Literarische Dimensionen der Menschenwürde

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Literarische Dimensionen der Menschenwürde
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Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde

Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0054-6

Inhalt

  Vorwort

  Prolog: Die Menschenwürde als ästhetisches Problem – Ferdinand von Schirachs Terror (2015)

 A. EinleitungI. Menschenwürde – Annäherung an einen unscharfen BegriffII. Facetten des MenschenwürdebegriffsIII. Menschenwürde als ästhetisches Problem – Zu Vorgehen, Korpus und ErkenntniszielIV. Terminologische ZwischenbemerkungenV. Menschenwürde und die Schöne Literatur – Forschungsüberblick

 B. Literarische Dimensionen der Menschenwürde: Exemplarische AnalysenI. „Was sich vor mich nicht schickt, das werd ich auch nicht tun“ – Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732)I.1. Gottscheds akademische Reden über den MenschenI.2. Exkurs I: Die Menschenwürde in den moralischen Wochenschriften der AufklärungI.3. Exkurs II: Die Ständeklausel – kontingente Würde als problematische Voraussetzung für TragödienfähigkeitI.4. Sterbender CatoI.5. Dimensionen der Menschenwürde bei GottschedII. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts und als Auftrag der Literatur (1750–1810)II.1. Friedrich Schiller: Die Künstler (1789)II.2. Die Menschenwürde im 18. Jahrhundert zwischen Philosophie, Anthropologie und LiteraturII.3. Lessings Poetik der Identifikation und des MitleidsII.4. Menschenwürde, Sinnlichkeit und Tat bei J.M.R. LenzII.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp MoritzII.6. Dimensionen der Menschenwürde bei SchillerII.7. Ausblick: Die Menschenwürde bei GoetheIII. „Sage mir Bruder, hältst du deine Sklaven für Menschen?“ – Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794)III.1. Bemerkungen zu Vorbericht und QuellenIII.2. Die diskursive Begründung der Menschenwürde in Dialogen der Figuren William und JohnIII.3. Die literarische Konstitution von MenschenwürdeIII.4. Menschenwürdeverletzungen und MenschenrechteIII.5. Kindsmord und Freitod als dramatische Prüfsteine der MenschenwürdeIII.6. ProblematisierungenIII.7. Dimensionen der Menschenwürde in Kotzebues Die NegersklavenIV. Die Menschenwürde im Werk Georg BüchnersIV.1. Die Menschenwürde in Büchners Schulschriften und -reden über den FreitodIV.2. Die verletzte Menschenwürde – Der Hessische Landbote (1834)IV.3. „Man muß die Menschheit lieben“ – Die literarische Konstitution von Menschenwürde im Lenz (1835/39)IV.4. „Bin ich ein Mensch?“ – Grenzprobleme im Woyzeck (1836/37)IV.5. Dimensionen der Menschenwürde bei BüchnerV. Die Menschenwürde und die Literatur des NaturalismusV.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde für die Literatur des NaturalismusV.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen NaturalismusV.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des NaturalismusVI. Die Menschenwürde und die Literatur des ExpressionismusVI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde im ExpressionismusVI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des ExpressionismusVI.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des ExpressionismusVII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und HolocaustVII.1. VorbemerkungenVII.2. TextanalysenVII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution – Bertolt Brecht, Arthur Koestler und Heiner MüllerVII.4. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur über den NationalsozialismusVIII. Die Ästhetik der Entwürdigung und der Würdelosigkeit: Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede JelineksVIII.1. Jelineks EssayistikVIII.2. Die Klavierspielerin (1983)VIII.3. Lust (1989)VIII.4. Über Tiere (2007)VIII.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Jelinek

  C. Zusammenschau: Literarische Dimensionen der Menschenwürde – Zehn Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur

 D. Siglen und LiteraturverzeichnisI. SiglenII. PrimärwerkeIII. Lexika, sonstige und ForschungsliteraturIV. Internetquellen

  Sachregister

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2016/2017 von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde das Manuskript geringfügig überarbeitet und um einen Exkurs erweitert. Mein Dissertationsprojekt wurde großzügig von einem AFR-Stipendium des Fonds National de Recherche Luxembourg gefördert.

