Schlachtfest

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Schlachtfest
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Mia Wachendorf

Schlachtfest

Ein Krimi aus dem Emsland

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Samstag

Schlachtfest

Ein Krimi aus dem Emsland

von

Mia Wachendorf

Umschlagfoto: Philipp Deus auf unsplash.com

Copyright © 2021 Mia Wachendorf

Alle Rechte vorbehalten.

Es war ein seltsamer Anblick, als das aufgeplusterte Ding seinen Weg durch die sanft fließende Strömung des Flusses nahm, mal schneller, mal langsamer dahintrieb, sich drehte und wendete, still zu stehen schien, um dann wieder mit Macht voran zu schießen. Es trieb eine Weile auf der Oberfläche, ein unförmiges rosafarbenes Objekt, das nach unten gezogen wurde und sich wieder aufbäumte gegen den Sog der Strudel, die sich zahlreich in dieser Biegung befanden. Zwei vorbeischwimmende Stockenten beäugten es neugierig. Eine einzelne im Uferbereich schwimmende Biberratte riskierte einen Blick, sanft an der Wasseroberfläche dahingleitend, und tauchte dann gelangweilt ab. Das bauschige Etwas blieb im Gestrüpp der Uferböschung hängen, wo es sich wand und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Es kam nicht frei, schwappte auf und nieder im Rhythmus der Wellen und schien sich seinem Schicksal zu ergeben.

Die Morgendämmerung tauchte das Flusswasser in ein Rosa, das dem des festhängenden Treibguts ähnlich war. Und doch passte das rhombenförmig abgesteppte Kleidungsstück nicht in das malerische Idyll dieser morgendlichen emsländischen Angelstelle. Eine Jacke, ein Fremdkörper aus Kunstfaser, weggeworfen, vergessen, verloren oder davongeweht. Und wasserfest. Sollte sie angefangen haben sich vollzusaugen, so würde sie nun von den Zweigen des Gebüsches an der Oberfläche gehalten. Ein Abtauchen war unmöglich. Sie blieb hängen und gesellte sich zu einer alten Plastikflasche, Treibholz und abgebrochenen Ästen.

Die Bäume hinter der Böschung rauschten im Wind und nur wenige Vögel zwitscherten eine gleichförmige Melodie. Kein intensiver Balzgesang wie noch vor wenigen Monaten, als der Frühling in diesen platten nordwestdeutschen Landstrich einzog. Doch der Gesang ließ erahnen, dass es wieder ein schöner sonniger Tag werden würde, wie schon die vorangegangenen in dieser heißen Juliwoche. Zum Vogelgezwitscher gesellte sich das ferne Muhen der Kühe, die auf den zum Wasser hin abfallenden Weiden am Ufer der Ems grasten. Die Kühle der Nacht verschwand nur langsam und mit den Sonnenstrahlen stieg ein süßlicher Duft aus den vertrockneten Grasflächen auf, die die sonnenbeschienenen Böschungen bedeckten. Der Wind trieb den typischen leicht modrigen Geruch des Flusswassers an den Strand herüber, an dem die beiden Angler saßen. Ihre Silhouetten hoben sich grau gegen den prächtigen Morgenhimmel ab. Sie saßen auf Hockern, nebeneinander, unbeweglich wie Statuen, auf das Wasser starrend als meditierten sie.

„Hast du das gesehen?“, fragte der eine, ein junger Mann, bekleidet mit Fleecepullover und dunkelgrünen Gummistiefeln. Der andere, ein älterer bärtiger Mann in Wachstuchjacke, begann seine Angel mit einem Köder zu bestücken. Er fluchte plötzlich, fuchtelte mit der Hand durch die Luft, in der der Haken mitsamt Angelschur steckte. Dann beförderte er schmerzverzerrt den Widerhaken heraus und steckte den Daumen in den Mund, damit das Blut nicht heruntertropfte.

„Gesehen? … Was gesehen?“, fragte er genervt.

„Na, da hinten! Im Gestrüpp. Da schwimmt was. Ne Jacke, oder so.“ Der Alte blickte kurz in die ihm angezeigte Richtung.

„Joh! Nicht meine Farbe.“ Er lachte röchelnd in sich hinein.

Der jüngere setzte das Starren aufs Wasser fort.

