Schattenjagd

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„Winter, kommst du?“, rief Lucas plötzlich. Er stand bereits in der Tür zur Küche. Hinter ihm konnte ich eine leblose Gestalt auf dem Boden liegen sehen. Ich erkannte ihn an seinen dunklen Stiefeln, die er im Unterricht oft offen gelassen hatte, um besonders lässig zu wirken. Er trug die schwarze Lederjacke, die sein Haar und seine Augen noch heller erscheinen ließ. Nein, ich konnte ihm nicht ins Gesicht blicken. Ausgeschlossen!

Ich ging rückwärts, während Lucas mich besorgt ansah. „Was ist los?“

„Ich kann das nicht“, stammelte ich. „Ich kann ihn nicht ansehen!“

Lucas war rasch bei mir, hielt mich an den Armen fest. „Beruhige dich! Du musst uns nicht helfen. Wir schaffen das auch alleine. Setz dich in den Pick-up und warte dort auf uns. Dreh die Musik voll auf, wenn es dir hilft.“ Er gab mir den Autoschlüssel in die Hand. Ich sah zu ihm auf und er drückte mich an sich, streichelte mir übers Haar. Seine Nähe vertrieb die Kälte in mir. Wir lösten uns voneinander und ich lief, ohne mich noch einmal umzudrehen, aus dem Anwesen und schloss mich im Pick-up ein.

Eine gefühlte Ewigkeit später kamen Lucas und Mona zurück. Sie hatte geweint und wirkte noch zittriger als sonst. Sie ließ sich wortlos neben mich auf die Bank gleiten, während Lucas den Motor startete. Die ganze Fahrt über sagten wir nicht ein Wort. Als wir Slade’s Castle erreichten, sprang Mona ungehalten aus dem Wagen und rannte ins Haus. Ich wollte ihr nach, doch Lucas hielt mich zurück. Seine Hand lag auf meiner. „Warte!“

Ich sah ihn überrascht an. Meine Haut begann zu kribbeln und mein Herz zu klopfen. Lucas zog seine Hand zurück und sah mich ernst an.

„Es tut mir leid, dass ich nicht ehrlich zu dir war. Ich habe dir nie bewusst etwas vormachen wollen. Ich habe mir wirklich gewünscht, dass das mit uns funktioniert. Ich mag dich sehr gern. Du bist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben und ich vermisse dich jeden Tag! Es tut mir weh, dich leiden zu sehen und ich wünsche mir, dass wir irgendwann wieder Freunde sein können. Aber ich weiß, dass das jetzt noch nicht möglich ist.“

Ich senkte den Blick und sah auf meine Hände. Lucas fehlte mir nicht nur als mein fester Freund, sondern vor allem auch als mein bester Freund. Ich hatte meine ganze Freizeit immer mit ihm verbracht. Er kannte mich besser als jeder andere.

„Winter, ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst.“ Das hatte er heute bewiesen.

„Ich weiß“, sagte ich kleinlaut. Dann sah ich ihn an. „Ich wünsche dir, dass du glücklich wirst.“ Es fiel mir schwer, die Worte auszusprechen, da sie indirekt Eliza mit einbezogen. Sie hatte ihn nicht verdient! Aber was machte das schon, wenn sie die Einzige war, die Lucas wollte. Ich liebte ihn zu sehr, um ihm etwas Schlechtes wünschen zu können. Doch er konnte nicht von mir erwarten, dass ich dabei zusah, wie er sich mit Eliza ins Unglück stürzte. Ich würde nichts dagegen unternehmen, sondern versuchen, wegzusehen. Meine Augen davor verschließen, so lange, bis es weniger wehtat – wann immer das auch sein mochte.

