Sand im Dekolleté

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Kapitel 2

Montag, 21. September 2020, 6:52 Uhr

Insel Langeoog

„Ist das nicht ein herrlicher Morgen?“, fragte Onno Federsen seine bessere Hälfte Tine und blinzelte in die tief stehende Sonne.

„Ja, mal sehen, wie lange noch. Der Herbst steht ja quasi schon vor der Türe. Ich denke mal nicht, dass wir in diesem Jahr noch oft draußen frühstücken können“, säuselte Tine, blickte kurz zum Himmel und nippte dann an ihrem Kaffee.

Kaffee war noch nie so wirklich Onnos Ding gewesen. Doch jedem, wie es ihm gefiel. Wenn sie beide morgens, wie heute, auf der Terrasse hinter dem Haus beim Frühstück saßen, genoss er, während Tine ihrem Kaffee frönte, seinen Ostfriesentee. Natürlich, wie es sich gehörte, mit Sahne und Kluntjes, die gar nicht dick genug sein konnten. Dazu ein Croissant mit dick Butter und Schokocreme drauf. Das war zwar nicht typisch ostfriesisch aber dennoch sehr lecker und ein absolutes Muss für ihn.

„Liegt heute irgendwas Besonderes an?“, erkundigte er sich bei Tine und betrachtete die Kondensstreifen der Flugzeuge an dem ansonsten makellos blauen Himmel.

„Ja, heute ist Grill- und Spieleabend bei Annemarie und Martin“, wusste sie. Onno nickte versonnen. Wenn Tine es sagte, würde es wohl so sein. Er selbst besaß überhaupt keinen Terminkalender. So viele Termine hatte man als Inselpolizist auch gar nicht. Dienstlich kam es eben immer, wie es gerade kam. Wenn etwas passierte, musste man eben hin. Wenn nichts passierte … dann musste man eben nirgends hin. Verbrechen, Unfälle und was sonst noch in Onnos Zuständigkeit fiel, kündigte sich im Vorfeld selten an. Viel passierte hier auch gar nicht. Das Leben als Inselpolizist auf einer autofreien Insel würde Onno daher als eher ruhig bezeichnen. Um die Organisation und Einhaltung von privaten Terminen kümmerte sich Tine. Einen Kalender brauchte sie dafür ebenfalls nicht. Nein, seine bessere Hälfte hatte all diese Dinge in ihrem hübschen Köpfchen gespeichert.

„Annemarie hat für heute auch diesen Kriminalkommissar aus dem Westerwald und dessen Gattin eingeladen“, wusste Tine ebenfalls.

„Aha“, antwortete Onno lediglich. Was sollte er auch sonst dazu sagen? Er kannte diese Leute bisher nur vom Hörensagen. Martin, Annemarie, Lotta und Krischan hatten die beiden an Karneval bei einem Besuch im Westerwald kennengelernt. Annemarie und auch seine Kollegin Lotta Dönges schwärmten seitdem ständig vom Kölner Rosenmontagszug, den sie mit den Westerwäldern besucht hatten. Wenn es nach Tine ging, würde diese beim nächsten Mal glatt mit den Freunden dorthin reisen, um mitzufeiern. Onno hatte da keine Lust zu. Er glaubte nicht, dass Karneval sein Ding war. All die betrunkenen, feiernden Menschen. Nein, da blieb er doch lieber auf seiner Insel.

Das Läuten seines Diensthandys ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Er nahm das Gerät und schaute auf das Display. Es kam wahrlich nur selten vor, dass die Leitstelle in Wittmund ihn so früh morgens kontaktierte.

„Polizeihauptmeister Onno Federsen, Dienststelle Langeoog“, meldete er sich korrekt und lauschte dann, was der Kollege ihm zu sagen hatte. Dabei klappte seine Kinnlade immer weiter herunter. Wollten die ihn gerade auf den Arm nehmen?

„Verstanden, ich fahre sofort hin und überprüfe das“, erwiderte er, als der Kollege fertig war und legte dann auf.

„Ist was passiert?“, wollte Tine sogleich wissen.

„Das kannst du aber mal laut sagen, meine Liebe. Angeblich hat ein entblößter Sittenstrolch am Strand eine Frau ermordet. Eine andere hat ihn dabei überrascht und überwältigt“, wiederholte er grob, was man ihm gerade berichtet hatte und erhob sich eiligst. Sein Blick fiel auf die halb volle Tasse Tee auf dem Tisch. Schade drum, gerade jetzt, wo der süßeste Teil an die Reihe kam. Die auf dem Boden der Tasse aufgelösten Kluntjes waren doch das Beste an allem.