„Die schmeißen da allen Scheiß rein“, sagte der Alte ein paar Minuten später. „Neulich haben sie bei Haverlands Wiese einen kompletten Grill aus‘m Wasser gezogen.“

„Hhmm.“

„Da lag noch Grillfleisch drauf.“

„Is klar.“ Der Jüngere wirkte gelangweilt. Er kniff die Augen zusammen und fixierte die nun gleißend helle Wasseroberfläche am Anfang der Flussbiegung. Etwas bierflaschengroßes, weißschimmerndes schien sich aus der Lichtflut zu lösen und näherte sich in der Sonne glitzernd dem Ufer. Es tänzelte auf den Wellen wie ein verlassener Kahn. Zunächst kaum erkennbar, bewegte es sich dann schneller und erreichte bald die Angelstelle, an der es in Ufernähe vorbeitrieb. Er sprang auf und griff hektisch nach seinem Kescher, lief ein Stück über den Strand und konnte noch das Netz darüber ziehen und es an Land holen, bevor es um die nächste Biegung abgetrieben oder unter dem dichten Uferbewuchs unerreichbar geworden wäre. Er ließ es abtropfen und fummelte umständlich das Netz des Keschers herunter. Skeptisch besah er seinen Fang von allen Seiten.

„Das is’n Schuh.“ Die Enttäuschung über die jämmerliche Ausbeute stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Und was für einer!“ Wieder das röchelnde Lachen des Alten, das wie ein Automotor mir Startschwierigkeiten klang. Er war aufgestanden, um den seltsamen Fund zu betrachten. Der weiße Damensneaker war großzügig mit den verschiedensten Verzierungen besetzt. Kleine Perlen entlang der Schnürung und mehrere große Kristalle aus transparentem pinkfarbenem Kunststoff an den Seiten. Der junge Mann drehte den Schuh um, um das Wasser heraus zu kippen und sein Inneres zu inspizieren. Da war nichts außer Feuchtigkeit.

„Größe 39“, stellte er fest. Dann warf er ihn desinteressiert hinter seinen Angelstuhl auf den Strand. Gerade als sie sich wieder auf ihre Hocker fallen ließen, trieb eine pinkfarbene Damenhandtasche mit Henkeln direkt auf sie zu. Sie sprangen auf. Der Jüngere hatte sofort seinen Kescher zur Hand. Er stapfte mit den Gummistiefeln ein Stück ins Wasser hinein, währen der Alte ihn anfeuerte.

„Die kriegste noch!“ Er schaffte es, das schwimmende Damenaccessoire an Land zu befördern, ließ das Wasser ablaufen und öffnete den Reißverschluss. Er grinste, als er ein weißes längliches Damenportemonnaie zu Tage förderte, öffnete es und fand darin einige Geldscheine und Münzen.

„Finger weg!“, befahl der Alte. Der Jüngere zuckte mit den Schultern.

„Wer wirft denn sowas ins Wasser?“, fragte er und sah sich in der Gegend um, wobei ihn nicht wirklich interessierte, wem das Geld gehörte. Er hoffte vielmehr, der Besitzer wäre in weiter Ferne. Weiter gab die Tasche nichts her, das interessant für ihn wäre. Neben Kamm und Bürste, einem Lippenstift, knallrot, einem Kondom, violett, einer überschwemmten Puderdose und einer kleinen Dose Haarspray förderte er eine vollgesogene Packung Papiertaschentücher zutage. Außerdem ein Handy, dass sich als nicht mehr funktionstüchtig herausstellte.

„Vielleicht zieht sich da gerade eine aus“, meinte der Alte und blickte in Richtung der ufernahen Bäume, aus der die Fundstücke herangetrieben wurden. „Of da slapen twee mitnanner.“

„Hier buten?“ Das hatte der junge Mann in seiner kurzen Anglerkarriere zwar schon erlebt, aber noch niemals um halb fünf in der Früh.

„Und dann schmeißen sie vor Begeisterung ihre Klamotten in den Fluss, oder was?“ Die Wiesen und Strände der Ems hatten schon einiges gesehen, aber für gewöhnlich kamen die Paare nicht vor dem frühen Nachmittag, um sich hier mit Picknick und Liebesgetändel die Zeit zu vertreiben.

„Ach! Dat kann von sonst wo hergetrieben sein!“, meinte der Alte und rieb sich den stoppeligen Bart. Nachdem sie die Steppjacke geborgen hatten, ergänzten sie den Stapel der Fundsachen noch um ein T-Shirt mit Leopardenmuster, das wenig später angetrieben wurde. Dann angelten sie weiter.

„Meinst du, da kommt noch wat?“, fragte der junge Mann wenig später.