3. Eliza

Ich stand am Fenster und sah auf den Pick-up hinunter, in dem Winter und Lucas saßen. Ihre Vertrautheit war deutlich. Meine Schwester sehnte sich so sehr nach ihm und auch Lucas schien sie alles andere als egal zu sein. Zum ersten Mal empfand ich so etwas wie Eifersucht. Mein Herz zog sich zusammen, wenn ich die beiden so eng beieinander sah und ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie es sich für Winter angefühlt haben musste, als sie mich gesehen hatte, wie ich Lucas küsste. Es spielte keine Rolle, wer von uns beiden den ersten Schritt gemacht hatte, der Kuss war passiert und Winters Herz damit gebrochen. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es tun. Nicht nur um ein paar Wochen, sondern um mindestens ein Jahr. Ich wusste noch genau, wann mein Leben anfing, aus dem Ruder zu laufen, auch wenn ich mir die meiste Zeit verbot daran zu denken. Danach ging es immer weiter bergab. Alles war mir wie eine große Lüge erschienen und ich hatte ausbrechen wollen. Etwas Großartiges erleben. Ein Abenteuer. Frei und ungebunden sein. Tun, was mir gefällt, ganz egal, was andere von mir erwarten. Wer braucht schon Schule?! Was interessiert mich meine Zukunft?! Ich will leben und zwar JETZT!

Das waren meine damaligen Gedanken gewesen. Wenn ich heute an sie zurückdachte, schämte ich mich dafür. Ich war egoistisch gewesen und hatte nie an andere gedacht. Nicht einmal an meine eigene Familie. Sie waren immer verständnisvoll gewesen und hatten mir meine Freiheiten gelassen, sodass ich nicht geglaubt hatte, dass ich Rücksicht auf sie nehmen müsste. Meine Eltern hatten doch Winter, die Mustertochter. Wofür brauchten sie dann noch mich? Egal, wie sehr ich mich auch bemüht hätte, ich wäre nie so gut wie Winter gewesen. Warum es dann überhaupt versuchen? Ich war nicht eifersüchtig auf sie, dafür liebte ich meine kleine Schwester viel zu sehr. Aber dadurch, dass Winter so vollkommen war, gab es für mich keinen Grund, mir Mühe geben zu müssen. Winter würde sich schon um alles kümmern.

Ich war eine miserable Schwester! Durch die Erkenntnis spürte ich erneut den Drang in mir, wegzulaufen und dieses Mal nicht zurückzukommen, aber ich kämpfte dagegen an. Ich hatte versprochen, mich zu bessern.

Die Schatten zogen an mir, wie immer, wenn ich innerlich aufgewühlt war. Ich ließ den Rollladen herunter und öffnete das Fenster einen Spalt, dann legte ich mich in mein Bett und zog mir die Decke bis zum Hals. Aus dem Badezimmer drang das Geräusch der Dusche. In etwa zehn Minuten wäre Mona fertig und würde so leise wie ein Geist in das Zimmer getappt kommen und sich unter ihrer Bettdecke verstecken. Der Regen schlug leise gegen das Fenster. Ich sah auf die digitale Uhr auf meinem Nachttisch: 20.36 Uhr. Nicht einmal neun Uhr. Vor einem halben Jahr wäre ich erst jetzt aufgestanden, um bis zum nächsten Morgen die Nacht in einer Kneipe, einem Club oder bei jemand anderem zu Hause zu verbringen. Es wäre Alkohol geflossen, der eine oder andere Joint hätte die Runde gemacht und vielleicht wären auch ein paar Pillen in meinen Mund gewandert. Ich hätte auf dem Tisch getanzt, mich an Männern gerieben, deren Namen ich nicht kannte und mich auch nicht interessierten. So sehr ich dieses Bild von mir verabscheute, sehnte ich mich nach dieser Unbeschwertheit. Zu dieser Zeit war mein Kopf nie klar genug gewesen, um mir Sorgen machen zu können. Ich hatte für den Moment gelebt und alles andere war mir egal gewesen.