Während er sich nun im Flur hastig seine Schuhe anzog, rief er die Kollegin Lotta Dönges an. Es würde bei einem solchen Einsatz nicht schaden, sie als Verstärkung dabeizuhaben.

*

Lotta war gerade im Begriff das Haus zu verlassen, um zur Dienststelle zu radeln, als der Anruf von Onno sie erreichte. Da sie nicht weit weg vom Strand wohnte, ließ sie das Rad aber dieses Mal kurzerhand im Schuppen stehen und sprintete zu Fuß los. Im Sand käme sie mit dem Rad eh nicht gut voran, da machte es keinen Sinn, es mitzunehmen. Sie würde es später holen.

Angeblich hatte es einen Mord am Strand gegeben und der Täter war sogar noch vor Ort. So etwas hatte sie auch noch nicht erlebt. Ihr war klar, dass sie um einiges früher als Onno an der von der Leitstelle beschriebenen Stelle sein würde. Onno musste ja zuerst noch einmal quer durchs Dorf.

Im Laufen zog sie bereits ihre Pistole aus dem Holster. Bei einem Mörder wusste man ja nie, was im nächsten Moment passieren würde. Sicher war sicher.

Noch bevor sie den Strand erreichte, konnte sie es schon hören. Ein Hund bellte wie irre und eine Frau schrie, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Das Geschrei kam von einem der hintersten Strandkörbe ganz im Osten. Lotta glaubte kaum ihren Augen zu trauen. Hoch oben auf dem Korb hockte eine Frau im rosaroten Trainingsanzug und brüllte wie am Spieß, während eine tobende Lumpi immer im Kreis herum laut kläffend um den Korb flitzte.

„Erschießen Sie die Bestie … Sie müssen sie erschießen!“, brüllte die rosa Frau panisch.

Lotta senkte ihre Pistole und musste nun doch einmal erst einen Moment überlegen und Luft holen.

„Lumpi aus … bei Fuß!“, rief sie dann entschlossen.

Lumpi gehorchte aufs Wort. Nur Sekunden später hockte die Hündin brav neben Lotta im Sand.

„Super …Fein hast du das gemacht“, lobte sie das kluge Tier erst einmal.

„Ich verlange, dass Sie den Köter auf der Stelle abknallen … sofort. Vorher komme ich nicht herunter“, kreischte die rosa Frau auf dem Strandkorb.

„Ähm ja … nee … dann bleiben Sie am besten erst mal da oben … Verstärkung ist unterwegs“, beschied Lotta sie. Was sollte sie auch sonst sagen. Hunde abknallen ging gar nicht, und wenn die nicht runterkommen wollte, war das ihr Problem. Außerdem war sie sich sicher, dass Lumpi ihre guten Gründe gehabt hatte, die rosa Frau zu verbellen.

„Moin erst mal. Mein Name ist Polizeimeisterin Lotta Dönges. Haben Sie den Notruf abgesetzt?“, stellte sie sich jetzt erst einmal vor und damit auch gleich eine erste entscheidende Frage.

„Ja, das war ich. Ich habe diesen nackten Wilden dabei überrascht, wie er sich an einer Frau vergangen hat.“

„Ähm ja … welchen nackten Wilden meinen Sie genau?“, erkundigte sich Lotta, da sie irgendwie gar nicht recht verstand, was die rosa Tante auf dem Strandkorb meinte. Ein Gedanke kam ihr. Vielleicht war die ballaballa oder irgendwo entlaufen? Aber warum war dann Lumpi hier? Die Hündin war doch eigentlich immer da, wo Martin war.

„Da hinten ist es passiert“, rief die Rosafarbene und deutete in die Morgensonne. Lotta hielt sich schützend die Hand über die Augen und sah in die Richtung. Tatsächlich, in knapp fünfzig Meter Entfernung erkannte sie zwei reglose Gestalten im Sand liegen.

„Okay, ich geh mir das mal ansehen, Sie bleiben bitte hier“, wies Lotta an und marschierte dann zu den beiden Körpern. Lumpi lief vor ihr direkt zu der einen Person hin, die Lotta beim Näherkommen eindeutig als Martin identifizierte. Immer wieder stupste die Hündin ihr Herrchen an. Lotta fiel wahrlich ein Stein vom Herzen, als sie registrierte, dass Martin sich plötzlich bewegte.

