Buch lesen: «Der Actinidische Götze»
Matthias Falke
Der Actinidische Götze
© 2013 Begedia Verlag
© 2007 Matthias Falke
Umschlagbild - Alexander Preuss
Covergestaltung und Satz - Begedia Verlag
Lektorat - André Skora
ebook-Bearbeitung - Begedia
ISBN-13 - 978-3-95777-027-1 (epub)
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Der Autor:
Matthias Falke wurde 1970 in Karlsruhe/Baden geboren. Nach Abitur und Grundwehrdienst studierte er Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Karlsruhe und Freiburg/Breisgau. Seit 1999 ist er freier Autor, Herausgeber und Übersetzer. Sein Stück »Kassandra-Szenen« wurde 2007 beim Ersten Autorenwettbewerb des Sandkorn-Theaters Karlsruhe mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Nach Ausflügen in nahezu alle literarischen Gattungen und Genres konzentriert sich Falke in den letzten Jahren zunehmend auf die Science Fiction. Seine Texte wurden mehrfach für den renommierten Kurd-Laßwitz-Preis nominiert.
Falkes Novelle »Boa Esperanca« wurde 2010 mit dem Deutschen-Science-Fiction-Preis als Beste Kurzgeschichte ausgezeichnet.
Matthias Falke ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Er lebt in Karlsruhe.
Die ENTHYMESIS-Universum
Eine Science-Fiction-Saga in sieben Trilogien
1. Laertes
2. Exploration
- Explorer Enthymesis
- Ruinenwelt
- Der actinidische Götze
3. Gaugamela
4. Zthronmic
5. Tloxi
6. Jin-Xing
7. Rongphu
Musan
Das langgestreckte Becken des Febasees verlor sich in der grauvioletten Dämmerung. Das Südufer war flach, von Bungalows und den Ladenzeilen der kleinen Händler gesäumt. Winzige Inseln, die Pagoden und Tempel trugen, waren in die keilförmige Verbreiterung des Sees eingelassen, dessen Nordseite tief in das aufsteigende Gebirge eingeschnitten war. Hintereinandergestaffelte, steil aufragende Felswände, die sich in Abstufungen von Lavendel und Anthrazit verschatteten, gaben ihr das Gepräge eines nordischen Fjordes, und diese Kulisse wirkte bis zur idyllischen Südseite herunter, deren subtropischer Charme dadurch etwas Bedrohtes hatte. Das Gebirge selbst war unsichtbar, verschleiert von den abendlichen Wolken und dem Dunst, der über der tief eingeschnittenen Ebene lastete. Die Bougainvilleen auf der Veranda bildeten das Passepartout, durch das der Blick auf das verhangene Panorama hinausging. Die braunen Hügel und Vorgebirge verschwanden in ziehenden Nebelstreifen. Ab und an rollte das zerstückelte Echo eines mahlenden Donners über die Landschaft. Irgendwo dort hinten, viele Tagesmärsche entfernt, ging das allabendliche Unwetter nieder.
Der nahe Raumhafen hatte den Flugbetrieb schon lange eingestellt. Wegen der prekären Lage in der kilometertief eingesenkten Talschaft und der heiklen Windsysteme, die sich durch die riesigen Schluchten zwängten, konnte er nur an wenigen Stunden des Tages, meist am frühen Morgen, genutzt werden. Dann musste der gesamte interplanetarische Verkehr dieser Welt abgewickelt werden, denn der Tower von Feba City war der einzige auf diesem Planeten, und das trogförmige Febatal mit dem gleichnamigen See bot die einzige ebene Fläche in den verzweigten und zerklüfteten Gebirgszügen von Musan.
