Bildung und Glück

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3.Hegelsche Allgemeinbildung

Hegels politische Theorie mit ihrer Präferenz einer konstitutionellen Monarchie und einer beinahe ständisch aufgebauten Gesellschaft, entspricht den tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklungen in keiner Weise – in Frage steht, ob seine Grundintention, dass „allgemeine Bildung“ all das enthalten müsse, was erstens die Individuen zu Individuen bildet und sie damit zweitens dazu in die Lage versetzt, als Individuen an einer politischen Ordnung der Freiheit nicht nur zu partizipieren, sondern sie durch ihr Handeln gleichsam kontinuierlich aufrecht zu erhalten, rekonstruierbar ist. Das ist dann der Fall, wenn man einsieht, dass „Allgemeinbildung“ sich nicht an der Fülle dessen orientieren kann, was derzeit von den Natur- über die Bio- und Neurowissenschaften bis hin zu reflexiven Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, von den Künsten ganz zu schweigen, erforscht wurde und gewusst werden kann. „Allgemeinbildung“ erschöpft sich aber auch nicht in dem, was eine managerial orientierte Pädagogik, die sich gerne an der Erwachsenenbildung sowie an Programmen beruflicher Weiterbildung bzw. am Konzept des „lebenslangen Lernens“ orientiert, darunter verstanden wissen will: eher formale Kompetenzen, gelegentlich auch „Schlüsselqualifikationen“ genannt, wie „Lernen des Lernens“, „Teamfähigkeit“ oder „Kompetenzen digitaler Kommunikation“, „Rhetorik“ o.ä. Das heißt: Eine zeitgemäße Allgemeinbildung wird sich auf bestimmte thematische Felder beschränken und zwar auf genau jene, die die Bereiche von Gesellschaft, Geschichte und Politik ausmachen, die es den Individuen also ermöglichen, ein Leben in Freiheit zu führen: Dazu müssen sie

1.wissen, welcher Art die Gesellschaft ist, in der sie leben; welche Optionen und Restriktionen, welche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sie enthält, wie sie funktioniert, welchen Gefährdungen sie ausgesetzt ist – national und global. Soweit naturwissenschaftliche Erkenntnisse, etwa ökologischer, genetischer oder informationstechnischer Art für diese Fragen – aber auch nur für diese Fragen – relevant sind, gehören auch sie zur allgemeinen Bildung.

2.Als situierte Individuen in einer situierten Nation, Kultur oder auch konfessionellen Gemeinschaft können sie sich in ihrer Gewordenheit bzw. die Eigenart anderer jedoch auch nur verstehen, wenn sie die Geschichte nicht nur ihres eigenen Gemeinwesens, sondern auch der für ihre Gesellschaft bedeutsamen anderen Gemeinwesen wenigstens ansatzweise kennen und verstanden haben. Historische Kenntnisse vermitteln zudem eine gewisse Einsicht in die Geschichtlichkeit auch von für absolut gehaltenen Wertsetzungen, eine Einsicht, die keineswegs zum Relativismus führt, jedoch vor naivem, unreflektiertem Bejahen der je eigenen Lebensform schützen kann.

3.Wirkliche Freiheit, also individuelle Freiheit, die ihren Namen verdient, aber besteht – zumindest nach Hegel – in einer rechtlich institutionalisierten Demokratie, in der die Individuen ihren Interessen in möglichst moralisch aufgeklärter Weise nachgehen können. Daher gehört zu einer allgemeinen Bildung nicht nur die je altersgerecht präsentierte Kenntnis dessen, was Recht und was eine Demokratie ist, sondern auch das Einüben moralischer Sichtweisen durch moralische Argumentation, wie sie etwa Lawrence Kohlberg18 vorgeschlagen hat, ohne dabei zu verkennen, dass eine nur sprachlich geübte moralische Argumentation ohne die Möglichkeit, im Blick auf zu verantwortende Folgen zu urteilen, lediglich sophistische Wortverdreherei, nicht aber moralische Einsichten fördert. Am Ende eines solchen allgemein bildenden Prozesses sollten bei den Individuen Strukturen und Kompetenzen mindestens einer konventionellen Moral, die das in westlichen Demokratien bestehende Rechts- und Normensystem stützt, verankert sein, wenn nicht sogar Elemente einer postkonventionellen Moral, die jenseits von gesetztem und positiviertem Recht autonome Prinzipien der Moral wie etwa Kants kategorischen Imperativ einsichtig erworben hat.