Die Tür öffnete sich leise und Mona trat ein. Sie legte sich ruhig auf ihr Gästebett. Ich wusste, dass sie lange brauchte, um Schlaf zu finden, aber sie gab nie irgendein Geräusch von sich. Erst wenn sie schreiend aufwachte, wusste ich, dass sie überhaupt geschlafen hatte. Ich drehte ihr den Rücken zu und schloss die Augen. Mein Leben fühlte sich schwer an. Wie sollte ich jemals damit zurecht kommen? Würde Winter je aufhören, mich zu hassen? Ich dachte an Lucas und seine Augen, mit denen er mich immer ansah, als sei ich der tollste und einzigartigste Mensch auf der Welt. Nicht einmal ich konnte übersehen, wie sehr er mich liebte. Er wollte immer nur das Beste für mich und sah auch immer nur das Beste in mir. Aber sah er wirklich mich? Ich war alles andere als gut. Ich stellte mir vor, er wäre hier und würde mir direkt gegenüberliegen. Seine Hand würde meine finden und festhalten. Seine Haut wäre warm und tröstlich. Ich könnte meinen Kopf an seine Schulter schmiegen und er würde mir über den Rücken streicheln. Ich würde meinen Kopf seinem Gesicht entgegenheben und unsere Lippen würden sich zu einem Kuss verschließen. Ich sehnte mich danach, ihm nah zu sein. Wenn wir eins wurden, würde er vielleicht die schlechten Seiten in mir auslöschen. Aber ich konnte mich ihm nicht öffnen. Ich würde Winter verlieren. Für immer. Meine kleine Schwester. Mein Herz.

Mrs. Murphy saß an ihrem Pult und las in der Zeitung, während wir die Aufgabe hatten, ein Stillleben zu zeichnen. Kunst gehörte zu den vielen Dingen, in denen Winter mit Abstand besser war als ich. Selbst von der anderen Seite des Raums aus, konnte ich sehen, wie ihre Zeichnung Gestalt annahm. Noch beeindruckender war allerdings das Werk ihrer Freundin Dairine. Sie schien beinahe fertig zu sein, während sich auf meinem Blatt nur ein paar Striche und Kreise befanden. Monas Blatt hingegen glich einem schwarzen Loch. Ihr ganzes Papier war bereits schwarz angemalt und trotzdem hörte sie nicht auf, ihren Pinsel in die schwarze Farbe zu tunken. Dairine sagt etwas zu Winter und die beiden lachten. Ich wollte zu ihnen gehören, wollte ebenfalls mit einer Freundin über etwas lachen können. Es war lange her, dass ich eine Freundin gehabt hatte. Ein Mädchen, mit dem ich meine Geheimnisse teilen konnte. Kylie hatte sich bereits vor Jahren von mir abgewandt, zurecht. Jetzt war sie tot. Liam hatte sie umgebracht.

Ich blickte wieder auf das Blatt vor mir und versuchte, den krummen Kreis in einen Apfel zu verwandeln, als plötzlich zwei Mädchen an meinem Tisch vorbeigingen. Wie zufällig, stießen sie dagegen und kippten unachtsam den Becher mit dem Wasser über meiner Zeichnung aus.

„Oh, das tut mir leid“, rief die eine aus und legte sich bestürzt die Hand vor den Mund. Doch ihre Augen verrieten sie. Es tat ihr nicht leid. Sie hatte es mit Absicht getan.

Die andere heuchelte: „Das schöne Bild!“

Wir wussten alle drei, dass es schlecht gewesen war. Ich atmete tief durch und versuchte, die Ruhe zu bewahren. Wenigstens würde ich jetzt für meine schlechte Zeichnung nicht auch noch eine schlechte Note kassieren. Im Grunde hatten sie mir also sogar einen Gefallen getan.

Ich stand wortlos auf, ging zum Waschbecken und holte mir einen Lappen, um das Wasser aufzuwischen. Als ich mich bückte, ging eines der Mädchen ebenfalls neben mir zu Boden. „Ich helfe dir“, flötete sie, doch als wir auf einer Höhe waren, zischte sie: „Mörderin!“

 

Ich sah erschrocken auf, blickte in ihr feindselige zusammengekniffenen Augen und warf ihr den nassen Lappen ins Gesicht. Sie schrie auf und verpasste mir eine Ohrfeige. Ich wehrte mich, schlug zurück, riss an ihren Haaren. Mrs. Murphy rief, dass wir aufhören sollten, doch wir reagierten beide nicht. „Du hast Alannah umgebracht!“, jaulte das Mädchen, doch plötzlich wurde sie zur Seite gestoßen und Winter stürzte sich auf mich. Ich knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden und für einen kurzen Moment wurde alles um mich herum schwarz, bevor ich spürte, wie mir die Luft abgeschnürt wurde. Ich riss panisch die Augen auf und sah in das hassverzerrte Gesicht meiner Schwester. Ihre Augen waren dunkle Schlitze und ihr Mund wütend zusammengepresst. Ihre Hände lagen um meinen Hals und drückten zu.

