, mit allem gerechnet. Dass er eklig sein könnte, dass sie ihr Mut verlassen würde, dass sie es irgendwie machen und hinter sich bringen würde. Vielleicht auch, dass da einer war, der ihr die Illusion von Leidenschaft vermitteln würde. Aber was sie jetzt erlebte, schien nicht real. Das gab es nicht im wirklichen Leben. Doch sie wollte ihn. Mit allen Fasern ihres Körpers begehrte sie ihn. Unfassbar, dachte sie, ich begehre einen Prostituierten! Im selben Augenblick wehrte sie sich gegen dieses Wort. Doch was war er dann?

Seine Worte rissen sie aus ihren Gedanken.

»Ich weiß, dass du heute nicht viel Zeit hast. Du hast mich für zwei Stunden gebucht. Jetzt haben wir vielleicht noch anderthalb davon übrig. Möchtest du dich auf mich einlassen?«

Die Frage kam überraschend. Doch es gab für sie nur eine Antwort.

»Ja.«

»Ich möchte, dass du ins Badezimmer gehst. Geh in dieses langweilige Hotelbadezimmer und unter die Dusche. Ich habe dir ein Duschgel bereitgelegt, das du benutzen kannst. Nimm dir Zeit. Und wenn du fertig bist, ziehst du einen der Bademäntel an und kommst zu mir zurück.«

Ihr ging durch den Kopf, dass sie an diesem Morgen bereits extra lange geduscht hatte, denn wer begab sich schon ungepflegt zu einer Verabredung, die auf Sex hinauslaufen würde. Doch dann sagte sie sich, dass das vermutlich immer so ablaufen würde. Man duschte davor und danach. Andererseits … er wollte doch gar nicht mit ihr schlafen.

»Okay. Dann geh ich mal.«

Sie musste sich beinahe zwingen, um sich von seiner Nähe zu lösen und ins Bad zu gelangen. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Rücken ruhen, als sie die Badezimmertür aufzog und in die nüchterne Umgebung des funktionalen Hotelbades eintauchte. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, erblickte sie eine Frau im Spiegel, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Gerötete Wangen ließen sie wie ein junges Mädchen aussehen, was ihre etwas durcheinandergeratenen Haare noch betonten. Mist! dachte sie, ich habe meine Handtasche vergessen. Sie hatte sich nach dem Duschen noch einmal dezent schminken und etwas Parfum auftragen wollen, aber noch einmal zurück ins Zimmer wollte sie nicht.

Na, dann wollen wir mal …

Sie öffnete den Reißverschluss ihres Kleides und ließ es langsam zu Boden gleiten. Da es ein kühler Oktobertag war, trug sie über ihrem BH noch ein mit winziger Spitze besetztes Unterhemd. Sie zog auch dieses aus und ließ es achtlos fallen. Sekundenlang betrachtete sie sich im Spiegel. Würde er sie gut genug finden, um sie zu begehren? Würde überhaupt noch irgendein Mann sie gut genug finden? Hör auf! dachte sie ärgerlich. Du siehst immer noch ganz gut aus. Unbewusst glitten ihre Finger über ihre Brüste und den Bauch bis über ihre Hüften. Würde ich mit mir schlafen? Ihre Mundwinkel umspielte ein Lächeln bei dem Gedanken.

Auf der Ablage entdeckte sie eine dunkelblaue Tube mit dem Duschgel, das er für sie bereitgelegt hatte. Neugierig nahm sie die Tube in die Hand, drehte den Verschluss auf und roch daran. Der Duft war nicht sonderlich intensiv, aber er gefiel ihr. Sie löste ihren BH und schlüpfte aus dem Slip. Nackt stand sie da, und eine Gänsehaut nach der anderen überzog ihren Körper. Im Spiegel fixierte sie die Badezimmertür hinter sich. Würde er jetzt, in diesem Moment, hereinkommen? Würde er sie wortlos über das Waschbecken legen und sie von hinten nehmen? Was denke ich da? grinste sie. Es war ein verruchter Gedanke, den sie noch niemals zuvor gehabt hatte, aber er gefiel ihr. Während sie an Jens und den Allerweltsex dachte, den sie mit ihm hatte, wickelte sie die Plastikhaube aus der Verpackung und verstaute ihre Haare darunter. Auch die Bürste befand sich in ihrer Handtasche, aber das war nicht zu ändern. Sie würde so zu ihm ins Zimmer gehen wie sie war. Ungeschönt. Und sie glaubte zu wissen, dass er es genauso wollte.