„Auauaua“, hörte sie ihn stöhnen.

„Mensch, Maddin … was ist denn los? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Lotta musste zugeben, dass sie ihren Lieblingsklempner noch niemals zuvor so derangiert gesehen hatte. Wobei sie ebenfalls gestehen musste, ihn zuvor noch nie nackt erblickt zu haben. Es gab wahrlich Schöneres. Dennoch versuchte sie dies auszublenden und ging neben ihm in die Hocke.

„Lotta, Mädchen. Jod, dat du da bist. Der rosa Elefant hat mich elektritisiert“, stammelte er wirr und deutete auf zwei blauschwarze Flecke auf seiner Brust. Sie hatte so etwas vor Jahren schon mal in ihrer ehemaligen Dienststelle, nach einem Übergriff mit einem Elektroschocker gesehen. Sollte Martin tatsächlich mit so einem Ding attackiert worden sein?

Lotta blickte kurz zu der fremden Frau in dem blaugrünen Dirndl, die sie aus leblosen Augen anstarrte. Das Gesicht war weiß wie Kalk. Da brauchte man kein Medizinstudium, um zu sehen, dass sie tot war. Das alles hier war sehr mysteriös und sie war nun sehr gespannt zu erfahren, was vorgefallen war.

„Martin, jetzt konzentrier dich mal und erzähl mir genau, was hier passiert ist?“, wies sie ihn an. Martin nickte, machte aber immer noch einen total verpeilten Eindruck. Lotta sah sich noch einmal um. Sie entdeckte in einiger Entfernung ein Handtuch, neben dem fein säuberlich einige Kleidungsstücke zusammengelegt waren.

„Warte, Martin, ich hol dir erst mal deine Klamotten“, sagte sie und rannte dann los, um die Sachen zu holen. So viel Zeit musste sein. Alles andere war ja auch nicht mit anzusehen. Bei dem Strandkorb mit der rosa Frau erkannte sie nun Onno. Na, Gott sei Dank war der Kollege endlich da.

Nachdem sie dem immer noch vollkommen neben sich stehenden Martin seine Kleidung gebracht hatte, leinte sie noch Lumpi an. Sicher war sicher. Nicht dass die Hündin noch einmal auf die rosa Tante losgehen würde.

„Also, Martin, was ist hier passiert?“, musste sie jetzt endlich und unbedingt wissen.

„Also dat war so: Dat Lumpi und ich, mir wollten, wie jeden Morgen, baden gehen tun. Dann haben mir dat Frau Erna da liegen gesehen … also dat Lumpi hat die zuerst gesehen und mir Bescheid gesagt. Ich bin dann zu der hin … zuerst hab ich ja gedacht, die tut schlafen. Dat die tot is, hab ich erst gesehen, als ich die mit dem Fuß angedeut und dann umgedreht han. Nä, Lotta, dat muss man sich mal vorstellen tun. An ihrem Geburtstag hat die arme Frau einer erwürgt“, schilderte er sehr theatralisch, was passiert war, während er sich anzog. Lotta dachte angestrengt nach und blickte anstatt zu Martin lieber hinaus auf die Nordsee. Sie hatte schon viel zu viel gesehen. Der Anblick von Martins nacktem Astralkörper würde sie vermutlich noch lange in ihren Albträumen verfolgen.

 

„Du kanntest die Frau?“, hakte sie jetzt erst einmal nach.

„Ja, natürlich. Die is doch eine von den Rumkugeln aus dem Westerwald. Mit denen waren mir, dat Frau Annemarie und ich, doch gestern abends noch aus“, berichtete er. Lotta hörte, wie die Verschlüsse der Latzhose zuklickten und drehte sich nun wieder zu ihm um. Bis auf die nackten Füße war Martin nun schon fast wieder der Alte. Wobei … nein. Irgendwie wirkte der heute stark mitgenommen.

„Und was hat jetzt die komische Tante in dem rosa Strampelanzug mit all dem zu tun?“, musste sie nun wissen. Martins Aussage, die habe ihn elektrisiert, kam ihr schon merkwürdig vor. Natürlich hatte sie schon gehört, dass manche Frauen auf Männer eine elektrisierende Wirkung hätten. Aber das konnte sie sich in diesem Fall überhaupt nicht vorstellen. Dazu diese komischen Male auf der Brust des Kölners.