Die empirische Jugendforschung belehrt uns seit Jahren darüber, dass derzeit nicht nur die Jugend der unteren Schichten, sondern zusehends mehr auch die Jugend der Mittelschichten westlicher Gesellschaften, bedrängt sowohl von sozialen Abstiegsängsten als auch des anfangs genannten, an den Universitäten durchgesetzten Leistungsdrucks, jene Kenntnisse und Kompetenzen, die es zu einem Leben in institutionalisierter Freiheit bedarf, preisgeben. Derzeit zeichnet sich eine neue Unmündigkeit, eine willenlose Bereitschaft, Systemanforderungen zu willfahren, ab; eine Unmündigkeit, die mit dem Begriff des „Autoritarismus“ und des „autoritären Charakters“ falsch charakterisiert wäre. Vielmehr passt auf diese, neuerdings zu beobachtenden Phänomene ein soziologisches Konstrukt, das erstmals in den 1950er Jahren zur Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft entwickelt wurde. David Riesmans in seinem Buch „Die einsame Masse“19 entwickelte Begrifflichkeit von „außen“-bzw. „innengeleitetem“ Mensch trifft die Situation genauer und wird nicht zuletzt den Dispositionen im Zeitalter einer radikal veränderten, digitalisierten Öffentlichkeit20 thematisch.

Ein im hegelschen Sinn politisch verstandenes Konzept von Allgemeinbildung könnte dazu beitragen, Individuen dabei zu helfen, Systemimperativen angstfrei und im Wissen um eine vernünftig gestaltete gesellschaftliche Wirklichkeit zu widerstehen. Wo, so werden Sie sich nun fragen, bleibt aber bei alledem der Begriff der Anerkennung? Auf jeden Fall: Für Hegel galt unbedingt: „Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung.“ Im Paragraphen 387 der „Enzyklopädie“ hebt Hegel noch einmal hervor, dass jenes, das den Begriff „Geist“ zu Recht verdient, sich seinem Begriffe nach als „bildend und erziehend“ betrachtet.21

4.Hegel oder Fichte?

Eine bildungstheoretisch informierte Theorie der Anerkennung wird sich daher zu Recht vor allem auf die von Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“22 entfaltete Theorie des Kampfes um Anerkennung sowie die von ihr geprägte Theorie der Bildung beziehen.23 Dabei kann sie sich auf Arbeiten stützen, die den „Kampf um Anerkennung“ als Sammelbegriff für eine „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ auf der Basis neuerer sozialwissenschaftlicher Überlegungen rekonstruieren.24 Freilich war der Hegel der 1806 erstmals gedruckten „Phänomenologie“ weder der erste noch der einzige seiner Generation, der sich mit der Thematik der Anerkennung auseinandergesetzt hat. Damit komme ich auf das anfangs vorgetragene Zitat zurück, das noch einmal wiederholt sei; indes:

„Nur wolle man ja nicht … glauben, daß der Mensch erst jenes lange und mühsame Raisonnement anzustellen habe, welches wir geführt haben, um sich begreiflich zu machen, daß ein gewisser Körper außer ihm einem Wesen seines Gleichen angehöre. Jene Anerkennung geschieht entweder gar nicht, oder sie wird in einem Augenblicke vollbracht, ohne daß man sich der Gründe bewußt wird. Nur dem Philosophen kommt es zu, Rechenschaft über dieselben abzulegen.“25

Vor Hegel also hat sich bereits Johann Gottlieb Fichte in seiner „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Sittenlehre“26 im Jahr 1796 dieser Frage zugewendet.