Nein!

Was tat sie nur?

Wollte sie mich wirklich umbringen?

„Winter“, krächzte ich und versuchte, ihre Hände von meinem Hals zu lösen. Jungs aus unserem Kurs kamen mir zur Hilfe geeilt und versuchten, Winter von mir zu lösen. Sie zogen an ihr, schrien sie an, aber sie reagierte nicht. Erst zu dritt schafften sie es, sie von mir runterzuholen. Ich fasste mir weinend an den Hals und rang nach Atem. Mrs. Murphy und die anderen Schüler sahen entsetzt zwischen mir und Winter hin und her. Wir waren Schwestern und trotzdem war sie wie eine Furie auf mich losgegangen. Dairine und Mona standen am anderen Ende des Raumes, nahe bei der Tür. Sie sahen beide geschockt aus, als sich die Tür öffnete und Schuldirektor Sutherland eintrat. Bei ihm waren zwei Männer der Schulsicherheit, die nur im schlimmsten Notfall zum Einsatz kamen. Normalerweise bewachten sie lediglich den Lehrerparkplatz.

Er sah mich wütend an. „Ab in mein Büro!“

Dann wandte er sich an das Sicherheitspersonal. „Helft doch bitte Miss Rice den Weg in mein Büro zu finden!“ Damit meinte er jedoch nicht mich, sondern Winter, die mittlerweile jede Gegenwehr aufgegeben hatte. Ich folgte dem Direktor mit hängendem Kopf aus dem Raum.

„Eure Eltern sind bereits informiert, genau wie die Polizei. Was ist nur in euch gefahren?“

Ich zuckte mit den Schultern, denn ich wollte meine Schwester nicht belasten.

Während die Männer von der Schulsicherheit mit Winter vor der Tür des Direktors auf das Eintreffen der Polizei warten würden, führte mich Mr. Sutherland in sein Büro und wies mich an, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er musterte mich ernst.

„Eliza, ich kenne dich und deine Schwester nun schon viele Jahre. Ich habe euch aufwachsen sehen und weiß, dass ihr noch nie ein enges Verhältnis miteinander hattet. Aber ich habe euch nie gewalttätig erlebt, vor allem nicht Winter. Sie war immer ein ruhiges Mädchen, gut in der Schule, aufmerksam. Was ist bei euch zu Hause los? Gibt es irgendwelche Probleme?“

Ich sah zu Boden. „Ich bin das Problem.“

„Nein! Mrs. Murphy hat mir erzählt, was im Kunstunterricht passiert ist. Sie sagte, du hättest Streit gehabt mit einer Mitschülerin, woraufhin Winter auf dich losgegangen sei. Ich habe auch von dem Vorfall in der Cafeteria gehört, wollte mich aber nicht in eure Angelegenheiten einmischen. Aber heute ist deine Schwester zu weit gegangen. Ich kann ihren Handabdruck immer noch an deinem Hals sehen.“

„Ich habe ihr den Freund ausgespannt“, erwiderte ich kleinlaut.

„Das ist kein Grund, auf seine Schwester derart loszugehen! Ich werde deinen Eltern raten, für euch beide psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Außerdem werde ich deinen Stundenplan ändern, sodass du keinen Unterricht mehr mit deiner Schwester zusammen haben wirst.“

Dazu sagte ich nichts. Ich wusste, dass es am besten war, wenn Winter und ich uns so wenig wie möglich begegneten, aber ich hatte mich gefreut, in ihren Kursen zu sein. Es reichte, dass ich das Schuljahr wiederholen musste, aber nun war ich wirklich ganz allein. Es klopfte an der Tür.