Selbst hier, an der Lake Side des Südufers, war das Klima rau. Mir fröstelte, als ich die paar Schritte über den sorgsam gepflegten Pala-Rasen bis zum Wasser hinunterging, um dort das letzte auberginenfarbene Scheiden des Tageslichts zu sehen und eine leichte Qat-Zigarette zu rauchen. Morgen früh würden auch wir diese Welt wieder verlassen, auf der wir drei Standardwochen zugebracht hatten und deren herber Charme mich noch gefangen hielt. Der blauleuchtende Rauch kräuselte sich in der windstillen Luft. Es war kühl und vollkommen ruhig. Ich hörte das Knistern der Glut, die sich langsam durch die getrockneten Qatblätter fraß. Zugleich spürte ich die Entspannung, die sich bis zu einer leichten Benommenheit vertiefte. Ein friedfertiges Glück erfasste mich wie eine Woge in einem seichten Meer, hob mich ein wenig an und bewirkte einen schwachen Schwindel. Erneut donnerte es hinter der Gebirgskette, die jetzt nachtschwarz und verwölkt waren. Von irgendwo war der Klang eines Erhus zu hören, des traditionellen Instruments der Musaner, dessen klagender Gesang sich wie eine zärtliche Berührung über meine träumerische Stimmung legte. Der letzte Abend. Die Schwermut, die darin liegt, dass das Glück zwar möglich, aber nicht von Dauer ist, umspülte mich wie eine traurige Musik, die nicht nur mit dem Gehör, sondern mit dem ganzen Körper wahrgenommen wird. Ich wollte nur dasitzen, die Augen schließen und mich meinen Erinnerungen überlassen, den Erinnerungen an diese Wochen des Aufenthaltes auf Musan, der noch nicht vorüber, aber doch schon mit dunkelglänzender Nostalgie umkleidet war. Nostalgie gegenüber der Gegenwart, die daraus entspringt, dass man sie nicht festhalten kann. Das ist das schlimmste: dass man zusehen muss, wie einem die Momente der Erfüllung wieder entzogen werden, wie sie einem zwischen den Fingern zerrieseln, sich auflösen wie der Rauch einer Zigarette in der Dämmerung und mitgerissen werden vom Wasser der Vergänglichkeit, das dort am reißendsten ist, wo es zu stehen scheint.
Ein leises, anschmiegsames Geräusch weckte mich. Ich wandte mich um. Jennifer kam über die Terrasse des Bungalows und durch die Wiese herunter. Sie trug nur ein durchscheinendes Negligé. Barfuss tänzelte sie durch das kurzgeschnittene Pala-Gras, das in diesem Klima sicher viel Pflege benötigte. Ihr Prana-Bindu-Training, das sie in den letzten Wochen aufgefrischt hatte, erlaubte es ihr, sich so gut wie unbekleidet durch den kühlen Abend zu bewegen, dennoch war ihr anzusehen, dass sie sich auf dieses Training besinnen musste, um den Aufenthalt im Freien auszuhalten. Verglichen mit den Höhenlagen von Loma Ntang herrschte hier die Idylle glückseliger Inseln, aber wirklich genießen konnte man es nach Sonnenuntergang nicht mehr. Sie hängte sich an meine Schulter, und wir sahen eine Weile gemeinsam über den See, an dessen Ufer jetzt die ersten Lichter aufflammten. Dann gingen wir wieder hinein, wobei sie mich sanft, aber doch drängend hinter sich herzog. Wir schlossen die Terrassentür, deren Polarisation sich sofort vertiefte. Der Bitumenkamin verbreitete eine angenehme Wärme. Jennifer knabberte an meinen Lippen, wobei sie etwas vor sich hinbrummte, was wie ein Tadel klang. Ich hatte während dieses Aufenthaltes die Qatraucherei wieder angefangen, aber auch das würde mit dem heutigen Tage enden. Dann schob sie mich von sich weg, bis sie eine Armeslänge Abstand hatte. Indem sie einen unsichtbaren Sensor berührte, verdunstete der hauchfeine Stoff von ihrer Haut. Nur noch ein mattweißer Nebelschleier umspielte ihre wohlgeformten Glieder.