Fichtes Überlegungen27 sind für eine pädagogische Theorie der Anerkennung und damit einer nur intersubjektiv möglichen Bildung in mehrfacher Hinsicht von Interesse:

1.hat Fichte – klarer als Hegel – seine Anerkennungstheorie unmittelbar auf Intersubjektivität hin angelegt und darauf verzichtet, seine Theorie der Anerkennung – wie Hegel es tat – zugleich religionstheoretisch und gesellschaftsgeschichtlich einzubetten;

2.hat Fichte ein deutliches Bewusstsein davon, dass „Anerkennung“ eine vorreflexive Gegebenheit des sozialen Lebens von Menschen ist, die die Philosophie nur nachzuzeichnen, aber nicht zu begründen hat;

3.sind bei Fichte die vorsprachlich leiblichen Aspekte dessen, was „Anerkennung“ bedeuten kann, deutlicher herausgearbeitet als bei Hegel. Damit legt Fichte einen Ansatz vor, der vertragstheoretischen und dezisionistischen Missverständnissen der Anerkennungstheorie für den Bereich des sozialen Lebens – im Unterschied zur Rechtssphäre – von Anfang an den Weg verstellt.28

4.Fichtes intersubjektivistische Theorie der Freiheit und der Selbstbestimmung ist von Anfang an im weitesten Sinne „pädagogisch“. Menschliche Wesen, die gar nicht anders können, als sich wechselseitig die Fähigkeit zum freien Handeln zuzuschreiben, kommen auch nicht umhin, sich zur freien Selbsttätigkeit aufzufordern:

„Die Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit ist das, was man Erziehung nennt. Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, außerdem würden sie nicht Menschen.“29

Indem Fichte – deutlicher noch als vor ihm Kant – autonome Subjektivität mit guten Gründen nicht abstrakten Vernunftwesen, sondern den Angehörigen der Gattung Mensch zuschreibt und damit einen normativen Begriff des Menschen postuliert, legt er zugleich eine pädagogische Anthropologie vor, die auf einem vorsprachlichen und leibbezogenen, nicht nur dezisionistischen Anerkennungsbegriff beruht. Dieser leibbezogene Anerkennungsbegriff erheischt einen theoretisch entfalteten Begriff vom „Menschen“, der in den letzten Jahrzehnten aus unterschiedlichen Gründen in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften entweder in die Kritik geriet oder unzeitgemäß erschien. Schließlich erweist sich Fichte als Theoretiker einer Pädagogik der Anerkennung und Freiheit.

Aufklärung ist – so hatte es Immanuel Kant im Jahre 1783, sechs Jahre vor der französischen Revolution definiert – der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Mündigkeit sei indessen die Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne Leitung anderer zu bedienen. Die im Jahre 1803 postum herausgegebene Vorlesung über Pädagogik hält zudem – scheinbar widersprüchlich fest – dass der Mensch nur durch Erziehung Mensch werden kann.

 

„Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind.“30

Beide Aussagen zusammengenommen scheinen zunächst widersprüchlich, werden aber miteinander vereinbar, wenn man festsetzt, dass überhaupt nur Menschen mündig oder unmündig sein können, dass aber nicht jedes Exemplar der Gattung Mensch im vollen Sinn bereits Mensch ist. Das Problem der Hörigkeit oder Aufklärung stellt sich als solches überhaupt erst dann, wenn der Mensch zum Menschen erzogen worden ist – womit eine Nachordnung der Aufklärung hinter die Erziehung festgelegt wäre. Ohne Erziehung keine Menschwerdung, ohne Menschwerdung nicht die Fähigkeit und Möglichkeit zum Erringen oder Verfehlen der höchsten menschlichen Fähigkeit, nämlich sich und andere als höchste Zwecke aus Vernunft und Freiheit heraus zu bestimmen. Diese bei Kant nur in der Fluchtlinie seines Denkens liegenden Konsequenzen sind von seinem Verehrer und Schüler Johann Gottlieb Fichte systematisch zu Ende gedacht worden, weswegen Fichte ebenso als Philosoph der Freiheit wie als der Philosoph der Erziehung gelten kann. Dabei erscheint es leichter, festzuhalten, was Erziehung heißen kann denn was „Freiheit“ bedeutet. In der populärwissenschaftlich gehaltenen „Anweisung zum seligen Leben“, die Fichte auch als „Religionslehre“ bezeichnet hat – eine Vorlesung, in der Fichte den Versuch unternimmt, das Verhältnis von individuellem Bewusstsein und dem allgemeinen göttlichen Grund dieses Bewusstseins zu demonstrieren, findet sich folgender Satz:

„So lange das Ich noch durch seine ursprüngliche Selbsttätigkeit an seiner Selbsterschaffung zur vollendeten Form der Realität zu arbeiten hat, bleibet in ihm freilich der Trieb zur Selbsttätigkeit und der unbefriedigte Trieb als der heilsam forttreibende Stachel und das innige Selbstbewußtsein der Freiheit, welches bei dieser Lage der Sachen absolut wahr ist und ohne Täuschung; wie er sich aber vollendet, fällt dieses Bewußtsein, das nun allerdings trügen würde, hinweg. Und ihm fließt von nun an die Realität ruhig ab in der einzig übrig gebliebenen und unaustilgbaren Form der Unendlichkeit.“31

Ohne hier näher auf den systematischen Zusammenhang, in dem dieser Satz steht, einzugehen, enthält er doch gleichsam in nuce die zentralen Begriffe von Fichtes Denken: Ich, ursprüngliche Selbsttätigkeit, Selbsterschaffung, Trieb, Realität, Selbstbewusstsein, Freiheit, Unendlichkeit. Freilich scheint Fichte in dieser Passage auch anzudeuten, dass eine Bornierung auf diese Größen unzureichend ist; dass ein Bewusstsein also, das sich selbst absolutes Ich, das ursprünglich selbsttätig ist und sich als solches selbst erschafft und gleichsam von Natur aus dazu getrieben wird, sich als frei, absolut und eben selbst erschaffen anzusehen, in der Täuschung lebt. So sehr also Fichte der Philosoph der Selbsterschaffung des Bewusstseins, der absoluten Freiheit und Autonomie des Bewusstseins ist, so wenig war er mindestens in seinem späteren Denken der Auffassung, dass das Bewusstsein diesen Glaube an sich selbst und diese Fähigkeit, sich selbst zu erschaffen, sich selbst verdankt. Erst die Einsicht, dass es in und durch diese Tätigkeiten hindurch an einem allgemeinen göttlichen Grund teilhat, wird ihm Beruhigung – ein seliges Leben in der Wahrheit – bescheren. Derlei Begriffe wirken heute – im Zeitalter der Sozialwissenschaften – eigentümlich unzeitgemäß. Wir haben gelernt, dass Bewusstsein und Bewusstseinszustände das Ergebnis von Lern-, Sozialisations- und Bildungsprozessen sind, dass Denken letzten Endes nichts anderes als ein verinnerlichtes, interaktives und kommunikatives Handeln ist, internalisierte Sprache, und dass „Freiheit“ sehr viel mit Spielräumen des Handelns, materiellen Lebensbedingungen und daher auch mit bürgerlicher Ideologie zu tun hat. Indessen: Das, was bei Fichte exotisch und emphatisch klingt, wird in veränderter Sprache, unter anderen theoretischen Vorzeichen und mit anderen praktischen Ambitionen auch heute in den systemtheoretisch inspirierten Sozialwissenschaften vor allem bei Niklas Luhmann unter dem Begriff der „Autopoiese des Bewußtseins“32 ebenfalls verhandelt.

Bildung – das hat bereits Fichte gesehen – ist daher der Prozess der leiblich verankerten Bewusstseine – zu fragen ist am Ende allenfalls nach den Glückspotentialen dieses Prozesses. Während Immanuel Kant darauf beharrte, dass man durch ein konsequent moralisch gelebtes Leben allenfalls „glückwürdig“ sein könnte, jedoch nicht „glückselig“ werden könne33, lesen wir bei Fichte zwar nichts vom Glück, wohl aber vom seligen Leben und zwar in der ersten Vorlesung zum Thema „Die Anweisung zum seligen Leben“:

„Das Leben ist selber die Seligkeit, sagte ich. Anders kann es nicht seyn: denn das Leben ist Liebe, und die ganze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe und entsteht aus der Liebe. – Ich habe durch das soeben Gesagte einen der tiefsten Sätze der Erkenntniss ausgesprochen; der jedoch, meines Erachtens, jeder nur wahrhaft zusammengefassten und angestrengten Aufmerksamkeit auf der Stelle klar und einleuchtend werden kann. Die Liebe theilet das an sich todte Seyn gleichsam in ein zweimaliges Seyn, dasselbe vor sich selbst hinstellend, – und macht es dadurch zu einem Ich oder Selbst, das sich anschaut, und von sich weiss; in welcher Ichheit die Wurzel alles Lebens ruhet. Wiederum vereiniget und verbindet innigst die Liebe das getheilte Ich, das ohne Liebe nur kalt und ohne alles Interesse sich anschauen würde.“34