„Nee.“

#

„Das war’s!“ Der Möbelpacker pustete heftig und wischte sich mit einem riesigen graublauen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Es war fast Mittag. „Feierabend.“ Er schwitzte so heftig, dass seine kurzen schwarzgrauen Locken glänzten, als wären sie nass. Enna hatte Bedenken, dass er ihr schönes altes Parkett volltropfen könnte.

„Den haben Sie sich redlich verdient!“, sagte sie und versuchte ein Lächeln. Das Wohnzimmer war ein Kistenlager und wirkte vollgestopft und unordentlich, auch wenn die Möbel schon größtenteils an ihrem Bestimmungsort standen. Sie zeichnete den Lieferschein, der ihr hingehalten wurde, lächelnd ab. Das gröbste war erledigt. Nun war es an ihr, hier für Ordnung zu sorgen.

 

„Was ist denn eigentlich heute hier im Ort los? “, fragte sie. „Ich bin kaum mit dem Auto durchgekommen. Da war eine ganze Straße abgesperrt.“

„Ja, wegen der Aufräumarbeiten. Ich hatte auch so meine Probleme mit dem LKW. Wir feiern dieses Wochenende Schlachtfest. Das ist hier jedes Jahr um diese Zeit. Gestern ist’s angefangen. Heute wird wahrscheinlich noch mehr los sein als gestern. Samstags ist es immer am vollsten.“

„Schlachtfest? Ist das eine öffentliche Veranstaltung?“

„Ja sicher. Kommen Sie doch vorbei!“ schlug er vor. „Die Maarsumer gehen da alle hin, ist immer eine Menge los. Bier und Grillfleisch bis zum Abwinken. Oder sind Sie Vegetarier? Bei den Leuten aus der Stadt weiß man das ja nie.“ Er grinste über das ganze Gesicht.

„Nein, nein. Ich esse Fleisch, …“ Der Gedanke an ein Schnitzel vom Grill war ihr dennoch gerade zuwider. Außerdem zog sie ein gutes Glas Chardonnay einem Bier grundsätzlich vor. Eine leichte Übelkeit hatte sie befallen. Der Mann vor ihr roch nach Schweiß und sie war heute Morgen schon um vier Uhr aufgestanden, um rechtzeitig in Maarsum einzutreffen und die Möbelpacker hereinzulassen. Ihr Magen hatte sich schon vor zwei Stunden gemeldet. Ihr Frühstück hatte nur aus einem Hörnchen und einem Kaffee bestanden und sie hatte es bereits um halb fünf in der Frühe eingenommen. Das war sechs Stunden her.

„Kommt Ihr Mann noch nach?“, fragte er ganz direkt. Enna wusste, dass seine Art zu fragen nicht unhöflich gemeint war und eher daher rührte, dass die Menschen hier geradeheraus waren. Umschweife wurden nicht gemacht, man schlug sich nicht mit Floskeln oder Wordhülsen herum. Das gesprochene Wort wurde, wo möglich, auf das nötigste reduziert, ohne jedoch wichtiges wegzulassen oder mit notwenigem hinter dem Berg zu halten. So kannte sie ihre Heimat. So hatte sie sie in Erinnerung.

„Nein. … Nein, der bleibt in Münster“, antwortete sie nur. Einen Mann, in dem Sinne, gab es nicht. Aber sie hatte keine Lust ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Weit herumgekommen war sie nicht, es gab nichts zu berichten. Maarsum war der Ort an dem sie aufgewachsen und zur Schule gegangen war, bis sie mit 19 Jahren in Münster ihre Ausbildung bei der Polizei angefangen hatte. Mit Anfang Vierzig hatte sie nun, bis auf Ausnahmen von kurzer Dauer, immer in Münster gelebt. Ihr halbes Leben. Und nun war sie wieder hier, weg von Rüdiger. Ohne Rüdiger. Sie musste sich noch an den Gedanken gewöhnen, wieder Single zu sein. Aber so hatte sie es selbst gewollt.

„Münster! Schöne Stadt.“

„Ja, sehr schön“, sagte sie nur.

„Herrlich!“ Er schnaufte immer noch. Sie schwiegen eine Weile, wie um der Schönheit der Stadt Münster angemessen zu gedenken. Der blaue Overall des Mannes war staubig und befleckt. Enna fragte sich, ob ein körperlich arbeitender Mann wie er nicht eigentlich fitter sein müsste. Für einen Möbelpacker war er schmächtig und kurzatmig. Für eine Kommissarin hast du ganz schöne Klischeevorstellungen, schalt sie sich selbst. In ihrem Job versuchte sie den Menschen möglichst vorurteilsfrei zu begegnen.