Sie schlüpfte in die Duschkabine und stellte den Strahl so heiß ein, dass sie es gerade noch aushielt. Neugierig öffnete sie die blaue Tube und begann, sich mit dem Gel einzureiben. Sie drückte den Brausekopf etwas herunter, damit das Wasser nicht gleich alles wieder abspülte und ließ das Gel einwirken.

Sie schloss die Augen. Wasserdampf füllte die Duschkabine und bald darauf das ganze Bad. Die Sekunden vergingen, und je länger sie in dieser Dusche stand, desto mehr schien sich in ihrem Innern etwas zu lösen. Flüchtig schossen ihr Gedanken an ihre Kinder, ihren Mann, an ihr routiniertes Leben durch den Kopf. Doch einer nach dem anderen löste sich auf, fiel nach hinten weg. Sie stand da und begann, das Gel auf ihrer Haut zu verteilen. Sie streichelte ihren Bauch, ihre Finger wanderten zu ihren Brüsten, strichen um ihren Hals, ihre Seiten, dann hinunter zu ihrem Po. Ihre Gedanken schweiften zu ihm. Was tat er jetzt? Stand er am Fenster und blickte auf die Straße? Hatte er sich in einen der Sessel gesetzt? Oder hatte er sich ausgezogen, ins Bett gelegt und wartete auf sie? Sie stellte sich vor, dass sie, so wie sie war, triefend nass und voll unglaublicher Anspannung, zu ihm gehen, sich an ihn pressen und ihn in sich spüren würde wie sie noch nie einen Mann in sich gespürt hatte.

Ein Zittern durchlief ihren Körper. Schwindel erfasste sie, und beinahe widerwillig öffnete sie die Augen, um sich an der Duschstange festzuhalten. Dort, wo sie sich eingecremt hatte, kribbelte ihre Haut, als wäre ihr Körper elektrisch geladen. Sie wollte zu diesem Mann. Jetzt.

Sie stellte sich unter den heißen Strahl und wusch das Gel von ihrem Körper. Zum Schluss drehte sie das kalte Wasser auf und hielt die Luft an. Als sie fertig war, angelte sie sich ein Badehandtuch vom Haken und rubbelte sich ab. Der Spiegel war derart beschlagen, dass sie eine Weile wischen musste, um sich darin zu erkennen. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Du bist bereit, lächelte sie und befreite sich von der Duschhaube. Sie schüttelte ihre Haare auf und griff nach ihrem Slip. Dann fiel ihr ein, dass sie einen Bademantel anziehen sollte. Sie nahm sich einen der beiden bereithängenden Frotteemäntel, zog ihn sich über und zog den Gürtel fest.

Sie war bereit. Für alles, was auch immer kommen mochte. Sie fühlte sich als Frau, bewusst und selbstbewusst.

Sie verließ das Bad und machte zwei Schritte in das Zimmer hinein. Er hatte das Zimmer abgedunkelt, die Vorhänge zugezogen, und nur ein Lichtspalt, der mal größer, mal kleiner wurde, weil sich der Vorhang noch immer leicht bewegte, tauchte den Raum in fahlgelbes, sanftes Licht. Sie registrierte, dass die Tagesdecke nicht mehr auf dem Bett, sondern zusammengefaltet über einem der Sessel lag. Die beiden Bettdecken lagen übereinander wie eine Einladung zum Hineinsinken. Mit ihren nackten Füßen stand sie da, und auch, wenn sie wenige Sekunden zuvor noch voller Selbstbewusstsein diesen Moment erwartet hatte, so begann ihr Herz mit einem Mal erneut wie wild zu schlagen.

 

Dann stand er hinter ihr.

Sie wusste es, obwohl sie nicht einen Laut vernommen hatte. Ihr Verlangen, sich umzudrehen, war übermächtig, aber sie tat es nicht. Er berührte sie nicht, aber sein Atem streifte ihren Hals. Sie hielt die Luft an.

»Die Aura«, sagte er leise. »Du spürst sie, obwohl du einen dicken Bademantel trägst. Hast du gewusst, dass es Menschen gibt, die nur Kraft ihrer Gedanken zum Höhepunkt kommen können?«

Sie sah das Bett, die schwere Übergardine, den unpersönlichen Schreibtisch mit dem obligatorischen Notizblock und dem billigen Stift, den Kunstdruck an der Wand und die Sitzecke und wusste, dass sie den Anblick dieses Zimmers nie mehr aus ihrem Kopf würde verbannen können.

