Bildung und Glück

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Unter diesen Bedingungen setzt auch Kant auf eine Bildung der Gefühle, wenn er fordert, Kindern richtige Gründe aufzustellen und sie begreifbar und annehmbar zu machen. Die Bildung der angemessenen Triebfedern zu moralischem Verhalten besteht in einer gezielten, argumentativen Verfeinerung basaler Affekte: Kinder „müssen lernen, die Verabscheuung des Ekels und der Ungereimtheit an die Stelle der des Hasses zu setzen; innern Abscheu, statt des äußern vor Menschen und der göttlichen Strafen, Selbstschätzung und innere Würde, statt der Meinung der Menschen, – innern Wert der Handlung und des Tun, statt der Worte, und Gemütsbewegung, – Verstand, statt des Gefühls, – und Fröhlichkeit und Frömmigkeit bei guter Laune, statt der grämischen, schüchternen und finstern Andacht eintreten zu lassen.“72

Die auf Kant folgende Moralphilosophie traute dieser Sublimationspädagogik bzw. der in ihr enthaltenen Zivilisationstheorie nicht und war bemüht, die Triebfedern der Moral in genau jenen „Gefühlen“ zu finden, die nach Kants Begriff der Moral mit ihr nichts zu tun haben konnten. An dieser Stelle setzen dann eine Reihe quasi naturalistischer Versuche ein, die entweder – wie der Kantianer Schopenhauer – eine natürliche Anlage zum Mitleid, oder – wie die unterschiedlichen Utilitarismen – einen Hang zur Luststeigerung postulieren, von psychischen Instanzen, die plausibilisieren sollen, warum Menschen nicht nur moralisch handeln sollen, sondern auch können.

Auf den ersten Blick erscheint uneinsichtig, warum ausgerechnet eine Theorie der Tugenden das mit Kants deontologischer Zweiweltenlehre gestellte Problem besser lösen können soll als teleologische Lehren wie Utilitarismus oder Mitleidsethik. In einem nämlich sind sich deontologische und teleologische Lehren einig: daß es bei einer Theorie der Moral um eine Theorie des Handelns aus allgemeingültigen, normativen Prinzipien geht, während doch eine Theorie der Tugenden sich vor allem für persönliche Haltungen und partikulare Lebensentwürfe zu interessieren scheint. Handlungen und ihre Kriterien hier, Haltungen und ihre Ziele dort – scheidet die Theorie der Tugend mit dieser Grundentscheidung nicht von Anfang an als eine Kandidatin zur Begründung einer Moral aus? Im Gegenteil: Eine Theorie der Tugenden kann zur Begründung einer Moral und Schließung jener Lücke, die Kant hinterlassen hat, deshalb etwas beitragen, weil sie vor einem von beinahe allen modernen Moraltheorien ängstlich gemiedenen Problem nicht zurückweichen muß, nämlich der Frage, warum Menschen überhaupt moralisch sein sollen. Diese Frage wird sowohl im Utilitarismus als auch in den meisten kantianischen Moralen – mit Ausnahme von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit – entweder agnostisch beantwortet oder unter Sinnlosigkeitsverdacht gestellt.73 So weist etwa der radikale Utilitarismus diese Frage als sinnlos zurück bzw. glaubt, über Moral nur mit solchen Menschen debattieren zu können, die schon moralisch sein wollen, während die transzendentalpragmatische Diskursethik ein gleichsam naturalistisches Konzept sprachlich vermittelter Sittlichkeit aufbietet, das die philosophische Frage entschärft bzw. mögliche Immoralisten konsequent pathologisiert.74 Dieser Preis für die Lösung einer philosophischen Grundsatzfrage scheint mindestens dann zu hoch, wenn noch nicht alle philosophischen Lösungen ausgeschöpft sind. Zu diesen nicht ausgeschöpften Lösungsversuchen gehört eine Theorie der Tugend, die mit der scheinbar partikularen, existentiellen Frage beginnt, was für ein Mensch ich im Kreise meiner Mitmenschen sein, als wer ich aufgrund welcher Eigenschaften anerkannt und geachtet sein will. Diesen Ausgangspunkt hat Kant ausdrücklich abgelehnt. In einer kritischen Untersuchung zu den unauslotbaren empirischen Motivationen (scheinbar) moralischen Handelns kommt er zu dem Schluß, daß „man doch in keinem Beispiel mit Gewißheit dartun kann, daß der Wille hier ohne andere Triebfeder, bloß durchs Gesetz, bestimmt werde, ob es gleich so scheint; denn es ist immer möglich, daß insgeheim Furcht vor Beschämung, vielleicht auch dunkle Besorgnis anderer Gefahren, Einfluß auf den Willen haben möge.“75