„Und warum gerade ein Schlachtfest? Hat das irgendeine Tradition?“, fragte sie dann.

„Das kommt wohl daher, weil wir hier so viel Fleischindustrie haben. Familienbetriebe meistens. Dem Kösters, dem gehört der Schlachthof, ein Legehennenstall und ein Hähnchenmastbetrieb. Seinem Schwiegersohn die Wurstfabrik. Der Kösters sponsert das Ganze ein bisschen, tut eine Menge für den Ort, muss man schon sagen.“

„Aha. … Ist das Heinz Kösters?“ Der Name kam ihr bekannt vor. Der Heinz Kösters an den sie sich erinnerte, musste im Alter ihres Vaters sein.

„Heinz, ja. So heißt er“, antwortete der Mann, der seinen Atem schließlich wiedergefunden hatte. „Kennen Sie den?“ Enna schüttelte den Kopf.

„Nein, ich denke nicht.“ Enna hatte keine Lust, ihre Gedankengänge einem Fremden offen zu legen. Sie betrachtete sich inzwischen als Münsteranerin. Ihre Zeit dort war zu lang, um sich hier wieder sofort heimisch zu fühlen. Die Menschen, die hier wohnten, kannte sie größtenteils nicht mehr. Ihre Eltern waren beide nach ihrem Abitur nach Emden gezogen, wo ihr Vater einen neuen Job angenommen hatte. Später sind sie dann nach Langeoog übergesiedelt, um dort ihren Ruhestand zu verbringen, und Enna, die außer ihnen nur einen Bruder hatte, hatte es seither nicht mehr oft in die Gegend verschlagen. Moritz, ihr Bruder, war zwei Jahre jünger als sie und ist damals zum Studieren nach Gießen gegangen. Und dort geblieben. Hin und wieder schrieb sie ihm und er schickte Fotos von seiner kleinen Tochter. Aber jeder führte sein eigenes Leben. Es hatte sie nichts mehr zurück hierher gezogen. Bis jetzt.

„Ja, vielleicht gehe ich tatsächlich hin.“ Enna dachte nicht ernsthaft darüber nach, dieses fleischlüsterne Spektakel aufzusuchen. Eigentlich wollte sie nun lieber allein sein mit ihren Habseligkeiten und ihren trüben Gedanken. Es würde ewig dauern, bis alles ausgepackt und eingeräumt war.

„Machen Sie das! Vielleicht sieht man sich dort. Ich wünsche ein schönes Wochenende und viel Glück im neuen Heim!“, sagte der Mann und reichte ihr die Hand. Enna bedankte sich und begleitete ihn zur Haustür. Er stieg in den Umzugswagen, in dem schon der Kollege saß, der vorhin beim Auspacken geholfen hatte. Der Motor lief. Enna winkte ihnen kurz zu. Dann schloss sie die Haustür und lehnte sich von innen dagegen. Viel Glück im neuen Heim, hallte es in ihrem Kopf nach. Glück – das wäre schön. Vielleicht würde sie hier wirklich ihr Glück finden, in diesem kleinen roten Backsteinhaus am Rande des Teufelsmoors. Aber irgendwie zweifelte sie daran. Sie vermisste Rüdiger. Mehr als sie je für möglich gehalten hätte.

Auch der Flur war vollgestellt mit Umzugskartons, Lampen und Klappkisten. Enna sah sich um.

„Shit! Verdammte Scheiße!“ Das Fluchen war in letzter Zeit zu einer Gewohnheit geworden. Sie kannte eine Menge Flüche. Das Fluchen passte nicht zum Bild einer niveauvollen, modernen und ehrgeizigen Frau im besten Alter, dass sie nach Außen von sich vermitteln wollte, aber das störte sie nicht. Das Fluchen war sie selbst. So war sie. Sie bildete sich ein, es von ihren vielen „Klienten“ übernommen zu haben. So bezeichnete sie die straffällig gewordenen Menschen, mit denen sie täglich zu tun hatte. Das Fluchen hatte auf sie abgefärbt. Es war ein Ventil, um mit dem Schweren, dem Sinnlosen und dem Traurigen, dass ihr Job mit sich brachte, zurecht zu kommen. Aber sie schaffte es meistens, das Fluchen auf ihre eigenen vier Wände zu beschränken, oder zumindest auf ihr Privatleben.