„Direktor Sutherland, die Polizei ist da.“

Mr. Sutherland stand auf und reichte mir die Hand. „Warte bitte vor der Tür, bis eure Eltern eintreffen.“

Ich nickte niedergeschlagen und ging hinaus, dabei wagte ich es nicht einmal, Winter anzusehen. Die Tür schloss sich und ich stand alleine auf dem Flur. Tränen liefen mir haltlos übers Gesicht. Was sollte ich nur Mum und Dad sagen? Ich würde niemals zugeben, dass Winter versucht hatte, mich umzubringen. Doch das brauchte ich gar nicht. Mr. Sutherland würde es ihnen schon berichten. Obwohl Winter auf mich losgegangen war, fühlte ich mich schuldig. Ich zerstörte das Leben meiner kleinen Schwester. Die Schatten rissen an jeder Faser meines Körpers und ich gab ihnen nach. Sie umschlossen mich, drangen in meinen Geist und ließen mich verschwinden.

Als ich wieder zu mir kam, wusste ich nicht, wo ich war. Es sah nach einem Hinterhof aus und es regnete in Strömen. Langsam kamen die Erinnerungen an den Vorfall in der Schule zurück. Mein Magen krampfte sich zusammen. Vorsichtig trat ich durch ein Tor und fand mich auf einer der Hafenstraßen wieder. Ich war beim Black Pearl, meiner ehemaligen Stammkneipe, gelandet. Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Der Himmel war grau und düster, aber das hatte nichts zu heißen. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und betrat die Kneipe. Leise Musik spielte im Hintergrund und die ersten Gäste hatten bereits die Theke in Beschlag genommen, trotzdem entdeckte mich der Wirt sofort und winkte mir zu.

„Eliza-Schätzchen, wie lange ist es her, dass du bei mir warst?! Monate oder gar Jahre?“

„Übertreib mal nicht“, tadelte ich ihn scherzhaft. „Wie viel Uhr haben wir?“

Der Wirt brach in schallendes Gelächter aus. „Und immer noch die Alte! Wo bist du gewesen?“

Ich hatte keine Lust, mit ihm zu plaudern oder mich auf ein Getränk einladen zu lassen. Diese Zeiten langen nun hinter mir. „Es ist mir ernst, wie spät ist es?“

Er deutete wortlos auf eine Uhr, die über dem Regal mit den Schnapsflaschen hing. Sie zeigte 18 Uhr. Der Vorfall in der Schule hatte sich gegen 11 Uhr ereignet. Ich war sieben Stunden in meiner Schattengestalt verschwunden gewesen! So lange hatte es noch nie angedauert! Was würden meine Eltern jetzt nur denken? Und Winter?

„Du bist etwas früh dran und machst einen verwirrten Eindruck“, sagte der Wirt. „Darf ich dich auf ein Getränk einladen?“

Ich stellte erleichtert fest, dass mein Handy in der Jackentasche des Schulblazers steckte und zog es hervor. Ohne zu zögern, wählte ich Lucas’ Nummer. Er nahm nach dem zweiten Klingeln bereits ab.

„Eliza?!“, fragte er atemlos.

„Ja, ich bin es. Kannst du mich bitte abholen? Ich bin im Black Pearl an der Hafenstraße. Bitte beeil dich!“

„Ich fahre sofort los. Warte da auf mich!“

Als ich das Handy wegsteckte, musterte mich der Wirt neugierig. „Geht es dir nicht gut?“

„Steht dein Angebot wegen dem Getränk noch?“

„Na klar, Schätzchen. Das Übliche?“

„Nein, ich möchte bitte einen Kaffee, geht das?“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Du und Kaffee? Das ich das noch erleben darf! Aber klar, Prinzessin, dein Wunsch ist mir Befehl. Wie trinkst du ihn?“

Ich lächelte ihn dankbar an. „Viel Milch, viel Zucker und nur wenig Kaffee.“

Der Wirt kicherte. „Kommt sofort, mein Kätzchen.“

Seine Kosenamen brachten mich immer wieder zum Lachen. Der Wirt war zu alt, um es als Anmache anzusehen. Er erfreute sich lediglich an meinem jugendlichen Charme. Er hatte mich schon mehr als einmal meinen Rausch in seinem Büro ausschlafen lassen, wenn ich es mal wieder mit dem Alkohol übertrieben hatte.

Lucas war zwanzig Minuten später da. Er musste gerast sein. Trotzdem war ich froh, ihn zu sehen und verließ mit ihm eilig das Lokal. Wir stiegen in den Pick-up und fuhren los.