Natürlich hatte sie es sich nicht nehmen lassen, das Shuttle selbst zu steuern. Grelles Licht stand durch die Sichtquarzscheiben herein, obwohl diese die Polarisation selbsttätig auf 50% vertieft hatten. Es war eine Welt der Extreme, auf der wir zur Landung ansetzten. Tagsüber glühende Hitze, Nachts brennender Frost. Brodelnde Basarstädte, religiöse Zentren, deren Ruf weit über ihren Heimatplaneten hinausdrang, und dazwischen endlose Gebiete der Einöde. Lebensfeindliche Hochgebirge, reißende Wildwasser, riesige Gletscher, und darin verloren die winzigen grünen Nadelstiche der künstlich bewässerten Felder, die sich auf Felsterrassen mitten in der steinigen Wildnis krallten und nur die wenigen Einwohner der kleinen Dörfer ernähren konnten. Der ganze Planet hatte nur einige zehntausend Bewohner, die in weit verstreuten Siedlungen lebten, in den Klosterburgen oder als Nomaden. Es gab keine Ozeane, keine Wälder, keine Ebenen. Ein einziges zusammenhängendes Gebirge bedeckte die Kruste des Planeten. Selbst aus den Eiskappen der Polgebiete brachen die spitzen Zacken steiler Berggipfel. Gewaltige Ströme aus schuttbedecktem Eis füllten die Täler. Aus der Luft sah es aus, als wälzten sich riesige graue Würmer durch einen scharfkantigen Untergrund. Nicht unbedingt ein Ambiente, um den honey moon dort zu verbringen. Und doch waren es unsere Flitterwochen. Am Tag zuvor hatten wir in der Offiziersmesse der MARQUIS DE LAPLACE geheiratet. Dr. Rogers, der Chef der Planetarischen Abteilung, hatte uns getraut. Commodore Wiszewsky, der Kommandant unseres Mutterschiffes, hatte eine pathetische Ansprache gehalten, an deren Ende ihm Rogers zugerufen hatte, es sei nun an der Zeit, dass auch er, Wiszewsky, sein Konkubinat mit seiner Freundin Svetlana legitimiere. Lambert, Reynolds, Kurtz und die anderen Kameraden von der Wissenschaftlichen Crew hatten uns gratuliert. Natürlich hatten wir einen ausgegeben, und es war ziemlich spät geworden. Am frühen Morgen bestiegen wir im kleinen Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE, die gerade auf einer Parkbahn gewartet wurde, ein leichtes Shuttle. Jennifer brachte uns in weniger als einer Stunde in den Orbit des zerklüfteten Gebirgsplaneten Musan. Dass wir den einmonatigen Aufenthalt des Mutterschiffs in diesem System zu einem Besuch dieser entlegenen Welt nutzten, hätte wie eine Verlegenheitslösung anmuten können, wenn es nicht Jennifers ausdrücklicher Wunsch gewesen wäre. Denn in diesem Monat fand das Gu Tsechu-Fest in der großen Gompa von Loma Ntang statt, wo Jennifer sie vor zwanzig Jahren, im Anschluss an ihr Examen auf der Akademie, das Prana-Bindu-Training absolviert hatte. Während ich, wie alle Piloten der Union, im Zuge meiner Ausbildung nur die einfache Form des Prana-Yogas erlernt hatte, hatte sie sich mehrere Monate lang in die wesentlich schwierigere Prana-Bindu-Trance einweisen lassen. Höhepunkt und Abschluss ihrer Initiation war das Gu Tsechu-Fest gewesen, an dem sie nun wieder teilnehmen wollte, denn dieses mehrtägige Ritual fand nur alle zehn Standardjahre statt.
Als sich die Schleuse öffnete, wirbelte heißer Staub herein, der in der gleißenden Morgensonne zu brennen schien, so dass er uns Atem und Sicht zu nehmen drohte. Zum Glück hatte Jennifer mich vorgewarnt, und ich hatte mir ein dünnes Seidentuch vor das Gesicht gebunden. Wir traten auf das Rollfeld hinaus, wo zum blendenden Licht und dem erstickenden Staub noch ein ohrenbetäubender Lärm hinzu kam, denn an diesem frühen Morgen fanden zahllose Starts und Landungen auf dem Raumhafen von Feba City statt. Leichte und mittelschwere Gleiter brachten Pilger von den entfernten Tälern des Planeten, Shuttles und schwere Drohnen näherten sich vom Orbit her und setzten auf der schmalen und längst überfüllten Betonpiste auf, um tausende weiterer Reisender auszuspucken. Das Gu Tsechu-Fest entfaltete seine Anziehungskraft weit über Musan hinaus. Aus allen Teilen der Galaxis kamen die Gläubigen, um den zehntägigen beschwerlichen Aufstieg zum Kloster auf sich zu nehmen. Nicht allein die Seltenheit des Festes war für dieses Interesse verantwortlich, sondern auch die ganz besondere Heiligkeit seines Höhepunktes, der feierlichen Enthüllung des Actinidischen Götzen, des heiligen Grals der Prana-Bindu-Jünger.