„Der rosa Elefant? Dat kann ich dir sagen tun. Ich war gerade dabei, bei der Frau Erna … ähm ja … wie sät man … also, ich hatte bei der dat Herz getastet, ob dat noch geht. Plötzlich brüllt mich die bekloppte Alte an, ich soll aufhören. Ich glaub, die hat echt gedacht, ich hätte die Frau Erna erwürgt. Bevor ich mich vertu, hat die dann plötzlich so ein Elektrodingens in der Hand und gibt mir damit einen Stromschlag“, ereiferte Martin sich so dermaßen, dass Lumpi wieder zu bellen begann.

„Du meinst, die hatte ein Taser?“, glaubte Lotta nun zu verstehen.

Martin blickte sie verständnislos an.

„Wat für ein Teedings … Nein … ich meine so einen Elektroschocker. So, wie die den immer in den Krimis zeigen. Die brutzeln doch immer vorne so, wenn man da draufdrücken tut“, erklärte er, lief dann suchend um sie herum und bückte sich schließlich nach einem Gegenstand im Sand.

„Na, wer sagt dat dann … da is er ja. Den hat die olle Schrulle wohl verloren, als dat Lumpi mir geholfen hat. Die hätte mich ja sonst bestimmt auch noch umgebracht“, meinte Martin, hielt ihr das Teil hin und tätschelte dann den Hund.

Es war, wie Lotta bereits vermutet hatte, ein sogenannter Taser. Sie nahm das Teil und betrachtete es. Einige dieser Schocker durfte man in Deutschland tatsächlich führen. Erkennen konnte man das an einem Prüfzeichen. Das Gerät, das sie gerade in Händen hielt, besaß dieses Zeichen nicht. Außerdem würde ein zugelassenes Gerät bestimmt nicht so schwere Male hervorrufen, wie Martin sie auf der Brust hatte. Da war sie jetzt doch mal gespannt, was die rosa Tante dazu zu sagen hatte.

*

Onno war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass Helmine Heckholz, die Frau in Rosa, nicht mehr alle Latten am Zaun hatte. Was die für ein Gezeter machte wegen ihrer zerfetzten Turnhose und den vier kleinen Löchlein in ihrer Wade – es war kaum auszuhalten. Mittlerweile bereute er sogar, ihr von dem Strandkorb heruntergeholfen zu haben.

„Gute Frau, jetzt beruhigen Sie sich erst einmal“, versuchte er einen weiteren Vorstoß.

„Nein, ich möchte mich nicht beruhigen. Ich möchte, dass dieser tätliche Angriff Konsequenzen hat und das Tier eingeschläfert wird“, blaffte sie zurück.

Noch bevor Onno etwas erwidern konnte, trat Lotta zu ihnen.

„Gehört dieses Gerät Ihnen?“, fragte die Kollegin die Furie.

„Ja, das ist meiner. Den hat mir mein Mann geschenkt. Den habe ich immer dabei, wenn ich alleine unterwegs bin. Als Frau ist man ja in diesem Land seines Lebens nicht mehr sicher“, antwortete sie schnippisch.

„Und damit haben Sie Herrn von Schlechtinger einen Stromschlag versetzt, sodass dieser gestürzt ist und das Bewusstsein verloren hat?“, forschte Lotta weiter und Onno begriff nun endlich, was vorgefallen war. Er hatte sich schon gewundert, dass Lumpi, dieses brave Tier, einfach so einen Menschen angefallen haben sollte.

„Wenn Sie dieses nackte Ungeheuer meinen …ja, den habe ich unschädlich gemacht“, war die rosa Frau nun tatsächlich auch noch stolz auf ihre Tat.

Onno mochte Lumpi, dass die Hündin die Touristin gebissen und ihr damit die Hose ruiniert hatte, konnte er nun sehr gut nachvollziehen. Wäre er ein Hund, hätte er das Gleiche getan. Immerhin hätte diese dumme Person seinen eh schon herzschwachen Freund Martin mit dem Ding umbringen können. Solche Fälle hatte es schon gegeben. Diese Elektroschocker waren lebensgefährlich.

„Sie möchten also Konsequenzen? Die können Sie haben. Ich verhafte Sie hiermit wegen des dringenden Tatverdachts der schweren Körperverletzung und des versuchten Mordes an Herrn von Schlechtinger. Dass der benutzte Elektroschocker Ihnen gehört, und dass Sie ihn gegen Herrn von Schlechtinger eingesetzt haben, haben Sie bereits zugegeben. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass alles, was Sie ab nun sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden kann“, klärte Lotta sie nun auf.