Beschämung, Furcht oder die Erfahrung, mißachtet worden zu sein,76 ist zwar ein Ergebnis moralisch verpönter Verhaltensweisen, darf aber gleichwohl nicht zum Motiv des eigenen, moralischen Handelns werden. Sich an derartigen Gefühlen zu orientieren hieße, sein Handeln an anderen denn vernunftgemäßen Prinzipien auszurichten.

Im Unterschied dazu nimmt die Theorie der Tugend als Preis für die Möglichkeit, die Frage, warum Menschen moralisch sein sollen, beantworten zu können, Abstriche an einem absoluten Autonomieprinzip sowie einer Lehre vom reinen Willen hin. Diese Abstriche dürften um so eher zu akzeptieren sein, als auch die kantianischen Theorien der Moral – namentlich die Transzendental- bzw. Universalpragmatik von Apel und Habermas,77 die sich in dieser Hinsicht einig sind – mit ihrer Wendung zur Intersubjektivität einander anerkennende und sich auch affektiv begegnende Individuen in den Mittelpunkt stellen. Eine auf Intersubjektivität beruhende Theorie der Moral muß darauf verzichten, lediglich das Verhältnis des einsamen Subjekts zu einem ihm wie auch immer zugänglichen Moralprinzip ins Zentrum zu stellen, und wird die im Lauf der Sozialisation gebildete Moralität als Ergebnis von Anerkennungsakten verstehen, die allemal affektiv getönt sind.78

Entgegen dem ersten Eindruck, daß es einer Theorie der Tugend ausschließlich um Haltungen geht, ist weiterhin festzustellen, daß auch sie – gemeinsam mit Kantianismus, Utilitarismus und alltäglicher Moral – davon ausgeht, daß es bei der Moral tatsächlich ums Handeln geht. Haltungen sind Handlungsbereitschaften, Dispositionen, die sich aus moralischen Einsichten, moralischen Gefühlen und motivationaler Stärke zusammensetzen; Dispositionen, bei denen – sofern sie vorliegen – davon ausgegangen werden kann, daß Individuen im Falle entsprechender Herausforderungen auch so handeln werden. Tugenden setzen zwar einen guten Willen voraus, sind mit ihm aber nicht identisch. Tugendhafte Personen haben über einen guten Willen hinaus auch die Kraft, ihn unter gegebenen Umständen sinnvoll zur Geltung zu bringen; von ihnen weiß man, daß sie so handeln werden, wie sie es verkünden und wie es von ihnen erwartet wird. Sie stellen gleichsam personengewordene Garantien für richtiges Handeln dar.

Deshalb betont eine Theorie der Tugenden stärker noch als Utilitarismus und Kantianismus nicht so sehr den Aspekt des richtigen Tuns, sondern des richtigen Tuns. Indem die Theorie der Tugenden mit dem Alltagsverstand darauf beharrt, daß der Kern aller Moral das Tun des Rechten sei, nimmt sie eine Frage auf, die die abendländische Philosophie spätestens seit Platons Staat beschäftigt hat und innerhalb einer Lehre von den Kriterien richtigen Handelns – dem Programm von Kantianismus und Utilitarismus – nicht lösbar war: Warum soll man überhaupt moralisch sein, genauer, warum nicht nur moralisch denken, sondern auch moralisch handeln? Was veranlaßt einen Menschen, sein Selbstverständnis so zu bilden, daß er sich nur dann zu achten vermag, wenn er gemäß der Kriterien von Wohlwollen, Mitleid oder Gerechtigkeit handelt?