Noch heute und morgen hatte sie zur Verfügung, zum Aufräumen dieses Durcheinanders, am Montag würde sie die neue Stelle antreten. Ihr neuer Posten als Hauptkommissarin. In Münster wollte sie nicht bleiben, nach der Trennung von Rüdiger. Sie war immer schon für einen klaren Schnitt, wenn es darum ging Altes hinter sich zu lassen. Alles andere schmerzte umso mehr. Sie wollte es so, um neu anzufangen. Enna wusste, sie konnte sich neu erfinden. Das ist ihr damals gelungen, und heute würde es wieder gelingen. Auch wenn es schwer fiel.

Sie hatte noch alle Zeit der Welt, um es sich hier gemütlich zu machen. Was das Einrichten betraf, stand sie nicht unter Druck, außer sie machte ihn sich selbst. Es gab niemanden, der sie antrieb, niemanden, dem sie es recht machen musste. Niemanden für den sie es schön machen konnte, nur sie selbst. Sie musste wieder an Rüdiger denken. Wenn sie an ihn dachte, hatte sie jedes Mal das Verlangen, ihm eine Kurznachricht zu schicken. Jedes Mal tat sie es dann doch nicht. Es war besser so.

Das war es also, ihr neues Zuhause. Sie ging zurück ins Wohnzimmer. Es roch immer noch nach Schweiß. Sie öffnete ein Fenster. Dann noch eines in der Küche. Sie atmete tief durch als wollte sie etwas herauslassen. Aber die Traurigkeit wollte nicht weichen. Etwas Neues würde beginnen, sie sollte nach vorne blicken. Doch es kam Enna Kolder so vor, als hätte sie in ihrem Leben gerade einen Schritt zurück gemacht.

#

Der Hunger hatte Enna fluchtartig aus dem Haus getrieben. Beim Durchfahren durch das Zentrum von Maarsum am Morgen hatte sie festgestellt, dass heute Wochenmarkt war. Gegen gedrückte Stimmung halfen als frische Lebensmittel vom Markt immer. Die Fahrt mit ihrem alten Golf in die Stadt war eine Reise in die Vergangenheit. Sie hatte sich nie Gedanken gemacht, wie ihre erste Begegnung mit Maarsum sein würde, nach der langen Zeit. Der Schock war groß. Und es war ernüchternd. Mit dem Wissen im Hinterkopf, dass sie hier nun eine Weile aushalten musste, empfand sie die Stadt als langweilig und spießig. Maarsum hielt in keinster Weise stand gegen das wunderschöne historische Münster mit dem Flair einer Studentenstadt. Ohne den Gedanken an eine Endgültigkeit hätte sie es als einen netten Ausflug empfunden, nun war es einfach nur trostlos. Irgendwann würde sie sich ein Fahrrad besorgen, wie früher. Und wie in Münster. Irgendwann, wenn sich alles eingespielt hatte.

Automatisch hatte sie ihr Handy an die Freisprechanlage angeschlossen. Als Kommissarin wollte sie erreichbar sein, auch wenn sie noch nicht im Dienst war. Wenn sie außer Dienst war, war ihr Handy die einzige Verbindung, die sie zu Rüdiger hatte. Rüdiger von Hatten, stellvertretender Polizeipräsident von Münster, ihr altes Leben. Attraktiv, zwölf Jahre älter als sie, zwei erwachsene Söhne und verheiratet. Sie wollte jetzt nicht an ihn denken, aber ihr Heimweh führte dazu, dass es ihr wieder nicht gelang, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen.

In Maarsum gab es wenig, an das sie sich noch erinnerte. Selbst für den Weg in die Stadt musste sie sich konzentrieren, um nicht falsch abzubiegen. Die Stadt hatte sich gewaltig verändert. Viele der alten Häuser waren neueren modernen Bürokomplexen und Geschäften gewichen. Sogar ein überdachtes Einkaufszentrum hatte man gebaut. Maarsum war nie eine reiche Stadt gewesen, aber alles war immer ordentlich und sauber, soweit sie sich zurückerinnern konnte, die Verkehrsinseln üppig bepflanzt, die Häuser renoviert. So war es immer noch. Wenigstens das hatte sich nicht geändert. Sie parkte auf dem Johannes-Kolbe-Platz, wie früher.