Frau Heckholz starrte die Kollegin mit offenem Mund an.

„Aber, ich habe mich doch nur verteidigt. Dieser Nackte wollte mich umbringen.“

„Nein, das wollte er nicht. Herr von Schlechtinger hat lediglich versucht, bei dem mittlerweile verstorbenen Opfer Erste Hilfe zu leisten, als Sie ihn attackiert haben“, schimpfte Lotta, legte der total perplexen rosa Dame Handschellen an und kettete sie damit an den Griff des Strandkorbes.

„Hast du schon den Arzt und die Kripo verständigt?“, erkundigte sich Lotta nun bei ihm und zog ihn ein Stück abseits. Onno war beeindruckt, wie sachlich und professionell die kleine Kollegin vorging, während die dingfest gemachte Frau Heckholz Gift und Galle spie.

„Nein, ich hatte ja noch kein Bild von der Lage“, gab er zu und setzte sich in Bewegung, um dies nachzuholen. Auf dem Weg zu der toten Frau klärte Lotta ihn über das Wenige, was sie wusste, auf. Während Onno dann die Kripo verständigte, rief Lotta bei Doktor Jan Martin Bechersheim an. Ein Arzt konnte wahrlich nicht schaden. Sowohl bei den Überlebenden als auch bei der Toten. Wobei er bei der Verstorbenen außer einen Totenschein auszustellen nichts mehr machen könnte. Aber auch das war wichtig.

„Und was machen wir jetzt mit Frau Heckholz?“, erkundigte er sich anschließend bei der Kollegin.

Lotta zuckte mit den Schultern.

„Um die kümmern wir uns später … wenn sie sich beruhigt hat.“

„Und wat is mit mir und dem Lumpi“, mischte Martin sich ein. Onno fand, dass der Freund irgendwie arg angeschlagen schien.

„Du setzt dich jetzt mal besser da vorne hin und wartest, bis der Doktor dich untersucht hat. So lass ich dich nicht gehen, mein Lieber. Mit Stromschlägen ist nicht zu spaßen“, belehrte er den Freund.

Zu seiner Verwunderung nickte Martin und schlurfte durch den Sand in Richtung des Holzbohlenwegs, wo er sich hinsetzte und seine Pfeife aus der Latzhose kramte. Heieiei … den guten Martin hatte es tatsächlich heftig aus der Bahn geworfen. Doch zum Glück lebte er noch. So manch einem hatten diese Teufelsdinger auch schon das Leben gekostet.

*

Annemarie Hansen saß frisch geduscht am Frühstücks­tisch und blickte auf die Wanduhr über der Küchentüre. Wo Martin bloß blieb? Normalerweise ging sie jeden Morgen zum Joggen an den Strand. Heute war allerdings nicht normal. Nein, sie musste zugeben, dass sie es letzte Nacht mit dem Alkohol doch ein wenig übertrieben hatte. Eigentlich trank sie nur selten und dann auch nur ein oder zwei Gläschen. Doch gestern am Abend hatte sie sich von den Besuchern aus dem Westerwald irgendwie mitreißen lassen. Diese Leute waren aber auch so etwas von gesellig und trinkfest – das kannte sie so in dieser Form gar nicht.

Heute Morgen, als der Wecker ging, war sie wie immer mit Martin aufgestanden und in ihren Sportdress geschlüpft, hatte die Laufrunde aber dann doch sehr verkürzt, da ihr einfach die Kraft und der Wille gefehlt hatten. Anstatt am Strand durch den Sand, war sie heute nur über die Straße bis zum Inselflugplatz und wieder zurück gelaufen. Besser als nichts.