Berlin, im Juni 2019

Vorbemerkung

Die vorgelegte Arbeit verknüpft und entfaltet Motive aus mehr als fünfundzwanzig Jahren erziehungswissenschaftlicher Reflexion. Das 1973 in meiner Arbeit Der Symbolische Interaktionismus und seine pädagogische Bedeutung erstmals postulierte, aber nie ausgeführte „biographische Interesse“1 findet hier in Überlegungen zum Verhältnis von Glück und Lebenslauf seine Entfaltung und verbindet sich mit den in den letzten Sätzen meiner (nicht publizierten) Dissertation angeführten Sätzen Kants zum Verhältnis von Gefühl und Tugend.2 Im Vorwort zur 1992 publizierten Advokatorischen Ethik, die wesentlich von einer Rezeption Kohlbergs inspiriert war, wird das Programm einer „Theorie moralischer Gefühle im menschlichen Entwicklungsprozeß“ angekündigt.3 Die 1995 erschienene Studie Gerechtigkeit zwischen den Generationen präludiert schließlich das Thema der Tugend, verblieb aber noch im Programmatischen.4 Den Leserinnen und Lesern wird auffallen, daß bei alledem zwei theoretische Konstanten die Argumentation bestimmen. Die Theorie des symbolischen Interaktionismus, wie sie G. H. Mead entworfen hat, und der genetische Strukturalismus, vor allem Lawrence Kohlbergs, enthalten, das möchte ich zeigen, auch nach mehr als dreißig Jahren erziehungswissenschaftlicher Rezeption ein noch immer unausgeschöpftes Potential – freilich nur dann, wenn man sich nicht auf eine kognitivistische Lektüre beschränkt.

Dieses Buch ist während meines Wechsels von der Universität Heidelberg, an der ich zwanzig Jahre lehrte, an die Frankfurter Universität entstanden. Den Kollegen des Erziehungswissenschaftlichen Seminars der Universität Heidelberg verdankt dies Buch wesentliche Anregungen. Während Jochen Kaltschmid auf die existenzphilosophischen Elemente einer Theorie der Erwachsenenbildung aufmerksam machte, überzeugte mich Felix von Cube bei aller sonstigen Kontroverse von der Unabdingbarkeit einer evolutionsbiologischen Betrachtung von Erziehungsphänomenen. Volker Lenhart hingegen schärfte meinen Blick für die gesellschaftliche Evolution des Erziehungssystems und für die Notwendigkeit einer Pädagogik der Menschenrechte, die er mit aller Konsequenz vorantreibt. Fritz-Ulrich Kolbes Arbeiten zur professionellen Kompetenz von Lehrern schuldet die hier vorgetragene Tugendkonzeption einiges. Meike Baader und Sabine Andresen, Mitarbeiterinnen in Heidelberg, danke ich dafür, mir Werk und Bedeutung Ellen Keys, die dieses Buch wesentlich prägen, vermittelt zu haben.

Besonderer Dank gebührt den langjährigen Mitarbeitern in unserem Heidelberger Forschungsprojekt zur moralischen Entwicklung jugendlicher Strafgefangener, Hansjörg Sutter und Stefan Weyers, sowie Thilo Reinke. Sie haben den pädagogischen Reichtum wie die Problematik des Kohlbergschen Paradigmas theoretisch ausgelotet und empirisch untersucht. Ohne ihre Mitarbeit am Forschungsprojekt hätte ich dies Buch so nicht schreiben können. Marcus Dietenberger danke ich dafür, den Tugenddiskurs aufgenommen und in eine fruchtbare schulpädagogische Fragestellung transformiert zu haben.

Ich widme dieses Buch meiner Frau Renate Nyssen-Brumlik in Theorie und Praxis.