Zur Entstehung und zum Abschluss dieser Arbeit haben viele Menschen beigetragen. Ein besonderer Dank gebührt zunächst meinen Betreuern und Gutachtern, Prof. Karin Tebben und Prof. Helmuth Kiesel, die mir die Beschäftigung mit der Menschenwürde in ihrer literarischen Verhandlung bereits für meine Magisterarbeit vorgeschlagen und mir so ermöglicht haben, mich über mehrere Jahre mit einem attraktiven, ergiebigen und begeisternden Thema auseinanderzusetzen. Prof. Tebben hat mich auf stets hilfreiche und beruhigende Weise betreut und mit Kritik, Anregungen, Hinweisen und Ratschlägen unterstützt.

Herzlich danken möchte ich auch Prof. Thomas Wilhelmi, der mich auf Kotzebue hingewiesen und zahlreiche Verbesserungsvorschläge beigesteuert hat. Anregende Gespräche durfte ich zudem mit Dr. Matthias Attig sowie den Organisatoren und Teilnehmern des Maurice Halbwachs Summer Institute in Göttingen 2015 und des Workshops „Collecting Cases“ an der Universität Gent 2016 führen.

Von unschätzbarem Wert für die Genese der Dissertation war zudem der regelmäßige Austausch mit Gleichgesinnten. Für intensive und herausfordernde Diskussionen, Kritik und Bestätigung danke ich meinen wunderbaren Freunden und Kommilitonen Friederike Mayer-Lindenberg, die zu meinem großen Glück auch die Aufgabe der letzten Korrektur übernahm, Bastian Blakowski, Samuel Hamen und Moritz Barske.

Schließlich will ich jenen danken, die mir während der letzten Jahre, auch in komplizierten und unangenehmen Situationen, immer ein geduldiger und liebevoller Rückhalt waren: meiner Lebensgefährtin Nadja und meiner Familie. Meinen Eltern Eugenie und Gilbert ist diese Studie in tiefster Dankbarkeit gewidmet.

Max Graff Heidelberg, im Oktober 2017

Prolog: Die Menschenwürde als ästhetisches Problem –
Ferdinand von SchirachsSchirach, Ferdinand von Terror (2015)

Im Oktober 2015 wurde in Frankfurt am Main und in Berlin das Stück Terror des Schriftstellers und Juristen Ferdinand von SchirachSchirach, Ferdinand von uraufgeführt.1 Die dramatische Situation wirkt zunächst wie ein exemplarisches Szenario aus der juristischen Fachliteratur zum Begriff der Menschenwürde: Ein Major der Luftwaffe hat eigenmächtig und in bewusster Missachtung eines Befehls ein von Terroristen entführtes Flugzeug abgeschossen. Um Tausende Menschen in einem Fußballstadion – dem Ziel der Terroristen – zu retten, hat er den Tod aller Passagiere der Maschine in Kauf genommen.2 Die Bühne wird zum Gerichtssaal; das Stück ist die Fiktionalisierung eines Gedankenexperiments, eine imaginierte Verhandlung des Falles, der sich, mit den Worten des Verteidigers, um die Frage dreht: „Ist es richtig, das Prinzip der Menschenwürde über die Rettung von Menschenleben zu stellen?“3 Das Stück – im wahrsten Sinne des Wortes ein Schauprozess – behandelt eines der virulentesten verfassungsrechtlichen Themen, nämlich die Frage nach der (Un-)Abwägbarkeit der Menschenwürde.4 Gilt das Verfassungsprinzip der Menschenwürde absolut, wie die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer darlegt, ist der Major zu bestrafen, denn er hat Menschenleben gegeneinander abgewogen und somit juristisch falsch gehandelt. Aus der Perspektive der Verteidigung hat sich der Angeklagte ethisch richtig verhalten; da der Verteidiger das Dogma der absoluten Unantastbarkeit der Menschenwürde hinterfragt, fordert er auch aus juristischer Sicht einen Freispruch.