Utilitarismus und Kantianismus müssen bei der Beantwortung dieser Frage, der Frage nach der Motivation zur Moral sowie der Begründung von Moralkonzepten, mit spiegelbildlichen Schwächen kämpfen. Kantianische Entwürfe sind zwar in der Lage, universale Rechte und Pflichten, die allen Menschen gebühren, zu begründen, können dafür jedoch das Motivationsproblem nur unzureichend lösen. Den Utilitarismen, die durch ausdrückliche Berücksichtigung von Eigeninteressen bzw. ihre hedonistische Anthropologie das Motivationsproblem immerhin in ihre Begründung aufgenommen haben, gelingt es bekanntermaßen nicht, grundlegende Begriffe wie die des „Rechts“ nachzuvollziehen. Daß das „Recht“ letzten Endes dem Nutzen aufgeopfert werden könnte, ist ein Einwand, den alle Spielarten dieser Theorie, vom Handlungs- bis zum Regelutilitarismus, nicht widerlegen konnten. Vor allem aber, und das hat John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit nachgewiesen, verfehlen die Utilitarismen ihr eigenes, nutzenorientiertes Gerechtigkeitsideal, weil sie die dazu beanspruchte Instanz eines vorurteilsfrei abwägenden unparteiischen Beobachters, der die unterschiedlichen Eigeninteressen gewichtet, nicht konstruieren können. Rawls’ eigene, auf prudentialen Überlegungen zum angemessenen Eigeninteresse beruhende Konstruktion der Gerechtigkeit als Fairneß erweist sich dementsprechend als ein Kantianismus nicht der Form, sondern der Inhalte. Darin folgen ihm die Diskursethiken, die mit guten Gründen auf der Legitimität aller einzubringenden Interessen beharren.

Beide, Utilitarismus und Kantianismus – hier durchaus im Bunde mit dem Alltagsverstand –, stehen darüber hinaus hilflos vor einem Problem, von dem heute noch nicht einmal klar ist, ob und in welchem Ausmaß es in einer Theorie der Moral überhaupt zu berücksichtigen ist: der Frage nach der Legitimität des Eigeninteresses in Handlungskonflikten. Für eine Theorie der Tugend spricht im Sinne einer umfassenden und realistischen Klärung moralischer Orientierungen, daß sie ein meist vergessenes, verdrängtes oder tabuiertes, dafür um so dramatischeres Problem aller Moral offen anspricht: das Verhältnis von Eigen-, Nächsten- und Fernstenliebe. So zeichnen sich Kantianismus und alltägliche Intuition dadurch aus, daß sie unter Moral wesentlich selbstlose Einstellungen verstehen, während die Utilitarismen in dieser Frage zwar freimütiger argumentieren, jedoch das Gewichtungsproblem nicht lösen können: Selbst wenn meine wohlverstandenen Eigeninteressen zu berücksichtigen sind, von welchem Punkt an sind sie dann gegenüber dem Gemeinwohl zurückzustellen? Ist es den Akteuren tatsächlich moralisch zuzumuten, im Zweifelsfall ihre Eigeninteressen gänzlich zu vernachlässigen? Oder wenn diese Eigeninteressen – wie im Utilitarismus – berücksichtigt werden: Sind sie als gleichwertig mit den Eigeninteressen anderer zu gewichten und am Ende dann zu übergehen, wenn sie dem größten Glück der größten Zahl im Wege stehen?

 

Die Theorie der Tugend antwortet auf diese moraltheoretischen Probleme mit einem Rückgang von Kant über Hume zu Aristoteles. Sie konzeptualisiert Moral als Inbegriff der Kriterien und Dispositionen gerechten Handelns als eines wesentlichen Teils – aber eben nur eines Teils – des guten Lebens und weist darauf hin, daß unsere wertenden Haltungen bezüglich der Verteilung und Zumutbarkeit von Rechten, Pflichten und Gütern in vorreflexiven, moralischen Gefühlen wurzeln, die in einem Sachverhalte bewerten und zum Handeln drängen. In einer Theorie des komplexen Naturalismus läßt sich zeigen, daß sowohl Eigen- als auch Nächstenliebe, sowohl das Streben nach kognitiv ausgewiesenen Verteilungsregeln – das wäre Gerechtigkeit – für alle als auch besondere Loyalitäten zu Freunden und Verwandten wesentliche, unaufgebbare und unaustilgbare Dispositionen der Gattung Mensch darstellen. Es gehört zum Lebensvollzug der Angehörigen dieser Gattung, sich je neu und dem Stand gesellschaftlicher Differenzierung entsprechend in unterschiedlichen Sphären auf unterschiedliche Verteilungs- und Zumutbarkeitsregeln einigen zu müssen. Die Motivation dazu darf in einem naturalistischen Programm einfach vorausgesetzt werden. Diese naturalistische Setzung ist denn auch das Hauptmotiv der aktuellen Kritik der neuen Tugendethik.79 Tatsächlich scheint einer Ethik der Tugenden ein nicht zu beseitigendes voluntaristisches Element innezuwohnen. „Wir Europäer von übermorgen“, so projiziert Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse eine antike Lehre in die Zukunft, „wir werden vermutlich, wenn wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unseren heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unseren heißesten Bedürfnissen am besten vertragen lernten.“80