Einleitung: Moralische Gefühle und Die Leichtigkeit des Seins

Die Gedenkstättenpädagogik ist einer jener raren Fälle, der die von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik aufgestellte Behauptung bestätigt, daß die Erziehungswissenschaft die nachträgliche Reflexion einer vorgängigen Praxis sei. Ohne daß damit nennenswerte Ansprüche verbunden gewesen wären, hat die gedenkpolitische Konjunktur der achtziger Jahre zur Einrichtung einer Fülle von Bildungs- und Begegnungsstätten sowie von Museen am Ort ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager, verbrannter Synagogen und mittelalterlicher Ghettos, aber auch von ehemaligen nationalsozialistischen Erziehungsanstalten geführt. Diese meist von den Kommunen, bisweilen von den Ländern, seltener vom Bund getragenen Institutionen entstanden als Ergebnis eines guten und aufgeklärten politischen Willens, ohne daß die Initiatoren in der Regel wußten, was sie wem gegenüber mit derartigen Einrichtungen bezweckten. Die naheliegenden, den theoretischen Überlegungen der sechziger Jahre entstammenden Programme hielten den neuen Herausforderungen nicht mehr stand. Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch Die Unfähigkeit zu trauern1, eine Arbeit, die – meist ungelesen – eher zitiert als verarbeitet wurde, ließ sich für die Praxis in Gedenkstätten kaum verwenden. Denn erstens war es gerade die These der Mitscherlichs, daß die unterbliebene Trauer um Hitler die wesentliche Ursache des deutschen Neurotizismus war, zweitens wäre sogar beim Akzeptieren von Trauer als Lernziel die Frage offengeblieben, ob man in einem gehaltvollen Sinn um ferne und fremde Opfer tatsächlich trauern kann. Aber auch der Rückgriff auf Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ geriet an seine Grenzen. Adorno konnte nicht wissen, daß eine Pädagogik entstehen würde, der es nicht nur darum ging, die Wiederholung von Auschwitz unmöglich zu machen, sondern vor allem darum, dieses Ziel durch ein Lernen über „Auschwitz“, also durch ein historisches Lernen zu erreichen, das Pogrom, Massaker, Entwürdigung und Ermordung zum sachlichen Gegenstand hatte. Zudem ließ sich mit Adornos auf die Nichtwiederholbarkeit des Verbrechens zielender, sensibilisierender Didaktik eine zentrale Intuition aller Gedenkstätten nicht mehr einholen: das Eingedenken der Opfer, das in Sonntagsreden mit zu Redensarten verkommenden traditionellen Glaubenssätzen wie „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ beschworen wurde.

Damit schälten sich bald zwei Paradigmen der Gedenkstättenpädagogik heraus: erstens eine Pädagogik der Erschütterung und der historischen Information, die zum Motor einer zukunftsgerichteten Menschenrechtsdidaktik wurde, sowie zweitens eine Pädagogik des Eingedenkens,2 deren Ziel in einer nicht instrumentalisierenden symbolischen Wiedereingemeindung der Ermordeten besteht. Die Gedenkstättenpädagogik3 artikulierte damit alle Spannungen, die das Thema kollektiver Erinnerung in der öffentlichen Debatte und im wissenschaftlichen Diskurs provozierte: Ist eine historische Vergewisserung möglich und nötig, die sich darauf beschränkt, zu sagen, wie es gewesen ist – das wäre Erinnerung –, oder führt eine am Gedanken des Respekts und der Versöhnung mit den Opfern ausgerichtete „Unterweisung ins Eingedenken“ nicht zu grundlegenden Veränderungen im Selbstverständnis jener, die sich historisch betrachtend mit dem mörderischen historischen Geschehen befassen? Der von Walter Benjamin erwogene spekulative Gedanke eines Vermächtnisses der Opfer der Geschichte an die Heutigen war in diesem Zusammenhang im Prinzip der anamnetischen Solidarität auch über seine theologischen Gehalte hinaus4 sozialwissenschaftlich zu entfalten. Auf jeden Fall: Die naturwüchsig entstandene Gedenkstättenpädagogik erzwang eine Klärung von Begriffen wie „Schuld“, „Scham“, „Verantwortung“ und „Respekt“ – allesamt Begriffe, die nicht anders denn als Begriffe für „moralische Gefühle“ zu bezeichnen sind.