 

Das entscheidende Moment des Stücks, das bis hierhin konventionell konstruiert ist, ist nun keineswegs, dass im Medium Literatur rechtsphilosophische oder verfassungsrechtliche Probleme durchgespielt werden; die Literatur leistet mehr als die bloße Veranschaulichung oder Illustration theoretischer Konstellationen. Tatsächlich weisen an zwei Stellen Dramenfiguren indirekt auf eine Art ‚Medienwechsel‘ hin. Zu Beginn des ersten Aktes tritt der Vorsitzende vor den Vorhang und wendet sich ans Publikum; zunächst weist er auf die strukturelle Ähnlichkeit von Bühne und Gerichtssaal hin, nur um dann zu verkünden: „Natürlich führen wir kein Theaterstück auf, wir sind ja schließlich keine Schauspieler. Wir spielen die Tat durch Sprache nach, das ist unsere Art, sie zu erfassen.“5 Gegen Ende seines Schlussplädoyers wiederum erklärt der Verteidiger: „Die Welt ist nun einmal kein Seminar für Rechtsstudenten.“6 Diese Sätze muten provokativ sentenzhaft an, sind aber zentral: Natürlich wird gerade ein Theaterstück aufgeführt, und natürlich ist auch die Bühne kein Seminar für Rechtsstudenten. Überdeutlich weist der Text auf seine eigene Literarizität hin7 – und stellt damit die Frage in den Raum: Wie fragt die Literatur nach der Menschenwürde? Kann die Literatur, kann die KunstKunst, Künstler anders, mit ihren ureigenen Mitteln, nach der Menschenwürde fragen und womöglich ganz eigene Perspektiven liefern?

Anders als die juristische Realität, in der das Szenario des gekaperten Flugzeugs bereits auf höchster verfassungsrechtlicher Ebene entschieden wurde,8 bietet das Stück Alternativen für den Schluss – und genau hier etabliert sich die Literatur als eigenständiges Reflexionsmedium. Das Telos eines jeden Gerichtsprozesses – das Urteil – ist vom Text nicht zwingend vorgegeben, sondern richtet sich nach dem ad hoc-Votum des Publikums; das Stück enthält dementsprechend zwei Schlussvarianten, Schuldspruch und Freispruch. Das Publikum wird an einer Stelle vom Richter gar direkt als „[m]eine Damen und Herren Schöffen“ angesprochen.9 Die vermeintlich klar definierte dramatische Kommunikationssituation wird dadurch auf spektakuläre Weise unterminiert, die Ebenen (Aufführung – Rezeption; Fiktion – Realität; innerfiktionale Figuren – außerfiktionales Publikum) verschwimmen. Mit der demonstrativen Illusionsdurchbrechung bei gleichzeitiger expliziter Integration des Publikums in den Fortgang und die Struktur des Textes rückt das ästhetische Moment in den Fokus, wird sogar innerhalb des wohldefinierten Kontexts – Theater, Aufführung, Dramentext usw. – zum entscheidenden Kriterium erklärt. Nicht mehr rationalRationalität-formalistische, rechtsphilosophische oder rein ethische Faktoren allein sind für die Frage nach der Menschenwürde entscheidend, sondern eben auch emotional-sinnlicheSinnlichkeit, mit denen der literarische Text bewusst operiert. Bestimmte dramaturgische Mittel – Kontrasteffekte,10 Details mit hoher affektiver Potenz,11 die Integration von Gegenpositionen, die den Zuschauer schockhaft-emotional ansprechen sollen,12 illusionsdurchbrechende Elemente – sorgen für jene Konkurrenz, Überlagerung und Vermengung unterschiedlicher Argumentationsebenen, die im literarischen Diskurs möglich, im juristischen hingegen ausgeschlossen sind.

Die Antwort auf die Frage nach der Menschenwürde ist in Terror keine philosophische, keine juristische, sondern eine genuin literarische: Die Literatur, in diesem Fall das Theater, eröffnet einen Raum, in dem ein hochkomplexes Thema mit eigenen Mitteln betrachtet wird – und in dem eine eigene, von anderen gesellschaftlichen Diskursen essentiell zu unterscheidende Antwort gegeben wird. Die Menschenwürde wird zu einem genuin ästhetischen Problem – und zu einem Gegenstand der Literaturwissenschaft.