Als sie die Fußgängerzone betrat, fand sie eine Reihe neuer Läden und Cafés vor, dazwischen gab es nur wenige leerstehende Geschäfte. Hier fühlte sie sich etwas mehr zuhause. Die alten unter Denkmalschutz stehenden Fachwerkhäuser waren noch vorhanden, ebenso wie die zu ihrer Schulzeit gebaute Bücherei, damals hochmodern. Die wirkte nun ein wenig abgenutzt, aber immer noch einladend, mit ihren großen, mit bunten Plakaten beklebten Glasfronten im Eingangsbereich. Sie hatte schon lange keine Bücher mehr entliehen, auch in Münster nicht. Der Berufsalltag ließ ihr zum Lesen kaum Zeit. Wenn sie ein Buch lesen wollte, dann kaufte sie es sich. Der Gedanke ein einmal gelesenes Buch wieder ab geben zu müssen, hatte ihr noch nie behagt. Zumindest nicht bei Büchern, die sie mochte. Aber als Schülerin hatte sie als Tochter eines Werftarbeiters und einer Friseurin nicht das Geld, um sich alle Bücher, die sie lesen wollte, zu kaufen.

Der Springbrunnen in der Friesenstraße war immer noch da. Wie vor über zwanzig Jahren lief das Wasser kaskadenartig über die flachen alten Mühlsteine herab. Ebenso gab es die dazugehörige Sitzbank unter der riesigen alten Kastanie noch. Es sah alles genauso aus wie damals, als sie mit Leonard, ihrem ersten festen Freund, hier gesessen hatte, in den Sommerferien, ein Jahr vor dem Abitur. Er hatte sich auf der Bank ausgestreckt und seinen Kopf mit den krausen schwarzen Haaren auf ihre Beine gelegt. Dabei hatte er mit verträumtem Blick abwechselnd in ihr Gesicht und in die gewaltige Krone der Kastanie geblickt, während sie miteinander diskutierten. Der Baum musste inzwischen noch höher gewachsen sein, aber es fiel ihr nicht auf, denn schon damals kam er ihr gigantisch vor. Sie war glücklich gewesen. Das wusste sie auch noch.

Je weiter Enna in das Zentrum hinein ging, ein kurzer Fußmarsch vom Parkplatz, umso bekannter kam ihr alles vor. Der historische Ortskern war weitgehend unverändert und der Markt, der hier jeden Mittwoch und Samstag stattfand, schien immer noch derselbe zu sein, wie vor 25 Jahren. Es gab hier keine Marktcafés, wie sie es vom Wochenmarkt aus Münster kannte. Mit überdachten Stehtischen, an denen die Frühaufsteher oder Spät-zu-Bett-Geher ihre Brötchen mit einer unendlichen Auswahl an Käse-, Wurst- oder Frischkäsecremes belegen lassen konnten und dazu sämtliche italienischen Kaffeespezialitäten bestellen konnten. Oder eine heiße, würzige Suppe, um den Kater zu vertreiben. Auch gab es keine Töpferwaren-, Schmuck-, Kerzen- und Taschenstände, an denen Enna selten vorbei gehen konnte, ohne zu stöbern. Alles war in einem bescheidenen ländlichen Rahmen geblieben. Man promenierte hier nicht Hand in Hand. Man shoppte nicht. Man kaufte, was man am Wochenende benötigte. Käse, Schnitzel vom Bunten Bentheimer Schwein, Bio-Gemüse, fangfrische Scholle, importierte griechische Oliven und Blumen. Hier traf man sich, um den neuesten Tratsch mitzunehmen, den man dann beim Kaffeetrinken mit der Familie oder Freunden zum Besten geben konnte.

 

Hatte ihr die Erinnerung an Rüdiger gerade noch den Appetit verschlagen, so kam der Hunger schlagartig zurück, als sie die Marktstände sah. Sie kaufte frisches Olivenbaquette und Schafskäse beim Griechen, Äpfel, Möhren und Kartoffeln beim Bio-Bauern und ein Lachsfilet beim holländischen Fischhändler. Die Sonne brannte heiß um diese Tageszeit und sie war froh, dass sie sich beim Stand, der „Frische Landeier“ anbot, unter einer Markise in die Schlange stellen konnte. Nur noch die Eier, dann hätte sie das wichtigste, um das Wochenende zu überleben.

Es ging nur langsam voran. Enna erschrak, als ihr plötzlich von hinten jemand auf die Schulter tippte. Sie drehte sich abrupt um, schob ihre Sonnenbrille auf das dunkelblonde lange Haar und musterte die alte grauhaarige Frau, die sich hinter ihr eingereiht hatte. Sie musste sich fast hinunterbeugen, um ihr ins Gesicht zu sehen, obwohl sie mit einem Meter siebzig selbst nicht gerade groß war.