Wenn Moral die Lehre von den universal gültigen Kriterien richtigen Handelns ist, die Theorie der Tugenden jedoch eine Lehre von wesentlichen, in sich wertvollen Charaktereigenschaften ist, wie soll es dann möglich sein, zu einem Begriff der Moral, der Rechte und der Gerechtigkeit zu kommen? Wiederholt sich hier nicht das Problem des Utilitarismus, wonach ob der gewählten Semantik von Interessen die jeder Moral inhärente Forderung nach Überparteilichkeit gar nicht mehr erreicht werden kann? Lassen sich überhaupt methodische Schritte angeben, auch ohne Inanspruchnahme kategorischer Forderungen, bestimmte Charaktereigenschaften auszuzeichnen und sie als sozial akzeptierte Dispositionen und Verhaltensweisen zu stabilisieren? Dem nächstliegenden Einwand, daß sich aus Charaktereigenschaften keine allgemeingültigen verbindlichen Verhaltensregeln ableiten lassen, könnte man immerhin entgegenhalten, daß die Frage, wie man in einer gegebenen Situation handeln soll, sehr wohl beantwortbar sei: „Eben so, wie eine tugendhafte Person in dieser Situation gehandelt hätte!“81 Verfällt diese Antwort nicht dem Vorwurf des Relativismus und Kontextualismus – daß es nämlich keinen Konsens darüber geben könne, welche Tugenden allgemein erwartbar sind, und mithin das für jede Moraltheorie unabdingbare Universalisierungsproblem unlösbar sei?82Und erhebt sich nicht, wenn dieser Konsens dennoch für möglich gehalten wird, der Einwand, daß dann eben an die Stelle kategorischer Imperative beim Tun oder Unterlassen die unbedingte Forderung nach dem „Besitz“ bestimmter Charaktereigenschaften bzw. das Postulieren einer „richtigen“ Kultur oder Lebensform tritt? Läßt sich zumindest eine allgemeinste richtige Lebensform für die Angehörigen der Gattung Mensch postulieren?83 Und wäre mit alledem gleichwohl nichts weiter erreicht als eine der Sache nach überflüssige Psychologisierung oder Kulturalisierung der Moralsemantik? Michael Slote hat deshalb den Vorschlag unterbreitet, diese Vorwürfe gleichsam positiv zu wenden und den Weg, „Moralität“ als Ausdruck menschlicher Lebensverhältnisse zu verstehen, konsequent zu Ende zu gehen. Das heißt aber, anders als in der modernen Moralphilosophie, zur Bewertung von Handlungen und Handlungsbereitschaften nicht mehr kognitiv-evaluative Prädikate wie „richtig“ oder „falsch“, sondern sozial-evaluative Prädikate wie etwa „rühmlich“ oder „erbärmlich“ – Slote nennt diese Begriffe „aretaisch“ – zu verwenden.84 Damit wäre zumindest ein Zirkelschluß vermieden und die Sphäre intersubjektiver Anerkennung von Personen als der wesentliche Hintergrund dessen, was als moralisch zu gelten hätte, beglaubigt. Dann aber läßt sich immer noch nicht zeigen, daß eine Handlungsweise, die aus irgendeinem Grund in einer Kultur als „rühmlich“ anerkannt wird, deshalb bereits das Prädikat „gerecht“ verdient. Zwar mag in einer Kultur „Gerechtigkeit“ als Tugend hochgeschätzt werden, während eine andere „Demut“ als höchste Tugend ansieht – über die Gründe dieser Wertschätzung ist damit noch nichts gesagt und damit auch noch nichts darüber, ob diese zu Recht bestehen. Tatsächlich zielt eine der intersubjektiven conditio humana entsprechende Ethik der Tugenden auf eine Ethik der Lebensformen hin, wie sie etwa Martha Nussbaum als „aristotelischen Essentialismus“85 postuliert hat. Verallgemeinerbarer Maßstab der Bewertung von Kulturen und Lebensformen wäre dann ihr Potential, menschliches Leben in seinen basalsten Funktionen einschließlich des Strebens nach Glück gedeihen zu lassen.