„Wo warst du?“, fragte er schließlich. „Deine Eltern sind krank vor Sorge und ich auch! Was ist heute Morgen passiert? Stimmt es, dass Winter versucht hat, dich umzubringen?“

Ich seufzte. „Eins nach dem anderen, ja? Ich war in meiner Schattengestalt unterwegs.“

„Seit wann?“, fiel mir Lucas ungehalten ins Wort.

„Seit heute Morgen“, gestand ich. „Ich habe jede Kontrolle verloren, nach dem, was mit Winter vorgefallen ist. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist, aber ich bin mir sicher, dass sie mich nicht umbringen wollte. Das würde sie niemals tun!“

„Was wollte sie dann?“

„Sie war völlig außer sich. Ich glaube nicht, dass sie wirklich wusste, was sie tat.“

„Die Polizei sucht nach dir. Detektive Windows wartet bei euch zu Hause auf dich.“

„Die hat mir gerade noch gefehlt“, knurrte ich genervt.

„Soll ich dich irgendwo anders hinfahren?“

Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich muss früher oder später mit ihr reden. Außerdem will ich zu Winter.“

„Ich glaube nicht, dass sie dich sehen will.“

Vermutlich hatte er sogar recht, aber ich wollte ihr sagen, dass ich es ihr nicht übel nahm, dass ich ihr verzieh und immer für sie da sein würde. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie liebte und mir nichts mehr wünschte, als mich wieder mit ihr zu vertragen.

Nachdem Detektive Windows unser Haus verlassen hatte, stand ich vom Esstisch auf und streckte mich. Das Verhör war anstrengend gewesen. Warum hat deine Schwester versucht, dich umzubringen? Weißt du etwas über den Verbleib des Musiklehrers Mr. Dearing? Warum hattest du Streit mit deinen Mitschülerinnen?

Die Fragen waren ermüdend, da ich entweder selbst keine Antwort auf sie wusste oder nur immer wieder meine Aussage wiederholen konnte. Ich kenne Mr. Dearing von früher, habe aber nicht einmal gewusst, dass er in Wexford war. Nein, ich weiß nicht, wo er ist!

Ich schlenderte zur Tür, um zu Bett zu gehen.

„Halt! Nicht so schnell!“, rief mein Vater und stand von der Couch auf. „Wir sind noch nicht fertig!“

Ich verdrehte genervt die Augen, bevor ich mich ihm zuwandte. „Was ist denn noch?“

Ein wütender Ausdruck lag auf seinem Gesicht, wie schon lange nicht mehr. „Warum bist du in der Schule abgehauen? Warum hast du nicht gewartet, so wie Mr. Sutherland es dir aufgetragen hat?“

„Ich war völlig fertig wegen Winter! Ich brauchte frische Luft“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Dad deutete auf den Stuhl, den ich gerade erst verlassen hatte. Offenbar stand mir ein zweites Verhör bevor. Ich nahm Platz und sah ihn herausfordernd an. „Ich bin wirklich müde, Dad.“

Mum stellte sich nun ebenfalls zu Dad. „Wo warst du den ganzen Tag, Eliza?“

Sie setzten sich mir gegenüber.

„Spazieren!“

„Du lügst uns an“, sagte sie ernst. „Deine Schwester ist nicht mehr sie selbst, seitdem sie mit dir weg war. Wo wart ihr wirklich?“

„Darüber will ich nicht reden!“ Ich sah auf meine Hände. Sie glaubten anscheinend, dass ich mit Winter einen Ausflug gemacht hatte. Das war besser, als wenn sie wüssten, dass Winter erst entführt worden war und dann ihren Entführer, in den sie sich verliebt hatte, erstochen hatte.

Dad schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Es reicht mir! Wir haben dir Zeit gelassen. Wir hatten Geduld, aber jetzt ist Schluss. Wir konnten gerade noch verhindern, dass die Polizei Winter in eine psychiatrische Klinik zwangseinweisen lässt. Was ist vorgefallen? Warum hasst dich deine Schwester so sehr, dass sie nicht einmal davor zurückschreckt, dich zu erwürgen? Und komm mir jetzt nicht mit Lucas!“

„Warum fragt ihr nicht Winter selbst, warum sie mich so hasst?“, schrie ich verzweifelt zurück. „Ich wüsste es auch gern!“

„Ich frage dich jetzt ein letztes Mal, wo wart ihr?“

„In Waterford!“ Es war am besten, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.