Sie erhob sich, ging zur Terrassentür und sah zum Schuppen, neben dem Martin sein Rad für gewöhnlich abstellte. Es war nicht da. Annemarie konnte es nicht gut vertragen, wenn sie nicht wusste, wo Martin steckte. Es lag nicht daran, dass sie ihm nicht traute oder dachte, er könne sie betrügen. Nein, das war es nicht. Martin war auch so gar nicht der Typ Mann für Weibergeschichten. Er war rundum eine treue Seele. Nein, was sie beinahe um den Verstand brachte, war die Panik, ihn zu verlieren. Dass ihm irgendetwas zustoßen könnte. Sie wusste, wie gerne er morgens in der Nordsee baden ging. Dennoch war ihr nie wohl dabei. Sie hatte schon einmal einen Mann an die See verloren. Heiner Hansen, ihr erster Mann, war vor beinahe zwanzig Jahren vor ihren Augen bei einem Sturm von seinem Krabbenkutter in die Fluten gestürzt und ertrunken. Auch Martin hatte ihr schon einmal Kummer bereitet und war einfach so mit einem Herzinfarkt umgefallen. Zum Glück nicht ins Wasser, sondern beim Bier holen vor dem Getränkemarkt. Aber egal. Auf alle Fälle war es daher nicht verwunderlich, dass Annemarie Angst um ihn hatte. Sie trat in den Garten und sog die frische Brise ein, die der Wind von der See herantrieb. Sie vernahm mit einem Mal ein Geräusch, das sie gut kannte, das aber so gar nicht zu einem schönen Morgen passen wollte. Das Brummen eines Helikopters. Sie suchte den Horizont ab. Der Hubschrauber überflog die Insel vom Festland her kommend, drehte eine Runde über dem Strand und setzte dann zur Landung an. Annemarie erkannte, dass es der blau-weiße Hubschrauber der Polizei war. Aber was tat die Polizei vom Festland hier auf der Insel? Hastig rannte sie zurück ins Haus, überlegte kurz und entschied sich dann, bei Lotta anzurufen. Dummerweise ging sie nicht ran. Es bei Martin direkt zu versuchen, war sinnlos, da sein Gerät, wie zumeist morgens, auf dem Küchentisch lag. Als Nächstes versuchte sie es bei Onno.

„Polizeihauptmeister Onno Federsen, Polizeidienststelle Langeoog“, meldete der sich wie immer äußerst korrekt.

„Hallo, Onno, hier ist Annemarie … sag mal, hast du Martin gesehen?“, kam sie sofort zur Sache.

„Du, Annemarie … ja, hab ich … aber das ist jetzt ganz schlecht. Die Kollegen von der Kripo landen gerade mit dem Heli“, versuchte er sie sofort abzuwimmeln.

„Die Kripo ist da? Ist was mit Martin?“, erschrak sie.

„Nein, nein, Annemarie, mit Martin ist alles in Ordnung. Doktor Bechersheim kümmert sich um ihn. Du … ich muss jetzt aber Schluss machen“, erklärte er und legte dann einfach auf.

Annemarie starrte auf das Telefon. Sie zitterte. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Martin wurde medizinisch versorgt? Hastig rannte sie in den Flur, schlüpfte in ihre Sneakers und saß nur Sekunden später auf ihrem Fahrrad, um an den Strand zu radeln. Sie konnte doch jetzt nicht einfach ins Büro fahren, um zu arbeiten. Die Ferienhausvermietung würde eben heute einmal ohne ihre Chefin auskommen müssen. Zum Glück hatte ihre Angestellte, Gina Marie, einen Schlüssel und konnte den Laden mittlerweile auch mal ganz gut ohne sie schmeißen.

*

Ein Tohuwabohu war das heute Morgen hier am Strand. Martin saß auf dem Holzbohlenpfad am Übergang zur „Düne 13“ und betrachtete das Schauspiel.

„Hui, dat is aber kalt, dein Dingens da“, fand er, als sein Schwiegersohn Doktor Jan Martin Bechersheim ihm das metallene Stethoskop auf die Brust drückte.

„Ja, ja … das sagt einer, der im September noch morgens in der Nordsee badet“, meinte dieser nur und lächelte. Martin atmete mehrmals tief ein und aus, wie er das schon als Kind von seinem Hausarzt gelernt hatte.

„Mensch, Schwiegerpapa, nicht atmen … wie soll ich denn so dein Herz hören?“, schimpfte der jetzt.

„Wenn ich nit atmen tu, dann sterb ich aber“, versuchte Martin jetzt erst einmal einen Scherz, hielt aber dann doch die Luft an.

„Hm … hört sich alles ganz normal an. Trotzdem wäre es mir lieber, wir würden noch ein EKG machen“, fand der Arzt.

„Papperlapapp, meiner Pumpe fehlt nix. Gib mir lieber wat gegen die Koppweh“, wies er den Jungen an.

„Hm … die Kopfschmerzen könnten natürlich auch eine Folge des Stromschlages sein“, überlegte Jan Martin.