»Nein, das wusste ich nicht …« Ihre Antwort kam wie ein Hauch.

»Schließ die Augen. Mach sie erst dann wieder auf, wenn du gehen musst.«

»Ich …«

»Keine Angst, ich werde dir rechtzeitig Bescheid sagen. Aber du musst die Augen geschlossen halten, die Zeit vergessen, jeden Gedanken an das, was außerhalb dieses Zimmers ist, verdrängen. Dein Denken muss aufhören. Nimm das, was geschieht, mit den Sinnen auf, nicht mit dem Geist. Und vertrau mir.«

Sie schloss die Augen und lehnte ihren Kopf leicht zurück. Was hatte er vor? Was würde er jetzt tun? Die Spannung in ihr wurde beinahe unerträglich.

»Zieh deinen Bademantel aus und dann warte einen Moment.«

Sie schluckte. Gleich würde er sie vollkommen nackt sehen. Das ist unfair, dachte sie. Ich habe ihn doch gebucht, nicht er mich. Er müsste sich für mich ausziehen, nicht umgekehrt. Doch dann kamen ihr seine Worte in den Sinn. Das Denken muss aufhören …

Obwohl sie nichts sehen konnte, stand das Bild des Zimmers noch immer vor ihrem geistigen Auge. Und das des Bettes. Langsam entknotete sie den Gürtel. Dann zog sie den Bademantel aus und ließ ihn hinter ihrem Rücken zu Boden fallen. Ein Frösteln überzog ihren Körper. Sie konnte fühlen, wie sich ihre Brustwarzen aufrichteten.

Sekundenlang geschah nichts. Sie vernahm nicht das kleinste Geräusch außer ihrem eigenen Atem und das Pulsieren ihres Herzschlags. Was geht in ihm vor? dachte sie.

»Gib mir deine Hand.«

Sie zuckte zusammen. Behutsam ergriff er ihre Hand und führte sie zum Bettrand. Mit aller Gewalt unterdrückte sie den Impuls, die Augen aufzumachen und ihn anzuschauen.

»Leg dich auf den Rücken, die Arme locker an deinen Körper und deine Beine ein wenig auseinander.«

Ihr wurde heiß. So viele Jahre hatte kein Mann außer Jens sie so gesehen, und nun entblößte sie sich einem vollkommen Fremden auf eine Art, die sie noch vor kurzer Zeit niemals in Betracht gezogen hätte. Aber sie war es, die ihn angeschrieben hatte, und sie war es, die sich in dieses Zimmer begeben hatte. Sie erlebte etwas Unbekanntes, etwas nie Erlebtes, nie Gekanntes. Und sie ließ sich darauf ein. Langsam setzte sie sich auf das Bett, schwang die Beine über die Kante und legte sich auf den Rücken. Sie bettete ihre Arme rechts und links neben ihren Körper, die Handflächen nach unten, als wäre sie am Strand und würde sich sonnen. Sie fühlte sich nackt und ausgeliefert wie noch nie in ihrem Leben. Doch zugleich sendete ihr Körper warme Ströme in jeden Winkel ihrer Haut.

»Öffne deine Beine noch ein wenig mehr.«

Sie fühlte Scham in sich aufsteigen, als sie ihre Beine noch um ein Stück weiter auseinander legte. Dann fühlte sie, wie er sich neben sie setzte, und ihr Herz setzte einen Moment lang aus.

Noch einmal füllte seine leise und warme Stimme den Raum. »Du musst dir über nichts Sorgen machen. Du musst dich weder dafür schämen, dass du neben mir liegst und ich dich ansehen kann, noch darfst du an etwas anderes denken als an das Fühlen deines Körpers. Und wenn du spüren kannst, was an Empfindungen möglich ist, wird deine Seele diese Empfindungen aufnehmen und nie wieder hergeben.«

Sie genoss den Klang seiner Stimme. Sie sah sich auf diesem Hotelbett neben ihm liegen, betrachtet wie von Ferne.