„Was habt ihr da gemacht?“

„Wir waren auf einer Party!“

„Eine Woche lang?! Du lügst doch schon wieder! Hältst du uns für bescheuert?!“

„Wir haben bei einem Freund von mir geschlafen.“

Mum schüttelte energisch den Kopf. „Das passt nicht zu deiner Schwester. So etwas würde sie nicht tun. Hast du ihr Drogen gegeben?“

„Nein!“, rief ich empört und verletzt zugleich. Meine Eltern hielten mich offenbar ebenfalls für ein verantwortungsloses, egoistisches Miststück. „Das würde ich niemals tun.“

Mums Blick wurde etwas weicher. Sie streckte ihre Hand über den Tisch zu mir aus. „Ich weiß, entschuldige. Wir erkennen deine Schwester nur einfach nicht mehr wieder. Wir werden eine Familientherapie machen. Anders wissen wir uns nicht mehr zu helfen.“

 

Ich nickte einsichtig, auch wenn ich nicht wusste, was ich von der Idee halten sollte. „Wie geht es Winter jetzt?“

„Sie ist sehr ruhig, redet kaum.“ Mums Lippen begannen zu zittern, gleich würden die ersten Tränen fließen. Diesen Anblick konnte ich nicht ertragen. „Darf ich jetzt ins Bett gehen?“

„Ja“, antwortete Dad knapp. „Gute Nacht, Eliza!“

Ich schlich an ihnen vorbei aus dem Esszimmer. Erst als ich auf der untersten Treppenstufe stand, dachte ich daran, dass Mona in unserem Zimmer auf mich warten würde. Ich konnte im Moment ihre Gesellschaft nicht gebrauchen, auch wenn Mona so leise war, dass man sie kaum wahrnahm. Entschlossen ging ich zurück und zog mir meine Schuhe wieder an.

„Ich bin bei Lucas!“, rief ich hastig und rannte aus dem Haus, bevor meine Eltern mich hätten hindern können. So konnten sie mir immerhin nicht vorwerfen, dass ich ihnen nicht Bescheid gesagt hätte. Anstatt über die Tür das Haus der Rileys zu betreten, ging ich hinten herum und hielt vor Lucas’ Fenster im ersten Stock an. Es hatte aufgehört, zu regnen, aber der Boden war noch feucht. Ich warf kleine Steinchen gegen die Fensterscheibe, bis Lucas es öffnete.

„Darf ich hochkommen?“

„Warum kommst du nicht durch die Tür herein wie jeder normale Mensch?“

„Ich bin kein normaler Mensch!“, erinnerte ich ihn grinsend. Es war mir schon immer leicht gefallen, meine wahren Gefühle mit Scherzen zu überspielen. Jedoch fühlte ich mich nicht stark genug, um die Schatten von mir Besitz ergreifen zu lassen. „Kommst du runter und öffnest mir?“

„Ich bin gleich bei dir“, seufzte er und schloss das Fenster. Ich ging wieder um das Haus herum und als ich die Tür erreichte, stand Lucas bereits wartend in ihr. Offenbar war er schon im Bett gewesen, denn er trug nur ein weißes T-Shirt und seine kurzen Boxershorts. Ich zwinkerte ihm zu, als ich an ihm vorbei in den Flur trat. „Heißes Outfit!“

Lucas tat, als hätte er es nicht gehört. „Brauchst du etwas?“

„Deshalb bin ich hier.“

„Komm, wir gehen in mein Zimmer.“

Ich konnte immer auf ihn zählen. Er wusste, was ich brauchte, noch bevor ich es selbst wusste. Ich ließ mich auf sein Bett fallen und starrte zur Decke. Er ließ sich neben mich sinken und sah mich prüfend an. „Wie geht es Winter?“

Ich hatte keine Lust, über meine Schwester zu reden. Winter war ein Wrack und das war meine Schuld. Wenn ich einen Weg gekannt hätte, um ihr zu helfen, wäre ich ihn bereits gegangen. Ich würde vor nichts zurückschrecken, wenn es mir meine Schwester zurückbringen würde.