Ich duckte mich unter den dröhnend auslaufenden Turbinen unseres Shuttles hindurch und sah, indem ich mich wieder aufrichtete, nach Norden hinaus. Die Hauptkette des Ilaya-Gebirges zog sich quer über den Horizont, eine blaue Mauer aus Granit und Gletschereis, die in gerader Flucht zwischen sechs und acht Kilometer über der Sohle des Febatales anstieg. An den höchsten Gipfeln hingen lange Schneefahnen, die sich auf der windabgewandten Seite zu weißen Schleppen und Rüschen kräuselten. Man konnte ahnen, was für gewaltige Stürme dort oben herrschten. Während des Landeanfluges waren wir entsprechend durchgerüttelt worden, und ich hatte verstanden, weshalb der Flugverkehr nur in den verhältnismäßig ruhigen Morgenstunden gestattet wurde. Diese Höhenstürme und die Wirbel, die sie im Lee der Gipfel verursachten, würden nun kontinuierlich an Stärke zunehmen, je höher die Sonne stieg, und sich erst im Laufe der Nacht wieder langsam legen, um bei Sonnenaufgang den Zeitpunkt der geringsten Aktivität zu erreichen. Noch eine, maximal zwei Stunden, dann wäre selbst ein Schiff von der Größe eines Enthymesis-Explorers, das von einem Gigawatt-Feldgenerator abgeschirmt wurde, in den Turbulenzen dieser Jets nicht mehr sicher. Ganz abgesehen davon, dass ein solches Schiff mit Abmessungen von über 300 Metern auf dem Flugfeld von Feba City mit seinem orientalischen Chaos niemals hätte aufsetzen können. Aus dem Orbit war die Ilaya-Kette eine von zahllosen gratigen Strukturen gewesen, die wie ein felsiges Skelett den Bau des Planeten durchzogen. Jetzt ragte sie hoch in den tiefblauen, von Licht dröhnenden Himmel auf, dass man den Kopf in den Nacken legen musste, um zu den höchsten Gipfeln hinaufzusehen. So, durchzuckte es mich, war nun auch Jennifer von den Millionen von Frauen, die es in den Organisationen der Union gab und denen ich hätte theoretisch begegnen können, als einzige übrig geblieben, um unübersehbar in mein Leben zu treten und ihm Kontur zu geben.
»Beeindruckt?«, fragte sie, die, unhörbar im Lärm des Raumhafens, neben mich getreten war.
»Durchaus.« Das musste ich zugeben. In jüngeren Jahren hatte ich mich selbst als Bergsteiger versucht, auf der Erde und auf anderen Welten. Aber angesichts dieser Massive, die hoch in die dünne Atmosphäre von Musan aufragten, fast bis in die Stratosphäre dieses Planeten, musste ich mir eingestehen, dass sie keinerlei sportlichen Ehrgeiz in mir wachriefen, sondern nur tiefe Ehrfurcht. Und in diesen unzugänglichen Regionen lebten nun die Mönche des Prana-Bindu-Ordens in ihren Klosterburgen. Die Luft dieser Welt war dünn, trocken und sauerstoffarm. Selbst in Feba, im größten und am tiefsten eingeschnittenen Tal, entsprach sie einer Höhe von über 3000 m auf der Erde. Loma Ntang, die Klosterstadt am oberen Ende des Kaligan-Tales, lag in einer Höhe, die einer irdischen Seehöhe von über 6000 m entsprochen hätte. Auch das war, über die technische Unmöglichkeit, den Ort direkt anzufliegen, hinaus, ein Grund, weshalb man sich ihm in einem zehntägigen Fußmarsch nähern musste. Der Organismus brauchte Zeit, um sich zu akklimatisieren. Würde man dort oben unvorbereitet aus der Druckkapsel des Shuttles steigen, so wäre man nach einigen Minuten ohnmächtig. Nach einigen Stunden mit großer Wahrscheinlichkeit tot. Und nicht zuletzt galt es auch, den Geist auf die Begegnung mit dem Heiligen vorzubereiten und langsam in diese Welt der Extreme, die auch spirituelle Kräfte beherbergte, einzudringen.
Jennifer hatte die Schleuse wieder verriegelt. Sie machte sich am Gepäckfach im Heck des Shuttles zu schaffen. Von Süden, aus der Richtung des Towers, dessen großer Kopf auf den schlanken Stelzen schwankend in der Lichtflut stand, näherte sich ein viersitziger Gleiter. Er kam in irrwitziger Fahrt auf uns zugeschossen. Unmittelbar, bevor er am Fahrwerk unseres Shuttles zerschellt wäre, drosselte der Pilot den Generator und sprang aus dem Gefährt, das einen ziemlich wartungsbedürftigen Eindruck machte. Die Polster der offenen gravimetrischen Sitze waren zerschlissen. An der Karosserie blätterte der Lack ab. Die Turbine des Feldgenerators war stark korrodiert. Der Fahrer war ein kleinwüchsiger Musaner in einer beigefarbenen, völlig ausgebleichten Monteursuniform. Sein Turban verhüllte den größten Teil seines Gesichts, was in Anbetracht des allgegenwärtigen Staubes sehr vernünftig wirkte. Er wurde von einem Jungen begleitet, der einen zerfetzten Phantasieanzug trug und nochmals um einen guten Kopf kleiner war. Die beiden kamen auf uns zu, wobei sie ihre Gesichter soweit enthüllten, dass wir ihr strahlendes Lachen sehen konnten, und begrüßten uns überschwänglich.
»Ich bin Pem Ba«, stellte der Ältere sich vor, »und das ist mein Sohn Ming. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise, und heiße Sie herzlich auf Musan willkommen.«
Er legte die Handflächen aneinander und berührte mit den Fingerspitzen die Stirn.