„Sie kommen mir bekannt vor!“ ließ die schmächtige alte Dame verlauten und schob die Unterlippe bedeutungsvoll nach vorne. Ihre Stimme war leise, aber resolut. Sie war von geringer Größe, aber nicht unauffällig, und trug ein kaftanähnliches Kleid, das aus vielen verschiedenen buntgestreiften Stoffquadraten zusammengesetzt war und von einem schmalen Ledergürtel gehalten wurde. Um den Hals trug sie mehrere dunkle Perlenketten und eine goldene Kette mit einem Medaillon. Auf den kurzen Pagenkopf hatte sie einen gelben Strohhut gesetzt, der mit einem farbigen Band und einer Kunstblume verziert war. Sie musste mindestens achtzig Jahre alt sein. Alles in allem war sie tadellos gekleidet, in ihrem bunten Hippie-Look. Enna kam sich neben ihr farblos vor, in ihrer dunkelblauen Jeans und dem hellgrauen T-Shirt.

„Ich wüsste nicht…“ begann sie.

„Doch. Ich kenne Sie.“, beharrte die Frau.

„Woher denn?“, fragte Enna. Die alte Dame zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß, wer Sie sind“, sagte sie nur.

„Und wer sind Sie?“

„Josefa Beckmann.“ Enna konnte mit dem Namen nicht viel anfangen. Beckmanns gab es in dieser Gegend viele und sie hatte keine Freunde oder Bekannten mit diesem Namen.

„Sie sind Enna.“ Die Alte schien ihr Wissen nur in Stakkato-ähnlichen Kurzsätzen preis zu geben. Enna war überrascht. Sie hatte die Frau noch nie gesehen.

„Und woher kennen wir uns?“

„Von der Schule“, sagte Sie dann langsam. Das machte keinen Sinn. Enna hatte ein gutes Gedächtnis. An einen solchen Paradiesvogel im Lehrerkollegium würde sie sich bestimmt erinnern. Sie erwartete, dass die Frau weitere Informationen preisgeben würde, doch dieser letzte Satz schien sie vorerst überfordert zu haben. Sie hatte nicht das Gefühl, dass diese Unterhaltung zu etwas führen würde. Josefa Beckmann schien durch Ennas Auftauchen auf eine merkwürdige Weise betroffen und Enna wollte nicht unfreundlich sein.

„Ich kenne hier jeden“, behauptete Frau Beckmann.

„Es tut mir leid, ich kenne Sie nicht. Oder zumindest kann ich mich nicht an Sie erinnern.“

„Ich habe auch Leonard gekannt.“ Die alte Frau Beckmann sah sie mit ihren wässrigen grau-blauen Augen an und lächelte. Dabei ragten ihre Schneidezähne etwas über ihre Unterlippe hervor.

„Leonard? Woher?“, fragte Enna, nun energischer. Doch sie antwortete nicht.

Leonard war tot. Natürlich war jeder im Ort entsetzt gewesen über den Unfall mit Fahrerflucht, der einen jungen Mann mit besten Zukunftsaussichten so früh aus dem Leben gerissen hatte. Jeder im Ort hatte von Leonard gewusst. Die Erinnerung an die Zeit nach seinem Tod kam hier, am Ort des Geschehens, wieder in ihr hoch. Sie war wie in Trance gewesen, hatte tagelang nicht mehr gegessen, tagelang geweint, bis keine Tränen mehr kamen.

Josefa Beckmann kam ihr vor wie eine Erscheinung. Der Blick aus ihren trüben Augen war starr, auf den Lippen stets der Anflug eines Lächelns, der Gesichtsausdruck undurchdringbar, die Stimme sanft. Sie bewegte sich mit einer für ihr Alter unglaublichen Eleganz, fast tänzelnd.

„Es ist was passiert“, teilte die alte Beckmann in ihrer verlangsamten Sprechweise mit. Es war, als ob ihr Kopf nicht mit dem was sie sagen wollte Schritt halten konnte. Enna war perplex. Sollte sie die alte Dame ernst nehmen, oder sprach da nur eine verwirrte alte Frau, die sich etwas zurechtfantasierte? War sie möglicherweise dement? Immerhin kannte sie ihren Namen. Und den von Leonard. Und das nach über zwanzig Jahren.

„Hören Sie, wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es bitte!“ Sie befahl es beinahe. Die alte Dame lächelte nur.

„Was darf’s sein?“ Die energische Stimme der Eierfrau. Enna drehte sich abrupt zu ihr um. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie inzwischen an der Reihe war.