A. Einleitung
I. Menschenwürde – Annäherung an einen unscharfen Begriff

Die Menschenwürde ist ein „Begriff der Irritation“.1 Wie bei kaum einem anderen Begriff trifft die Versuchung, ihm uneingeschränkte Allgemeingültigkeit zuzusprechen und ihn zur Maxime allen Handelns zu erklären, auf den Verdacht, dass er letztlich nichtssagend und allzu leicht zu instrumentalisieren ist, eine Leerformel,2 die bloß von ihrer Aura lebt. Die fast 2000 Jahre währende Auseinandersetzung mit der Menschenwürde – zunächst in Philosophie und Theologie, dann in der Rechtsphilosophie und dem (Verfassungs-)Recht, in den politischen und sozialen Wissenschaften, aktuell vor allem in der Angewandten Ethik, der Medizin- und Bioethik – hat (man möchte fast sagen: zwangsläufig) nicht zu einer abschließenden Klärung geführt. Nachdem man von der antiken Lehre der Stoa bis zur Aufklärung glaubte, die Quellen der Menschenwürde benennen und folglich sowohl ihre Erscheinungsformen als auch Verstöße gegen sie definieren zu können, lässt sich spätestens in den Schriften NietzschesNietzsche, Friedrich eine tiefgreifende Verunsicherung bis hin zur radikalen Negierung beobachten. Heute ist der Begriff geradezu notorisch unklar und umkämpft.

Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Menschenwürde, ganz gleich, in welcher Disziplin, kommt um einige grundlegende Vorbemerkungen kaum herum. Diese Topoi des Menschenwürdediskurses3 bedürfen einer kurzen, grundsätzlichen Einordnung.

1. Die eminente Bedeutung der Menschenwürde als „Bezugspunkt in der Normbegründung“ (Burkhard), als „Schlagwort der Gegenwart“ (Wetz) und „moderne Inklusionsformel“ (Lembcke), als „Sehnsuchtsbegriff“ (SchlinkSchlink, Bernhard) oder gar als Teil des kulturellen Gedächtnisses (Weitin)4 ist kaum zu leugnen und oft herausgestellt worden. Auf der tiefen Verankerung der Menschenwürde im Wertekanon besonders der deutschsprachigen Öffentlichkeit,5 aber auch auf ihrer Kodifizierung in grundlegenden Konventionen der internationalen Gemeinschaft, gründen ihre ungemeine Leuchtkraft, ihr charismatischer, expressiver, ja appellativer Charakter. Bisweilen wird ihr gar eine „universelle normative Geltungskraft“ attestiert.6 Als zutiefst normativ besetztes Ideal prägt sie auch aktuelle gesellschaftliche Debatten über Sterbehilfe, Pflege, Flüchtlingskrisen, humanitäre Katastrophen, Gleichberechtigung usw.

2. Dabei ist der „genuin philosophische[]“7 Begriff der Menschenwürde in mancherlei Hinsicht überdeterminiert. Es gibt nicht den einen Menschenwürdebegriff. Vielmehr ist das Lexem Menschenwürde extrem vieldeutig, da es sich auf ganz unterschiedliche historische wie zeitgenössische Menschenwürdebegriffe oder -konzepte beziehen kann. Die Begriffsgeschichte ist lang und gut erforscht; angesichts der Vielzahl von Publikationen unterschiedlicher Fachrichtungen wäre es vollkommen redundant, sie nachzeichnen zu wollen.8 Gleichwohl sollte man sich zumindest die immer wieder genannten ‚Protagonisten‘ des Menschenwürdediskurses vor Augen führen: Der Beginn der Begriffsgeschichte wird gemeinhin bei der antiken Stoa und CicerosCicero, Marcus Tullius dignitas-Begriff9 gesetzt. Genannt werden anschließend meist Kirchenväter (besonders Augustin),10 die mittelalterliche Scholastik (Thomas von Aquin),11 die italienische Renaissance (Manetti, Ficino, PicoPico della Mirandola, Giovanni della Mirandola),12 die frühneuzeitlichen Naturrechtler (z.B. Pufendorf),13 die Aufklärer (allen voran KantKant, Immanuel),14 der deutsche Idealismus (SchillerSchiller, Friedrich, Fichte, Hegel),15 kritische Stimmen im 19. Jahrhundert (SchopenhauerSchopenhauer, Arthur, NietzscheNietzsche, Friedrich),16 schließlich moderne und zeitgenössische Positionen (Bloch, ArendtArendt, Hannah, Margalit, Spaemann, Nussbaum).17 Spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts tritt die Menschenwürde dann zunehmend in den Fokus anderer Disziplinen: Recht, Politik, Ethik.