»Lang lebe der Lama von Loma Ntang«, rief er aus. »Alles Glück für Sie im Jahr des Gu Tsechu!«
Diese Mischung von Offenherzigkeit und Frömmigkeit war überwältigend. Selbst ein Eisklotz hätte sich ihr nicht entziehen können. Hinzu kam die Lichtflut an diesem kühlen Morgen und die euphorisierende Wirkung der dünnen Luft. Wir erwiderten die Begrüßung. Der kleine Ming half uns, das Gepäck auf den Gleiter umzuladen. Aber wir hatten ohnehin nur zwei Rucksäcke dabei, da wir in den kommenden drei Wochen auf uns selbst gestellt sein wollten. Um unabhängig von den schwerfälligen Trägerkarawanen und den korrupten Führern, die Ereignisse wie das bevorstehende besonders ausnutzten, sein zu können, wollten wir allein reisen und unser gesamtes Gepäck selbst tragen. Mit Hilfe der Ausrüstungskammer der Enthymesis stellte das auch kein größeres Problem dar. Wir hatten ultraleichte Zelte, Schlafsäcke, gravimetrische Matten, Kleidung und selbsterhitzende Mahlzeiten dabei, um über Monate hinweg autark zu sein, so dass wir uns selbst auf einem vollkommen unbesiedelten Planeten hätten aufhalten können. Nachdem wir den Gleiter bestiegen hatten, rasten wir, im Kraftfeld des Generators einen Meter über der staubigen Piste schwebend, auf den Tower zu. Da wir als Offiziere der Union Diplomatenstatus genossen, schleuste Pem Ba uns an den Abfertigungshallen vorbei, wo tausende von Pilgern geduldig auf ihre Einreise warteten.
Der Anstand gebot es, Ram Bir Singh, dem Gouverneur von Musan, der in einem pompösen Palast im Zentrum von Feba City residierte, einen kurzen Besuch abzustatten. Der greise Patriarch begrüßte uns mit der gleichen Offenheit und Würde wie sein einfacher Untertan. Er nahm sich eine Viertelstunde Zeit, um mit uns zu plaudern, und zeigte sich erstaunlich informiert, was die Vorgänge der interstellaren Politik betraf. Anschließend eskortierten Pem Ba und Ming uns durch das lärmende und stinkende Gewühl der Innenstadt. Sie führten uns zu einem Restaurant, das sich auf dem Dach eines zehnstöckigen Gebäudes befand. Dort saß man unter freiem Himmel. Lediglich ein schwaches Generatorfeld sorgte dafür, dass der böige kalte Wind, der allgegenwärtige Staub und die aufdringlichen Aastauben, die hier aufgrund der nahen Opferplätze besonders zahlreich waren, abgehalten wurden. Der Blick ging über die ganze Stadt. Im Osten lag das Flugfeld des Raumhafens, der seinen Betrieb inzwischen für diesen Tag eingestellt hatte. Im Westen ahnte man das glitzernde Becken des Febasees, dessen Ufer von kleinen Bungalowsiedlungen und Buden gesäumt waren. Im Süden umschlossen mittelhohe Berge den Talkessel, während der gesamte nördliche Horizont von der Mauer des Ilaya verriegelt wurde.
»Ein herrlicher Ort«, sagte ich und hob mein Glas mit Raq-Schnaps.
»Das haben Sie sehr gut ausgesucht«, stimmte Jennifer zu und prostete unseren beiden Begleitern zu, die bis über beide Ohren strahlten.
»Mögen Sie dem Pranavana näherkommen«, gab Pem Ba zurück, nachdem wir unsere Gläser geleert hatten.
»Das hoffe ich«, nickte Jennifer.
Vorsichtshalber hatten wir den beiden nicht erzählt, dass wir auf Hochzeitsreise hier waren, denn am Gu Tsechu-Fest durfte man nur in vollkommen keuscher Weise teilnehmen. Andererseits machten die beiden lebenslustigen Musaner aber auch nicht den Eindruck, als ob sie in solchen Fragen besonders dogmatisch veranlagt wären.