„Zehn Bio-Eier bitte.“ Sie bezahlte und packte die Eier eilig in ihre Einkaufstasche. Dann dreht sie sich wieder zu der alten Dame um, doch sie blickte in die Augen eines jungen Mannes mit einem Kleinkind an der Hand. Die alte Beckmann war verschwunden.

#

Nachdem sie den Nachmittag mit dem Versuch das Umzugschaos zu beseitigen verbracht hatte, war sie am frühen Abend unter eine wechselwarme Dusche gesprungen. Nach Ausstoßen dutzender Flüche unterschiedlichster Art und Schwere, gelang es ihr endlich die passende Wassertemperatur einzustellen. Die Duschkabinenausstattung verfügte über keinen Thermostaten zum automatischen Einstellen der Wassertemperatur. Ein Fakt, den Enna so schnell wie möglich ändern würde.

Nach dem staubigen und schweißtreibenden Auspacken, Hin- und Herräumen, treppauf und treppab laufen, war das kühle Wasser belebend. Sie atmete tief durch und fühlte sich endlich ein wenig entspannt nach der Aufregung des Tages. Es war ihr nicht klar, was sie mehr gefordert hatte, der Umzug und die Tatsache, dass sie endlich Münster und ihrer unseligen Affäre den Rücken gekehrt hatte oder die Begegnung mit der alten Dame. Oder der Schock, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden.

Beim Gedanken an ihre Vergangenheit fiel ihr Anne wieder ein. Sie hatte vor einer Woche mit ihrer alten Schulfreundin telefoniert und ihr mitgeteilt, dass sie wieder in die Gegend ziehen würde. Sie hatten sich während Ennas Zeit in Münster hin und wieder getroffen. Zumindest so häufig, dass ihre Freundschaft nicht eingeschlafen war. Obwohl Enna nicht glaubte, dass das jemals geschehen könnte. Sie waren sich so vertraut, es spielte keine Rolle, wie oft und wie lange sie sich nicht gesehen hatten.

Zwischen den Treffen telefonierten sie hin und wieder und jedes Mal, wenn sie sich tatsächlich trafen, war es, als wenn sie sich gestern erst gesehen hatten. Es gab nie ein Gefühl der Verpflichtung zwischen ihnen oder des Sich-fremd-geworden-seins. Sie waren schon in ihrer Schulzeit unzertrennlich gewesen und sie führte das damals im Scherz darauf zurück, dass sie im Prinzip den gleichen Vornamen hatten. „Enna“ ergab rückwärts gelesen „Anne“. Und Anne war wie Enna, und doch auch anders. Sie hatten beide etwas Wildes, Unbändiges, einen Hang zu Verrücktheiten und ein ihnen eigenes, tiefes Verlangen nach Leben und Glück. Nur dass jeder dieses auf seine eigene Weise auslebte. Anne war ein Muttertier. Auch wenn sie es liebte auszugehen, und dieses meist in einer Aufmachung, die Starqualitäten hatte, und mit Enna liebend gerne nächtelang um die Häuser zog. Ihre eigentliche Bestimmung sah Anne darin, sich um ihren Mann Jan und ihre beiden Kinder zu kümmern. Enna hatte nie eine große Sehnsucht gehabt, Mutter zu werden. Sie hatte es nie ausgeschlossen und war dafür offen. Doch für dieses Vorhaben hatte ihr der richtige Partner gefehlt. Dieses gab sie stets als Begründung für ihre Kinderlosigkeit an. Heute, mit 43 Jahren war es für Kinder fast zu spät. Doch sie hatte nicht das Gefühl, etwas zu vermissen. Sie war in ihrer Arbeit zuhause.

Es schien, als würden die langen Pausen zwischen den Treffen mit Anne ihre Freundschaft noch vertiefen. Anne war begeistert über die Neuigkeit, Enna wieder in ihrer Nähe zu haben. Und Enna hatte versprochen, sich zu melden, sobald sie in Maarsum angekommen wäre. Sie trocknete sich hastig ab und warf sich einen Morgenmantel über. Dann wählte sie Annes Nummer. Während es klingelte, sah sie auf die Wanduhr, die sie, als allererste Handlung im neuen Haus, in ihrem Wohnzimmer aufgehängt hatte. Es war schon sechs. Ein Treffen mit Anne wäre genau das, was sie brauchte, aber sie bezweifelte, dass Anne so kurzfristig Zeit hatte. Ihre beiden Jungen, 10 und 13 Jahre, beanspruchten sie meistens um diese Zeit. Und Jan war Kapitän zur See und oft nicht zu Hause.