3. Der Verdacht, Menschenwürde sei eine bloße Leerformel, findet sich in polemischer Form und mit einer Spitze gegen KantKant, Immanuel bereits bei Arthur SchopenhauerSchopenhauer, Arthur. Dieser mokierte sich über den feierlich-prätentiösen Klang des Ausdrucks, der vom eigentlichen (und vermeintlich nebulösen) Inhalt ablenke.18 Ist die Menschenwürde tatsächlich eine Worthülse, die von ihrem Pathos und ihrer diffusen Vieldeutigkeit zehrt und somit „bloßer Sprachfetisch“ ist (Wetz),19 ergeben sich zwei weitere Risiken: die Gefahr einer Instrumentalisierung der Menschenwürde als „rhetorische Keule“ und „ideologische Waffe“ (Hoerster), die als „conversation stopper“ (Birnbacher) und „Totschlagargument“ (Schmidt-Jortzig) missbraucht werden, sowie, damit zusammenhängend, das Risiko, dass der Begriff der Menschenwürde in die Nähe des Tabus rückt und so Diskussion und kritische Reflexion eher verhindert als fördert.20

4. In Bezug auf Status und Funktionszusammenhang der Menschenwürde konkurrieren differierende Perspektiven, die jeweils eigene Akzentuierungen implizieren.

a) Ihren Stellenwert verdankt die Menschenwürde nicht zuletzt ihrem spektakulären Aufstieg zum juristischen, verfassungsrechtlichen Begriff im Laufe des 20. Jahrhunderts. Nachdem sie in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 erstmals in einem konstitutionellen Kontext erschien, freilich mit einer dezidiert sozialpolitischen Färbung,21 fand die Menschenwürde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eingang in erste europäische Verfassungen.22 Doch erst in Folge der entsetzlichen Verbrechen des Nationalsozialismus wurde sie zum „oberste[n] Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts“,23 exponiert kodifiziert in Verfassungen der deutschen Nachkriegs-Bundesländer, in den Präambeln der UN-Charta (1945) und der Allgemeinen Erklärung der MenschenrechteMenschenrechte (1948), schließlich 1949 in Art. 1 Abs. 1 des bundesrepublikanischen Grundgesetzes.24 Theodor Heuss, einer der Väter des Grundgesetzes, bestimmte die Menschenwürde als „nicht interpretierte These“, als Begriff mit „quasi-axiomatische[m] Charakter“ ohne weitere „Vorbestimmung“ (so O.W. Lembcke).25 Nicht nur die inhaltliche Präzisierung, sondern auch der genaue Status bleibt jedoch unter Juristen umstritten: Handelt es sich um einen Grundsatz, ein Grundrecht, ein Prinzip, eine Fundamentalnorm? Oder muss der „Doppelcharakter“ der Menschenwürde als Rechtsbegriff und Rechtsidee (Teifke), als „Konstitutionsprinzip und Verfassungsprinzip“ (Lembcke) betont werden?26 Ist die Menschenwürde „[p]ositiviertes überpositives Recht“, der „Grund der Grundrechte“, eine „ratio iuris“ (Isensee)?27 Zudem steht – wie in Ferdinand von SchirachsSchirach, Ferdinand von Terror – die Frage nach der Absolutheit bzw. der Abwägbarkeit der Menschenwürde im Fokus der Debatte.28 Ist die Menschenwürde tatsächlich „unantastbar“, wie es Art. 1 Abs. 1 GG postuliert? Und was genau heißt eigentlich „unantastbar“?

b) Eng mit der juristischen verwoben ist die politische Dimension der Menschenwürde. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wird Menschenwürde zu einem Schlüsselbegriff sozialistischer Politik.29 Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stehen Menschenwürde und MenschenrechteMenschenrechte in einem engen Begründungszusammenhang.30 Beide dienen zumindest in der Theorie als programmatische Leit- und Orientierungsnormen des innen- wie außenpolitischen Handelns.31 Fungiert die Menschenwürde in diesem Sinne als „politische Referenz“, dann öffnet sie sich den „Mechanismen der Macht“, muss mithin nicht mehr klar definiert sein, sondern vertraut auf ihren „appellativen“ Charakter und ihr Potential zur „Skandalisierung“.32 Das Risiko einer Instrumentalisierung – und somit einer unweigerlichen Relativierung – liegt auf der Hand.