Mit großem Appetit machten wir uns über die Speisen her, die nun in zahllosen winzigen Schüsselchen aufgefahren wurden. Das meiste war exquisit gewürzt, manches so scharf, dass es einem den Schlund versengte, anderes von völlig unidentifizierbarer Konsistenz. Wir tafelten unter dem tiefblauen frostklaren Himmel, bis die Mittagsbewölkung die Berggipfel zu verschleiern begann. Nach der Mahlzeit bot Pem Ba mir eine der leichten Qat-Zigaretten an, wie sie alle Männer auf Musan zu rauchen pflegten, und als er sah, wie ich den Geschmack und die entspannende Wirkung des Qats genoss, rief er einen der Kellner heran und bat ihn, mir ein Päckchen davon zu besorgen. Er bestand sogar darauf, mir die Zigaretten zu schenken, und es wäre eine grobe Unhöflichkeit gewesen, eine solche Aufmerksamkeit abzulehnen. Dann brachten Pem Ba und sein Sohn uns bis ans Nordufer des Febasees, wo sich das langgestreckte Kaligan-Tal öffnete und alle befahrbaren Straßen endeten. Ab hier ging es nur noch zu Fuß weiter. Wir verabschiedeten uns von den beiden und schulterten unsere Rucksäcke. Und noch am selben Nachmittag begannen wir mit dem Aufstieg zur Großen Gompa von Loma Ntang.
Das Tal von Kaligan knickte in rechtem Winkel vom Becken des Febasees ab. Im Gegensatz zum Febatal, das dem Gebirge parallel verlaufend vorgelagert und breit genug war, um einer Stadt und einem Raumhafen Platz zu bieten, war die Schlucht von Kaligan tief und senkrecht eingeschnitten. Sie durchschnitt die Ilaya-Kette dort, wo sie am höchsten war, so dass die beiden Hauptgipfel des Gebirgszuges einander dicht gegenüberlagen, getrennt durch den viele Kilometer tiefen, an seiner Sohle nur wenige hundert Meter breiten Canyon von Kaligan. Sowie die Sonne morgens über die östlichen Randberge stieg, begannen starke thermische Winde durch diesen natürlichen Windkanal zu heulen, die sich im Tagesverlauf zur Wut eines kontinuierlichen und berechenbaren Orkans steigerten, der so stark war, dass er jede Flugbewegung in der schmalen Schlucht unmöglich machte und das Aufkommen jeglicher Vegetation verhinderte. Während des Aufstiegs hatte man diese Winde im Rücken. Sie schoben einen nach Loma Ntang hinauf, aber da sie so kräftig waren, dass sie einen umzuwerfen drohten, waren sie selbst in dieser Richtung eher hinderlich als angenehm. Im Abstieg kamen sie dem erschöpften Pilger entgegen, der sich mit dem Körper in sie hineinstemmen und gegen sie ankämpfen musste. In dieser Richtung stellte jeder Schritt ein Stück Arbeit dar. Jede Etappe war ein mühevoller Sieg, der den Elementen abgerungen werden musste. Die meisten Pilger achteten daher darauf, den Rückweg von der Klosterfestung bei Nacht zurückzulegen, wenn die thermischen Orkane weitgehend eingeschlafen waren, und sie ruhten tagsüber im Windschatten niedriger Mauern, die überall an den Rastplätzen aus groben Felsblöcken aufgeschichtet waren. Manche Pilger betrachteten es aber auch als Buße, den Aufstieg zur Großen Gompa bei Nacht zu absolvieren, um die Unterstützung durch den Rückenwind nicht beanspruchen zu können, und sie wanderten tagsüber talauswärts, dem tobenden, staubigen und sengend heißen Wind entgegen, der ihnen das Fleisch von den Wangen schmirgelte, um nach dem Segen, der ihnen im Kloster erteilt worden war, nicht überheblich zu werden, sondern eine demutsvolle Haltung zu bewahren. Die Frömmsten von ihnen wiederum maßen den zehntägigen Weg mit ihrem Körper aus, wobei sie sich flach auf den Bauch warfen, die Stirn in den glühenden, vom Sturm aufgewühlten Sand pressten, und dann soweit nach vorne krochen, bis ihre Füße in der Kuhle zu stehen kamen, woraufhin sie die Niederwerfung wiederholten. Manche nahmen nichts zu sich, während sie dieses Ritual vollzogen, und manche verweigerten sich jede Nachtruhe und noch die geringste Pause. Sie langten, später als jene, die sich täglich einen kleinen Schlaf gegönnt hatten, ausgemergelt und taumelnd, mit Blicken die nichts Menschliches mehr hatten, bei der Großen Gompa von Loma Ntang an, stürzten in der Großen Opferhalle nieder und blieben liegen wie tot. Nach einiger Zeit kamen Mönche des Klosters, hoben sie auf, brachten sie in das Hospiz, das dem Kloster angegliedert war, und päppelten sie wieder auf, um sie kräftig genug für den Rückweg zu machen. Manche blieben auch unterwegs liegen. Man ließ sie dort, wo sie in kurzer Zeit an Erschöpfung und Auszehrung starben. Sie riefen nicht um Hilfe, und es war verboten, ihnen Hilfe aufzudrängen. Wenn man sich ihrer annahm, verstieß man sogar gegen eines der stärksten Tabus, die es im Glauben des Prana-Bindu-Ordens gab, denn, während der Pilgerfahrt zum Gu Tsechu-Fest zu sterben, beförderte die Seele des Gläubigen unmittelbar ins Pranavana. Von der offiziellen Lehre war es zwar verboten, einen solchen Tod zu provozieren, da das Pranavana sich dem entzieht, der es erzwingen will, dennoch gab es Pilger, die die Reise ausgezehrt und von wochenlangem Fasten erschöpft antraten. Ihre Gerippe lagen dann schon bei der zweiten oder dritten Etappe am Wegesrand.