Dieser Aspekt ist für eine Moraltheorie von besonderer Bedeutung, die sich auf wirkliche Menschen und nicht auf die von Utilitarismus und Kantianismus vorausgesetzten Fiktionen eines homo oeconomicus bzw. eines homo theologicus bezieht. Nachdem in der empirischen Moralforschung das kognitivistische Programm Lawrence Kohlbergs in vielen Hinsichten zusammengebrochen ist – sei es, daß die von ihm behauptete präkonventionelle Stufe bei Kindern kaum nachweisbar war, sei es bezüglich der kaum nachweisbaren motivationalen Kraft fortschreitender kognitiver Einsicht, sei es bezüglich der behaupteten Universalität der Stufen des moralischen Urteils –, treten Fragen nach moralischen Kontexten und Gefühlen wieder stärker in den Vordergrund. Dabei geht es nicht – wie man in der Kohlberg-Gilligan-Kontroverse meinen mochte – um die differentialpsychologische Frage, ob Frauen als biologische Wesen eine andere Moral haben. In dieser Hinsicht hatte Kohlberg recht – die Antwort konnte nur Nein lauten. Wohl aber geht es um die Frage, ob grundsätzlich unterschiedliche Moraltypen – solche, die Gerechtigkeit eher an vermeintlich unparteiliche, abstrakte Prinzipien binden, oder solche, die von wohlbegründeten, konkreten, unterschiedlich gewichteten Loyalitäten ausgehen – systematisch gleichwertig sind. Der systematische Vorrang eines bestimmten Verteilungsprinzips für alle Lebensbereiche – das hat nicht nur Michael Walzer86 gezeigt – läßt sich jedenfalls nicht begründen. „Wer Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit ablehnt, muß“, so Onora O’Neill, „anspruchsvollen Maßstäben gerecht werden; doch was diese Maßstäbe fordern, ist unweigerlich variabel und selektiv.“87

Was gerecht ist, erfährt in den Lebensbereichen von Politik und Öffentlichkeit eben eine ganz andere Bedeutung als in den von der systematischen – meist von Männern betriebenen – Philosophie ausgesparten Welten von Familie, Freundschaft und Liebe. Erst eine Theorie der Tugenden kann darüber Aufschluß geben, welche Formen von Wohlwollen, Mitleid, Einsicht und Pflichtbewußtsein, welches Amalgam moralischer Gefühle und Einsichten das „moralische Selbst“ von Menschen in ihrer ganzen Komplexität ausmachen.

Eine Theorie der Tugend vermag also speziell in der Pädagogik und der ihr entsprechenden Theorie moralischer Bildung im Unterschied zu den Reduktionismen von Kantianismus und Utilitarismus

•das Phänomen der Moral unverkürzt unter Einschluß der motivationalen Frage aufzunehmen;

•die Frage nach der sozialen Einbettung von Handlungsbereitschaften in auf wechselseitiger Anerkennung beruhenden Gemeinschaften zu thematisieren;

•die bisher übersehene Frage nach dem Eigeninteresse der Individuen und somit nach einer Bedingung ihres Glücks konstitutiv zu integrieren;

•der Komplexität und Disparatheit moralischen Fühlens und Denkens von Personen in der Spannung unterschiedlicher Sphären, aber eines von ihnen zu führenden Lebens, gerecht zu werden;

•umfassender und angemessener als bisher die Kooperation mit einer empirisch fortgeschrittenen, psychoanalytisch oder kognitivistisch verfahrenden Moralpsychologie aufzunehmen und damit den immer wieder eingeforderten Abschied von der Metaphysik abzuschließen.