 

In einer anderen, aktuellen sozialpädagogischen Debatte geht es um das Gerechtigkeitsempfinden. Lawrence Kohlbergs in der Tradition der US-amerikanischen Reformpädagogik, der „progressive education“, stehende „Just community“-Programme, in denen eine Steigerung der moralischen Urteilsfähigkeit nicht nur durch eine Erörterung hypothetischer Dilemmata, sondern durch die Auseinandersetzung über reale Regelverletzungen und Regelsetzungsprozesse in demokratisch strukturierten Schulen und Jugendgruppen, aber auch in Gefängnissen erreicht werden sollte, wurden in Deutschland und in den USA unter unterschiedlichen Bedingungen wiederholt.5 Inzwischen ist bekannt, daß sich zentrale Annahmen der letzten Fassung von Kohlbergs Theorie nicht halten ließen. Gertrud Nunner-Winkler hat gezeigt, daß sich die von Kohlberg postulierte präkonventionelle Phase moralischer Urteilsbildung einer nur am Eigennutz orientierten Haltung bei Kindern nicht nachweisen ließ und mithin die unterstellte Präkonventionalität jugendlicher Straftäter nicht als Fixierung, sondern als innertheoretisch schwer erklärbare und eigentlich nicht vorgesehene Regression anzusehen war. Sie fand heraus, daß Kinder und Jugendliche im Prozeß des Heranwachsens über ein deutlich ausgeprägtes moralisches Wissen, aber über ungenügende motivationale Kräfte verfügen, sie mithin eher ein Integrations- denn ein kognitives Defizit aufweisen. Zudem konnten sie zeigen, daß sogar die entwickelte Fähigkeit zu affektiver Wahrnehmung, d. h. ein geschärftes Verständnis für den Schaden, den bestimmte Handlungsweisen anderen Kindern zufügen, gegeben war.6 Wäre es denkbar, daß jugendliche Strafgefangene im Vergleich zu ansonsten identischen, aber nicht inhaftierten Kontrollgruppen sich vor allem durch die mangelnde Integration von vorhandenem Regelwissen und moralischen Gefühlen auszeichneten? Oder war anzunehmen, daß die Ausbildung von Empathie unterentwickelt war?

Das Bild gewinnt an Tiefenschärfe, wenn die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit mit Robert S. Selman als semantisch eigenständige Ausformung sozio-moralischer Perspektivenübernahme verstanden wird. Moralisches Wissen und moralische Motivation erscheinen jetzt als regelbezogene Verdichtungen mehr oder minder wechselseitiger, mehr oder minder einfühlsamer Beziehungen vor dem Hintergrund bedeutsamer affektiver, intimer Beziehungen zwischen Gleichaltrigen, die ihnen sowohl zu einem reichen Konzept der Person als auch der damit einhergehenden Fähigkeit zur Einfühlung in andere Nächste verhalfen.7 Damit rückte ein in der Nachkriegspädagogik weitgehend vernachlässigtes Thema ins Scheinwerferlicht: die sozialisatorische Funktion von Freundschaften, die von Monika Keller und Wolfgang Edelstein erforscht wurde.8 So ergaben neuere deutsche Forschungen9 im Unterschied zu US-amerikanischen Untersuchungen, daß männliche jugendliche Strafgefangene in aller Regel nicht auf der präkonventionellen Ebene der Urteilsbildung stehen und daß ihre Fähigkeit, Freundschaften zu schließen, ein wichtiger Indikator auch für ein Lernen von einem sehr schwachen zu einem gefestigteren Konventionalismus darstellt. Darüber hinaus zeigte sich, daß die Fähigkeit zur sachlichen Auseinandersetzung über Regeln im gelockerten Vollzug, verbunden mit der Bereitschaft zur realen Übernahme sozialer Verantwortung, die moralische Urteilsfähigkeit wie das tatsächliche ausgeübte Verhalten fördert. Mit diesen Ergebnissen zeichnet sich ein anderer Ausgang der klassisch gewordenen Kohlberg-Gilligan-Debatte ab.10 Während in der ersten Runde Kohlbergs Verteidiger gegen eine mißverständlich rezipierte Carol Gilligan darin recht behielten, daß es keine wesensmäßigen Unterschiede in der Moralentwicklung zwischen Männern und Frauen gibt, die „andere Stimme“ also nicht differentialpsychologisch zu lesen war, konnten sie mit ihrer weitergehenden Behauptung, daß Gilligans an realen Lebensproblemen von Frauen deutlich werdende beziehungsorientierte Moral nicht lediglich eine Anwendungsform von Prinzipien war, nicht überzeugen. Gilligan behielt – so unhaltbar ihre Ergebnisse und Methoden im einzelnen auch waren11 – im grundsätzlichen sowohl mit ihrer Skepsis gegenüber dem Erkenntniswert rein theoretischer Dilemmata als auch mit ihrer Betonung affektiver sozialer Bindungen recht. Mit den durch Forschung und die theoretische Weiterentwicklung des sozialkognitivistischen Paradigmas hervortretenden Elementen emotionaler Motivation, affektiv getönter Beziehungen wie Freundschaften und einer auf Loyalität und Bindung beruhenden Beziehungsmoral ist die Frage nach der Rolle „moralischer Gefühle“ auch in dem ansonsten als ausgesprochen kognitivistisch geltenden genetischen Strukturalismus in den Mittelpunkt gerückt.