Ich war anfangs recht skeptisch gewesen, als Jennifer mir von diesem Klosterfest erzählte, das das Ziel unserer Hochzeitsreise sein sollte. Eingepfercht unter Zehntausenden religiöser Fanatiker - so hatte ich mir meine Flitterwochen nicht gerade vorgestellt. Aber sie beruhigte mich und wies auf die Weite der menschenleeren Landschaften von Musan hin, in denen wir ungestört sein würden. Tatsächlich waren wir, kaum dass wir jenseits des Nordufers des Febasees in das Kaligan-Tal eingetaucht waren, die einsamsten Wesen auf der Welt. Die vielen tausend Pilger, die wir am Raumhafen gesehen hatten und die doch alle den gleichen Weg gingen, verloren und zerstreuten sich in der riesigen Schlucht. Außerdem kannte Jennifer, die hier während ihrer Ausbildung viele Monate zugebracht hatte, zahlreiche Seitentäler, parallel verlaufende Canyons und abgelegene Pfade, die es uns erlaubten, der Masse der Reisenden auszuweichen. Da wir außerdem völlig autark waren, was Proviant und Übernachtung anging, berührten wir den Strom der Pilger nur, wenn wir es darauf anlegten. Dann tauchten wir für eine Stunde in die Menschenmenge ein, die sich als schwarzer Bandwurm die Talsohle hinaufwand. Meist sahen wir sie aber nur aus der Ferne, von einem in schwindelnder Höhe verlaufenden Felsensteig aus etwa, den Jennifer mich entlangführte. Dann kroch die schwarze Ameisenstraße in der Tiefe unter uns dahin. An den Nächtigungsorten wuchsen allabendlich ganze Zeltstädte aus dem Kiesbett am Grund der Schlucht, in den Windschatten grober Steinwälle geduckt. Wir schlugen unser Lager weiter oben auf, auf einem Vorsprung, der wie ein Adlerhorst über einer Felswand hing, oder auf einem Pass, der zwei Seitentäler miteinander verband. Die Zeltkuppel, die wir mit uns trugen, baute sich selbst in wenigen Augenblicken auf und verankerte sich im Untergrund. Wir traten ein und verriegelten die Schleuse. So hatten wir schon auf über einem Dutzend unbewohnter Welten gelebt, von denen einige nicht einmal eine Atmosphäre aufgewiesen hatten. Wir kümmerten uns um unsere Ausrüstung, die in der Hitze, dem Staub und den scharfen Winden nicht wenig litt. Dann nahmen wir eine der selbsterhitzenden Mahlzeiten zu uns, die aus der Kombüse der MARQUIS DE LAPLACE stammte und die wir seit vielen Jahren von unseren Flügen auf der Enthymesis gewohnt waren. Anschließend zogen wir uns aus und liebten uns auf der gravimetrischen Matratze. Hinterher plauderten wir, oder wir lasen noch eine Stunde im hellblauen Licht der selbstleuchtenden Kuppel. Jennifer hatte mir eine Einführung in die Prana-Bindu-Trance gegeben, die mich aber nicht zu fesseln vermochte. Meist zog ich es vor, mir den staubigen Anzug wieder überzuwerfen, mich durch die Schleuse zu drücken und im Freien noch eine Qat-Zigarette zu rauchen, während ich zusah, wie das scheidende Licht die Berge in allen Schattierungen von Purpur aufglühen ließ. Aus dem Tal leuchtete der Widerschein der offenen Feuer herauf, die die Pilger aus dem getrockneten Dung ihrer Tragtiere entzündeten. Und wenn der Wind nach Sonnenuntergang allmählich zur Ruhe kam, waren die leise klagenden Melodien der Erhus zu hören, mit denen die Musaner ihre traurigen und einsamen Lieder begleiteten. Dieser Ablauf war jeden Tag wieder derselbe, und es hätte immer so weitergehen können.