Letzten Endes verbirgt sich hinter einer Theorie der Tugenden mit ihrer Betonung des Glücksanspruchs der Individuen jedoch nichts anderes als die alte materialistische Einsicht, daß umfassende Gerechtigkeit nur dann eintreten wird, wenn die Individuen sie als Teil ihres Glücks verstehen. Diese Einsicht muß nicht immer so grob daherkommen wie bei den von Brecht geschaffenen Charakteren Kalle und Ziffel: „Ich seh immer nur Handbücher“, hielt Ziffel seinem Freund Kalle vor, „mit denen man sich über Philosophie und die Moral informieren kann, die man in den besseren Kreisen hat, warum keine Handbücher übers Fressen und die anderen Annehmlichkeiten, die man unten nicht kennt, als ob man unten nur den Kant nicht kennte!“88

II.Skizze einer Theorie des Lasters

In systematischer Hinsicht bedarf eine Theorie der Tugenden, soll sie denn vollständig sein und auch in moraltheoretischer Hinsicht mit Kantianismus und Utilitarismus konkurrieren können, einer Begrifflichkeit, die eine wertende Auseinandersetzung mit unerwünschten Verhaltensweisen bzw. Charakterzügen ermöglicht.1 Dafür gibt die Tradition zwei Begriffe vor, nämlich den Begriff der „Sünde“ und den Begriff des „Lasters“. Der Begriff der Sünde ist in der jüdisch-christlichen Tradition wesentlich auf den moralischen Willen Gottes bzw. die Differenz zwischen dem allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gott hier und dem sich entweder de facto oder notwendigerweise in seinen Handlungen, seinem Menschen- und Gottesbezug verfehlenden Menschen dort bezogen. Im mittelalterlichen Kanon der „Sieben Todsünden“2, des Stolzes (superbia), der Trägheit (acedia), der Begehrlichkeit (luxuria), des Zorns (ira), der Genußsucht (gula), des Neides (invidia) und des Geizes (avaritia), haben die Neigungen, gegen Gottes Willen zu verstoßen, konkrete Gestalt angenommen und stellen das direkte Negativ der Tugenden dar. Die zwischen Judentum, Katholizismus und Protestantismus wesentlichen Differenzen im Verständnis der „Sünde“, die auch dort, wo sie – etwa im Begriff der „Todsünde“ – an Konkretion gewinnen, ohne theologischen Bezug leer bleiben, spielen in einem anderen, einer Theorie der Tugenden angemesseneren Begriff keine Rolle mehr. Die auch noch in der christlichen Philosophie des Mittelalters weiterwirkende Tradition der klassischen Philosophie Platons und Aristoteles’ kennt allerdings noch keinen Begriff der Sünde, sondern „nur“ einen Begriff der kontingenten Verfehlung und menschlicher Mangelhaftigkeit. In dem Ausmaß, in dem das Gegenüber eines transzendenten Gottes nicht mehr als Kriterium für das Gelingen oder Verfehlen menschlichen Handelns fungierte, gewann ein Begriff an neuer Bedeutung, der bereits in den antiken Ethiken eine wesentliche Rolle spielte, der Begriff des „Lasters“.3

Die formale Deontologie Immanuel Kants, der zwischen ethischen und rechtlichen Pflichten ebenso unterscheidet wie zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, versteht unter „Lastern“ grundsätzliche, zum Vorsatz gewordene Übertretungen von ethischen, unvollkommenen Pflichten. Als Beispiele für derartige Laster dienen ihm Lüge, Geiz und falsche Demut. Die Lüge gilt ihm als „Wegwerfung und gleichzeitig Vernichtung eigener Menschenwürde“.4 Im Lügen, so Kant, instrumentalisiert der Mensch sich selbst zu einer „Sprechmaschine“.5 Der Geiz als Laster wiederum besteht nicht nur im Entzug von Mitteln, die anderen zugute kommen könnten – sei es als Verletzung der Wohltätigkeit oder als Lieblosigkeit –, sondern vor allem darin, Pflichten gegen sich selbst zu verletzen. Die Eigentümlichkeit des Geizes liegt im Sammeln und Besitzen von Mitteln mit dem Vorbehalt, „keines derselben für sich brauchen zu wollen und sich so des angenehmen Lebensgenusses zu berauben: welches der Pflicht gegen sich selbst in Ansehung des Zwecks gerade entgegengesetzt ist.“6