»Zuerst musst du dich vollkommen entspannen. Konzentriere dich dabei auf jeden Teil deines Körpers und entspanne ihn bewusst. Es ist seltsam: Wenn wir im Bett liegen, denken wir, wir sind entspannt – aber das sind wir nicht. Ich werde gleich nichts mehr zu dir sagen. Ich merke es, wenn du entspannt sein wirst. Ich werde dich nicht berühren und nichts mit dir machen. Du kannst dich ganz auf dich konzentrieren. Nimm alle anderen Gedanken und leg sie neben dich auf das Kopfkissen. Beginne mit deinen Zehen und sag ihnen, sie sollen schwer werden. Dann die Füße, die Beine und immer weiter, bis auch dein Kopf zurücksinkt. Wirklich zurücksinkt. Wenn du das erreicht hast, denk an das, was du von mir wolltest, und du wirst es bekommen.«

Sie wartete darauf, dass er noch etwas sagen würde, aber das tat er nicht. Sie holte behutsam Luft. Flüchtig dachte sie daran, wie spät es jetzt wohl sein mochte, aber dann verscheuchte sie den Gedanken und beschloss, die kommenden Minuten einfach nur in sich aufzunehmen. Um ihren Muskeln auch die letzte Spannung zu nehmen, begann sie, sich ihren Körper vorzustellen. Vor ihrem inneren Auge betrachtete sie die Zehen und Füße, stellte die Verbindung zum Bett her, auf dem sie ruhten, und als sie so weit war, fühlte sie den Kontakt zwischen dem Laken und ihren Fersen. Ganz bewusst befahl sie ihren Füßen, schwer zu werden und in das Laken einzusinken. Dann konzentrierte sie sich auf die Beine, und mit einem Lächeln fühlte sie, wie auch sie schwer wurden und regelrecht nachgaben. Wie kann man schwerer werden, wenn man doch schon liegt? fragte sie sich. Doch der Gedanke lenkte sie ab, und sie musste noch einmal von vorn beginnen.

Langsam und beständig entspannte sie sich. Ihr Körper wurde schwer und leicht zugleich und eine nie gekannte Ruhe kehrte in ihr ein. Sie legte all die Aufgaben, den Lebensfrust, die Verpflichtungen, ihre Sorgen, ihre Kinder und Jens neben sich aufs Kopfkissen und entfernte sich von ihnen. Sie befreite sich von allem.

Minute um Minute verging. Kleine Punkte und Schlieren vor ihren Augenlidern spielten mit ihrem Geist, aber sie ließ sich nicht ablenken. Sie war frei von allem. Sie wurde sich dessen bewusst, dass sie eine Frau war und dass sie jede Faser ihres Körpers neu entdeckte.

Und dann begann sie, ihn zu spüren.

Eine fast unmerkliche Verlagerung seines Gewichts auf dem Bett zeigte ihr, dass er sich bewegte. Es war ihr unmöglich, sich weiterhin abzuschotten. Ihre Gedanken fokussierten sich klar und deutlich auf ihn. Sie stellte sich vor, wie er neben ihr saß, sie mit Blicken begehrte, sich über sie beugte und küsste. Doch nichts davon trat ein. Aber sie spürte ihn, spürte die leise, nahezu unmerkliche Veränderung der Temperatur an den Innenseiten ihrer Unterschenkel. Irgendetwas befand sich zwischen ihren Beinen und strahlte Wärme ab. Was macht er? fragte sie sich. Und dann sah sie es, ohne die Augen aufzumachen. Es ist seine Hand!

Lange Sekunden vergingen, in denen die Wärme stetig zuzunehmen schien. Ihre Beine drängten zu seiner Hand, aber sie blieben in süßer Schwere liegen. Mit einem Mal veränderte sich das Gefühl. Die Haut ihrer Oberschenkel zog sich unmerklich zusammen, als seine Hand nach oben zu wandern schien und die Innenseiten ihrer Beine seine Bewegung nachverfolgten. Tausend winzige Impulse erzeugten eine Gänsehaut. Die sexuelle Spannung, die sie erfüllte, als er sich ihrem Schambereich näherte, war unglaublich intensiv. Sie spürte wie sie sich einen Hauch öffnete, und ohne dass sie es verhindern konnte, entfuhr ihr ein Seufzer. Doch er hielt nicht inne, sondern wanderte hinauf zu ihrem Bauch. Sie atmete jetzt schwerer, und winzige Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Haut. Das Gefühl, das sie übermannte, war so einmalig, dass es sich einbrannte in ihre Sinne. Ihr Bauch wurde warm, doch die Wärme blieb nicht nur an dieser Stelle, sondern schien an den Seiten hinabzufließen bis zu ihrem Rücken. Doch sie kroch noch weiter hinauf, entfachte erst ihre eine und dann ihre andere Brust. Der Hof um die Brustwarzen zog sich zusammen, und in einem noch nie gekannten Gefühl schoss ein heißer Strahl die Nervenbahnen von ihnen herab bis in ihren Schoß.