Am vierten Tag passierten wir das Tor des Todes, jene Stelle, an der das Kaligan-Tal den Hauptkamm der Ilaya-Kette durchschneidet. Hier mussten auch wir auf die Talsohle hinab, die an der schmalsten Stelle nur noch zwanzig Meter breit war. Lotrecht stiegen zu beiden Seiten die kilometerhohen Felswände in den Himmel, der weit oben als schmaler blauer Strich sichtbar war. Der heiße staubgesättigte Wind donnerte durch die Schlucht und schliff ihre Seitenwände ab, die kein Künstler glatter hätte polieren können. Ab und zu lösten sich Felsbrocken aus der Wand und stürzten herunter. Sie wurden vom Sturm davongetragen und zu Pulver zerrieben, ehe sie unten aufgeschlagen waren. In Decken, Tücher und Turbane gehüllt, so dass wir von den gewöhnlichen Pilgern nicht mehr zu unterscheiden waren, schleppten wir uns durch diesen Engpass. Der Wind drückte und schob mit unwiderstehlicher Kraft von hinten, aber ihm nachzugeben hätte die Gefahr des Strauchelns mit sich gebracht. Und wenn man die Hand oder das Gesicht nur einen Sekundenbruchteil ungeschützt ließ, schälte der Sturm einem die Haut von den Knochen. Ich hatte der Versuchung nachgegeben und die Abschirmung meines generatorgestützten Anzugs aktiviert. Das stabilisierte mich in den Böen und verhinderte, dass der staubfeine Sand auch noch in die letzte meiner Poren und Körperöffnungen eindrang. Jennifer tadelte mich deswegen. Sie legte Wert darauf, den Aufstieg ohne solche Hilfsmittel zu absolvieren. Ich konnte nur entgegnen, dass ich kein Angehöriger dieser Religion sei. Im übrigen war ich eigentlich zu meinem Vergnügen hier. Mir taten vor allem die Pilger leid, die sich, oft nur notdürftig in Lumpen gehüllt, einer den Windschatten des anderen suchend, Schritt für Schritt durch dieses Fegefeuer quälten. Ich wusste, dass sie mein Mitleid nicht wollten. Manchmal erhaschte ich einen Blick aus dem Sehschlitz eines Turbans und sah das inbrünstige Leuchten, das die Augen dieser Gläubigen erfüllte. Je mörderischer die Widerstände, die es zu überwinden galt, umso herrlicher würde die Gnade sein, der sie oben teilhaftig wurden. Es gab aber auch Zwischenfälle, die mir das Blut in den Adern erstarren ließ und die dieses Streben nach Erleuchtung eher wieder in ein zwiespältiges Licht tauchten. Eine Familie zog neben uns durch die Engstelle. Die Frauen vor den Männern, um von ihrem Schutz zu profitieren. Alle zusammen im Windschatten einiger Tragtiere, deren Flanken mit groben Decken verhüllt und mit der Ausrüstung für die mehrwöchige Reise bepackt waren. Eines der kleinwüchsigen Kamele, wie sie die Nomaden auf Musan noch häufig halten, ging durch. Der Anlass war nicht erkennbar. Vielleicht hatte der Wind es von rückwärts gegen den vor ihm gehenden Menschen geschoben. Diese Tiere sind, bei all ihrer Zähigkeit und Widerstandskraft, für ihre große Sensibilität bekannt. Einmal darauf abgerichtet, ihren Besitzern keinen Schaden zuzufügen, würden sie eher in einen Abgrund hinunterspringen, als einen Menschen hinunterzustoßen oder ihn auch nur zu touchieren. Das Tier bäumte sich auf. Einige der Packlasten fielen herunter. Dazwischen auch ein Kind, das in ein Bündel von Decken verschnürt, auf dem Tragtier festgebunden gewesen war. Noch im Fallen wurden ihm, als es der vollen Wucht des Orkans ausgesetzt war, die Kleider vom Leib gefetzt. In Sekunden riss der Sturm ihm die Haut und das Fleisch von den Knochen, schmirgelte das letzte Blut von ihnen ab und riss sie mit sich fort, wobei sie in der Luft zu immer kleineren Spänen zerrieben wurden. Es gelang dem Karawanenführer, das Tier wieder zu bändigen. Die losen Packlasten hatte ebenfalls der Sturm davongeführt. Die Gruppe setzte ihren Weg fort, ohne ein Zeichen des Bedauerns erkennen zu lassen. Jeder Aufenthalt an dieser Stelle hätte weitere Gefahren bedeutet. Allenfalls die Mutter des Kleinen schien leise vor sich hinzuwimmern, aber auch diese Laute wurden vom Brüllen des Orkans überschrien. Mir graute vor dem Rückweg.