Die Theorie der Bildung und Erziehung im Kontext der Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren einen tiefgreifenden Wandel von einer defizitorientierten „Ausländerpädagogik“ über eine im wesentlichen an Bildungsinhalten ausgerichteten „multikulturellen Pädagogik“ zu einer vor allem die Konstruktion des Selbstverständnisses von Kindern und Jugendlichen im Immigrationsprozeß thematisierende „interkulturelle“ Pädagogik durchlaufen. Dabei schwankt die interkulturelle Pädagogik der späten achtziger Jahre12 zwischen einer Pädagogik besserer Lebenschancen für alle Kinder im Horizont einer gerechten Republik sowie einer postmodern instrumentierten Ermutigung zur Differenz, die zugleich mit der kritisch-befreienden Dekonstruktion bestehender Selbstverständnisse einhergehen soll. Ein näherer Blick auf vielfältige pädagogisch-politische Konfliktfelder wie den muttersprachlichen Unterricht, die Auflösung eigenständiger Ausländerfachbereiche an kommunalen Volkshochschulen, den Streit um die eventuelle fundamentalistische Orientierung in ihren Lebenschancen eingeschränkter muslimischer Jugendlicher und die nach wie vor überdurchschnittlich hohe Sonderschulüberweisungsrate von Kindern italienischer und türkischer Herkunft zeigt auch ein anderes Bild: Wenn nicht alles täuscht, klagen unterschiedliche Minderheitengruppen mit ihren zum Teil strittigen politischen Vorschlägen wie Quotierungen, Maßnahmen zur Subventionierung ethnischer Zusammenhänge sowie staatsrechtlicher Anerkennung als Minderheiten etwas ein, das sich der einfachen Alternative von Ethnisierung bzw. Selbstethnisierung hier und staatsbürgerlich-demokratischer Assimilation dort entzieht. Dabei geht es um mehr als lediglich darum, in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen zu einer wechselseitigen Erweiterung der Kenntnis von Lebensformen für Kinder mit und Kinder ohne deutschen Paß zu gelangen. Im Kern aller vermeintlichen oder wirklichen Wünsche nach ethnischer Segregation oder einer am Vorbild der USA gewonnenen Quotierungsdiskussion geht es um das Einklagen nicht nur besserer sozialer Chancen, sondern auch und vor allem um eine Politik der Achtung,13 mit anderen Worten: um den Kampf für ein Bildungssystem, in dem sich niemand für seine Herkunft schämen muß bzw. in dem alle – trotz unterschiedlicher Herkunft – auf mindestens einige Gehalte der ihnen zugeschriebenen Tradition stolz sein können. Wie das Verhältnis von Repräsentation und Artikulation von Migrantenkulturen im Bildungswesen im einzelnen umgesetzt wird, wird auch in Zukunft Gegenstand politischen Streits sein. Worauf es ankommt, ist die Behauptung, daß die Theorie der interkulturellen Bildung neben ihrem Beharren auf Chancengleichheit, auf Toleranz und Erweiterung von sozialer Wahrnehmungsfähigkeit den Fragen von Selbstachtung, Selbstrespekt und Selbstwert – also wiederum Begriffen, die einer Semantik moralischer Gefühle entspringen – bisher noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hat.14