 

Die „Kriecherei“ schließlich erscheint ihm als Steigerung der ohnehin überflüssigen, weil keiner Pflicht gemäßen Demut, die insgeheim von einem Impuls des Hochmuts getragen ist. Diese Haltung gezielt einzusetzen, anderer Gunst zu erringen, erweist sich zugleich als Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst, nämlich der Selbstachtung als eines moralischen Wesens: „Aus unsrer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem moralischen Gesetz […] muß unvermeidlich wahre Demut folgen: aber daraus, daß wir einer solchen inneren Gesetzgebung fähig sind, daß der (physische) Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung, als Gefühl seines inneren Werts, nach welchem er für keinen Preis feil ist, und eine unverlierbare Würde besitzt, die ihm Achtung gegen sich selbst einflößt.“7

Kants Konzept des Lasters teilt mit den religiösen Begriffen der Sünde noch die Intuition eines Vergehens gegen ein absolutes Gesetz, wenngleich dieses selbst in seiner Vorstellung zwar noch transzendent, aber nicht mehr theistisch gefaßt ist. Die Verankerung des „Lasters“ in verletzter Selbstachtung läßt sich womöglich von der Absolutheit des Sittengesetzes ablösen, wenn man feststellt, daß die Prinzipien der Moral und die ihnen entsprechenden Konzepte der Selbstachtung historisch und kulturell variieren, so daß von Laster immer dann zu sprechen wäre, wenn Menschen Charaktereigenschaften entwickeln, die systematisch und auf Dauer gegen die in ihren Gesellschaften geltenden Regeln der Selbstachtung verstoßen.

Die klassischen Tugendlehren stellten einen internen Zusammenhang zwischen Tugenden und Glück her – läßt sich eine entsprechende Symmetrie auch negativ bestätigen, so daß Laster und Unglück intern aufeinander bezogen sind? Wer tugendhaft lebt, kann ein mindestens gelungenes, wenn nicht gutes Leben führen, nicht aber führt jemand, der aufgrund unverschuldeter Umstände seinen Lebenszielen nicht nachkommen kann und daher Unglück erfährt, damit schon ein schlechtes, ein falsches Leben. Personen jedoch, die, ohne dies stets zu wollen, Maximen nachgehen, die ihnen immer wieder die Verletzung ihrer Selbstachtung auferlegen, verfehlen ihr Leben in zweierlei Hinsicht: Weder haben sie achtenswerte Ziele ausgebildet, noch setzen sie diese schon ohnehin wenig achtenswerten Ziele mit achtbaren Mitteln um. An dieser Stelle kann keine Phänomenologie des Lasters entworfen werden, das in einer sozialwissenschaftlich reflektierten Semantik eventuell mit Begriffen wie „Sucht“8 oder „Neurose“9 als Erfahrungen der Unfreiheit zu erläutern wäre. Mit dem Begriff „verächtlicher Lebensziele“ und „-strategien“ ist jedoch eine Semantik gewonnen, die einerseits am Minimum einer normativen Theorie des richtigen Lebens festhält und gleichwohl flexibel genug ist, der Unterschiedlichkeit von Gesellschaften gerecht zu werden. Denn „Achtung“ ist allemal – ganz unabhängig von ihren einzelnen Kriterien – stets an die Anerkennungsbereitschaft einer intersubjektiven Gemeinschaft gebunden. Das beinhaltet weniger als alles, was mit dem Begriff der „Sünde“ verbunden ist, und doch mehr als eine nur relativistische, skeptische Position auf akzeptierte Werthaltungen bezüglich der Lebensführung.