c) Immanuel KantKant, Immanuel bestimmte die Menschenwürde als essentiell ethischen Begriff.33 Von dieser normativ-ethischen Dimension können sich weder juristische noch politische Sichtweisen lösen. Rasante naturwissenschaftliche und medizinische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – Stammzellenforschung, Humangenetik, Palliativmedizin – werfen heikle und komplexe Fragen nach der Trägerschaft und der Reichweite der Menschenwürde auf. Umstritten ist, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt einem Menschen Würde zukommt – und viel grundlegender, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt ein Mensch ein Mensch ist. Zu klären ist zudem, ob Würde an das IndividuumIndividuum, die Person oder die menschliche Gattung gebunden ist.34 Trotz des Vorwurfs des Speziesismus bleibt Würde in der Regel ein anthropozentrisches Konzept; von einer „Würde der Kreatur“ zu sprechen, wie es die schweizerische Verfassung seit 1992 tut, hat sich weder in der Forschung noch in der internationalen (Rechts-)Praxis durchgesetzt.35

d) Im Begriff der Menschenwürde prallen der Ballast jahrhundertelanger Tradition, moderne Anforderungen an die rechtsstaatliche, pluralistische Demokratie und ein immer stärker naturalisiertes Weltbild aufeinander. Nicht nur können evolutionsgeschichtliche und neurowissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlagen der Menschenwürde36 und somit die Berechtigung des Begriffs an sich in Frage stellen.37 Deutet man Menschenwürde und MenschenrechteMenschenrechte ausschließlich als „Derivate“ der jüdisch-christlichen Tradition38 und somit als notwendig metaphysische Begriffe, die ohne metaphysische Absicherung undenkbar sind,39 wird ihre Aussagekraft in Diskursen säkularer Gesellschaften fraglich. Andererseits scheint der Menschenwürde der eigenartige Status eines zivilreligiösen „Glaubensartikel[s]“ zu eignen, der „transsäkulare[] Bedürfnisse“ anspricht und stillt.40 Demgegenüber steht ein Verständnis der Menschenwürde als primär praktisches oder pragmatisches Problem, das dem konkret-subjektiven Moment den klaren Vorrang vor systematischen theoretischen Bemühungen gibt.41

 

e) Mehrere Interpreten erklären das Eigentümliche der Menschenwürde, indem sie sie als „absolute Metapher“ im Sinne Hans Blumenbergs beschreiben.42 Diese Charakterisierung ist in zweifacher Hinsicht glücklich: Zum einen konzeptualisiert sie die schwer konkret fassbare begriffliche Polyvalenz der Menschenwürde und den Eindruck, dass sie intuitiv eben doch recht klar begreifbar ist.43 Zum anderen eröffnet der Gebrauch eines ursprünglich rhetorischen Begriffs („Metapher“) eine neue Diskussionsebene: Menschenwürde wäre demnach nicht nur streng positivistisch und logisch-rationalRationalität erfassbar, sondern eben auch ein „empfundener Begriff“ (Schreiber), den man erleben und erfahren kann.44 Zudem scheint gerade ein rhetorischer Gebrauch von Sprache zum Verständnis der Menschenwürde Entscheidendes beitragen zu können. Menschenwürde wäre somit ein ästhetischer Begriff in einem doppelten Sinne: ein Begriff, der eine auch sinnlichSinnlichkeit anschaubare Dimension besitzt, der überdies gerade in seiner künstlerischKunst, Künstler-sprachlichen Verhandlung und der dadurch beim Rezipienten provozierten Reflexion erst vollständig erfasst werden kann.45

f) Huizing beschreibt das Verhältnis zwischen Menschenwürde und KunstKunst, Künstler wie folgt:

[Ich] behaupte, daß ethische und rechtswissenschaftliche Untersuchungen zum Thema ‚Menschenwürde‘ darauf angewiesen sind, ästhetische Darstellungen aufzusuchen, um die eigene Sensibilität für Wahrnehmungen kritischer Situationen zu schulen, damit die ethische oder juristische Urteilsfähigkeit geschmeidig bleibt für die Aufnahme individueller Schicksale.46

Literatura ancilla theologiae, philosophiae et doctrinae juris? Die vorliegende Arbeit wird zeigen, dass Selbstverständnis, Funktion und Potential der Literatur essentiell über jene einer Hilfsdisziplin und eines bloßen Sensibilisierungsmediums hinausreichen, und genuin ästhetisch-literarische Dimensionen der Menschenwürde herausarbeiten.