„Nä, die kommen vom Schnaps und dem falschen Bier gestern Abend, dat letzte war wohl schlecht. Hier gibt et ja kein ordentliches Kölsch in den Kneipen“, musste er jetzt wieder einmal feststellen. Der Verzicht auf gezapftes Kölsch war das einzige Manko an einem Leben hier im Norden. An dieses etwas obergärige norddeutsche Bier würde Martin sich niemals gewöhnen können.

 

Der Arzt lächelte, kramte in seinem Koffer und reichte Martin dann einen Streifen mit Tabletten.

„Bitte schön, aber nicht alle auf einmal nehmen“, empfahl er, schloss seinen Koffer und klopfte Martin auf die Schulter.

„Kann ich jetzt nach Heim? Dat Frau Annemarie wartet bestimmt schon auf mich“, wollte Martin noch wissen.

„Klar, von mir aus kannst du jetzt gehen“, entließ ihn der Arzt und schlurfte dann durch den Sand in Richtung der rosa Frau, die, immer noch angekettet an einen Strandkorb, schimpfte wie ein Rohrspatz. Ausdauer hatte sie, das musste man ihr ja lassen.

*

Annemarie war wirklich sehr erleichtert, als Martin ihr auf Höhe des Restaurants Seekrug entgegenkam. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Er schien in Gedanken versunken, während er sein Fahrrad schob. Lumpi war heute – anders als sonst – wie es sich gehörte angeleint und lief schwanzwedelnd neben ihm her.

„Ja, Gott sei Dank, da bist du ja“, musste sie erst einmal loswerden, als sie mit einer Vollbremsung nur Zentimeter vor ihm zum Stehen kam.

„Ach, Annemarie … grad wollte ich nach Heim kommen“, erwiderte er und schien über ihr Aufkreuzen doch sehr erstaunt oder gar erschrocken.

„Sag mal … was ist denn los mit dir? Onno hat gesagt, Jan würde nach dir sehen … ist wieder was mit deinem Herz?“, wollte sie jetzt unbedingt zuerst einmal wissen.

„Nä, Annemariechen … mir is gut. Alles bestens. Der Jan Maddin wollte nur auf Nummer sicher gehen wegen dem Stromschlag. Dat hät aber auch gezubelt … mein lieber Scholi … Uiuiui … da wurd mir aber ganz anders. Aber Unkraut vergeht ja nit“, winkte er ab.

„Wie … Stromschlag. Was ist denn passiert? Und was macht die Kripo auf der Insel“, verstand sie nun gar nichts mehr.

„Die Kripo ist wegen der Frau Erna da. Die ist nämlich tot. Ich hab die gefunden und der rosa Elefant hat mich dann su doll elektritisiert, dat ich aus den Latschen gekippt bin. Aber dat Lumpi hat mich beschützt und den rosa Elefant bis auf den Strandkorb gejagt“, faselte er sehr offensichtlich wirres Zeug.

„Martin … sag mal … hast du was getrunken?“, wollte sie wissen, obwohl sie schon vermutete, dass ihr Liebster bestimmt noch einiges an Restalkohol im Blut hatte.

Martin lehnte sein Fahrrad an das Geländer, trat zu ihr und nahm sie in den Arm.

„Nä, Annemariechen, ich bin wieder stocknüchtern. Aber wat hältst du davon, wenn mir jetzt nach Hause fahrn tun und ich dir dat Ganze beim Frühstück in Ruh erzählen tu“, schlug er vor.

Annemarie nickte. Die Idee an sich war gut. Sie wusste nur nicht, ob sie es bis nach Hause aushalten könnte, ohne gleich vor Neugierde zu platzen. Außerdem war sie sich, nach dem Wenigen, was er bisher gesagt hatte, nicht sicher, ob Martin nicht doch noch ärztlichen Beistand benötigte. Hieß es nicht auch, dass, wenn Menschen rosa Elefanten sahen, es um deren Geisteszustand kritisch stand?

„Martin … siehst du jetzt gerade immer noch einen rosa Elefanten?“, fragte sie vorsichtig.

Martin blickte sich um.

„Nä. Die Olle ist vermutlich noch am Strand und wird von Jan Maddin versorgt. Der Lumpi hätt wohl ein bisschen fest zugebissen … wat aber auch nix schaden tut. Die hatte dat ja verdient“, antwortete er nicht gerade beruhigend für sie.