Ein auf den ersten Blick schwächerer Begriff von „Laster“ würde nicht einen Verstoß gegen die Selbstachtung, sondern gegen die „Selbstsorge“ hervorheben. Eine an letzterer orientierte Tugendethik hebt die „Wichtigkeit hervor, alle Praktiken und alle Übungen zu entwickeln, durch die man Kontrolle über sich bewahren und am Ende zu einem reinen Genuß seiner selbst gelangen kann“.10 Die damit angestrebte Kunst der Existenz, die im Erringen einer „Souveränität über sich selbst“ gipfelt, kann im Laster nur noch Souveränitätsverlust erkennen, ganz gleichgültig, ob Ziele und Mittel einem Konzept der Achtung entsprechen. In grundsätzlich denkbaren Gesellschaften, die derartige Prinzipien nicht kennen, scheint es auch keine Laster zu geben. Allerdings kennen alle Gesellschaften das Gefühl der Scham.11 Sich auf Dauer Neigungen zu überlassen, die von Dritten miß- oder verachtet werden, scheint der Erklärung dessen, was als „lasterhaft“ gilt, näher zu kommen. Autonome Persönlichkeiten mögen gleichwohl Neigungen anhängen, die von anderen verachtet werden, ohne sich selbst zu verachten. Von anderen als „lasterhaft“ bezeichnet zu werden, ist jedoch nicht das gleiche wie einzusehen, daß man einer selbst nicht akzeptierten Neigung anhängt, die die Grenzen des für akzeptabel gehaltenen Verhaltens verletzt und deshalb mit spontanen, immer wieder auftretenden Schamgefühlen verbunden ist. Ein Laster ist also jene charakterlich verankerte Neigung, der Personen regelmäßig aus mindestens ihrer Meinung nach freien Stücken anhängen, für die sie von Dritten verachtet werden und derentwegen sie sich selbst schämen. Anders als im Fall der Sünde entfällt jedoch das Element der Schuld, da das lasterhafte Verhalten oder Fühlen bei aller Freiheit als unausweichlich, notwendig und gleichwohl beschämend erfahren wird. Einem Laster anzuhängen wird daher als ebenso paradox wie beschämend erfahren. An diesem Element der nicht verfügbaren, spontanen Scham brechen sich übrigens auch Versuche, eine Theorie des gelungenen Lebens nicht auf dem Begriff der Autonomie, sondern auf dem Begriff der „Souveränität“ zu konstruieren. Dabei geht es nicht nur um Terminologie.

Daß eine Theorie des gelungenen Lebens, die ihr Kriterium nicht in der Achtung, sondern in der Souveränität findet, letzten Endes scheitern muß, davon zeugt das ebenso faszinierende wie phänomenologisch präzise moralphilosophische Werk des Marquis de Sade, der in immer neuen Versuchsanordnungen die faktische und auch theoretische Belastbarkeit aller Tugendbegriffe getestet hat. Es ist nicht erst den Autoren der Dialektik der Aufklärung aufgefallen, daß zwischen dem Werk Kants und dem de Sades eine interne sachliche Beziehung herrscht.12 Kants Versuch – so Adorno und Horkheimer –, wechselseitige Achtung vernünftig zu begründen, müsse scheitern, und auch eine Überlegung, von vernünftigen Einsichten auf moralische Gefühle umzustellen, müsse bei einem normativ unterbestimmten Naturalismus enden. Allerdings scheint de Sade selbst, der die Unzulänglichkeit einer naturalistischen Begründung der Moral nachweisen wollte,13 seiner eigenen Idee des souveränen, über alle moralischen Konventionen hinweggehenden Selbstgenusses nicht zu trauen. Denn auch die „Verdorbenheit“ will geübt sein, und so erweisen sich letztlich de Sades Szenarien als unendliche pädagogische Exerzitien, in denen es um wenig anderes geht als um das Verlernen konventioneller Moralvorstellungen: „Lassen wir uns nicht gar zu sehr von diesen unseren Herzensregungen für das Wohltun oder die Nächstenliebe, die uns mehr oder weniger von der Natur in unseren Herzen eingepflanzt, hinreißen. Habe ich nicht genug mit meinen eigenen zu tun, daß ich mich noch über diejenigen fremder Leute bekümmern oder betrüben sollte? Folgen wir lieber unseren Sinnesregungen, die ausschließlich auf unsere Vergnügungen und Genüsse hinzielen, gehorchen allein dieser Stimme unseres Herzens und lassen wir alle übrigen edlen Regungen aus dem Spiel. Freilich resultiert hieraus, ich meine … eine gewisse Grausamkeit, oder von Schlechtigkeit, die jedoch auch nicht immer ohne Süßigkeit und Wonne ist.“14

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