„Kann ich einfach von dir trinken?“, fragte ich stattdessen. Er musterte mein Gesicht und nickte schließlich. „So etwas wie heute darf nicht noch einmal passieren. Es kann nicht gesund sein, wenn du dich den ganzen Tag in den Schatten aufhältst. Ich habe Angst, dich an sie zu verlieren.“

„Das passiert schon nicht. Wahrscheinlich lag es an dem vielen Stress.“

„Du musst öfter von mir trinken. Regelmäßig und nicht nur, wenn du bereits halb verdurstet bist.“

Ich drückte ihn sanft aufs Bett, beugte mich über ihn und sah ihm in die Augen. Seine Gefühle flossen von selbst zu mir rüber. Sorge lag in ihnen. Doch je mehr ich von ihm trank, umso deutlicher wurde ein anderes Gefühl: Verlangen. Lucas wollte mich berühren, wagte es aber nicht. Ich wurde mir der Situation bewusst, in der wir uns befanden. Wir lagen eng aneinander auf seinem Bett. Meine Lippen waren nur Zentimeter von seinen entfernt und meine Hüfte drückte sich bereits gegen seine. Ich ließ mich zu ihm herabsinken, gab mich unser beider Verlangen hin und küsste ihn. Seine Gefühle flossen weiter zu mir über, doch er hob seinen Arm und legte ihn um mich. Meine Zunge tastete sich gierig vorwärts und meine Hand glitt unter sein T-Shirt. Er knöpfte mir die Bluse der Schuluniform auf, die ich noch immer trug. Danach wanderten seine Hände meine nackten Oberschenkel entlang, während ich mich auf ihn setzte und ihm sein Oberteil über den Kopf zog. Meine Haut lag nackt an seiner. Mir wurde heiß und ich genoss jede seiner Berührungen. Unsere Gefühle verbanden sich miteinander, verschmolzen zu einer Masse.

„Ich liebe dich, Eliza“, keuchte er mir ins Ohr und ich sah zu ihm runter. Lucas, der mich begehrte. Lucas, dem ich wichtiger war als alles andere. Lucas, dem ich nicht gerecht werden könnte. Ich zog mich von ihm zurück. Ich konnte ihm nicht sagen, dass es mir genauso ging. Ich liebte ihn, aber ich wusste nicht, ob das reichen würde. Ich hatte ihn schon immer geliebt, als Freund. Er war mehr für mich als das, aber vielleicht trotzdem nicht genug.

Ich stieg in meine Schuhe und streifte mir die Bluse über. Lucas hielt meine Hand fest und sah mich verletzt an. „Bedeute ich dir gar nichts?“

Ich schüttelte ihn ab. „Du bist mir wichtig, aber nicht wichtiger als meine Schwester. Tut mir leid, Lucas.“

Nachdem ich von ihm getrunken hatte, fühlte ich mich stark genug, gegen die Schatten anzukämpfen. Ich ließ sie übernehmen, löste mich vor seinen Augen in Finsternis auf und glitt geräuschlos aus dem Haus. Erst in meinem Zimmer materialisierte ich mich wieder. Mona schlief bereits und ich krabbelte schnell in mein Bett. Was hatte ich nur getan? Warum hatte ich Lucas geküsst? Winter hasste mich so sehr, dass sie mich umbringen wollte und trotzdem schreckte ich nicht davor zurück, ihren Exfreund zu küssen. Mein Handy vibrierte auf dem Boden. Bestimmt Lucas, der mir sagen wollte, wie sehr ich ihn verletzt hatte. Ich fummelte das Gerät trotzdem aus meiner Jacke, die ich unachtsam vor meinem Bett hatte fallen lassen. Auf dem Display stand: Will.

Neugierig öffnete ich die Nachricht.

Ich hatte gehofft, dass du dich bei mir meldest würdest, aber ich kann nicht länger warten. Wollen wir mal einen Kaffee trinken gehen?

Bis bald, Will