Single Malt Weihnacht

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Leuchtfeuer

Sebastian Steffens

Aus Liebe kann manchmal Unglaubliches passieren.

So wie mir.

Ich hätte es mir niemals vorstellen können aber es ist nun vier Jahre her, seit ich aus Liebe vom quirligen Hamburg in die Einsamkeit umgesiedelt bin. Einsamkeit? Nein, das könnte falscher nicht sein. Seit dem Tag, an dem ich Kathy kennengelernt habe, war ich nie mehr einsam. Kathy. Rote, wuschelige Haare, ein unglaubliches Lächeln und grüne, tiefe Augen. Es wäre wohl kitschig zu sagen, dass ihre Augen so waren, wie das Meer in dem ihre Heimat liegt, die Isle of Mull, Teil der Inneren Hebriden vor der Westküste Schottlands. Kitschig, aber wahr. Kathy wurde dort in Tobermory geboren, hatte in Glasgow studiert und ist dann doch wieder dorthin zurückgekehrt. Ihre Eltern hatten Hilfe auf ihrem Bauernhof gebraucht, der auch eine kleine Bed and Breakfast Pension war. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass Kathy die Schafe und Ziegen auf dem Hof liebt, die Seeadler und Seelöwen an der Küste und die Wale und Delphine davor. Sie liebt das Grün der Insel im Frühjahr und ihre Wildheit im Winter. Kathy und Mull sind untrennbar. Im Mai vor fünf Jahren machte ich eine Motorrad-Tour durch Schottlands Westen. Ich hatte nicht damit gerechnet, wie kalt es zu der Zeit dort noch werden konnte. Kalt und Nass. Mit der Autofähre von Oban an der schottischen Küste war ich aus einer Laune heraus nach Craignure auf Mull übergesetzt. Ich wollte eine kleine Rundtour über die Insel machen und dann vielleicht einen Bootsausflug nach Staffa. Einmal Fingals Cave und die Basaltsäulen sehen. Als Schreiber braucht man Inspiration und was kann einem Autor von historischen Romanen mehr inspirieren, als diese Landschaft, die schottischen Burgen und die Vorstellung, dass hier schon die Römer und später die Angelsachsen auf die Pikten trafen und dann die Engländer auf die Schotten? Von den Wikingern gar nicht zu reden. Aber ich schweife ab. Jedenfalls hatte ich eine romantische Vorstellung von der ganzen Umgebung, die durch Kälte und Nässe jäh in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Wissen Sie, wie kalt und nass es sein kann, auf einer schottischen Insel? Wenn Sie mit dem Motorrad unterwegs sind? Ich muss erbärmlich ausgesehen haben, als ich irgendwo hinter Aros durch das hoffnungslos beschlagene Visier meines Helmes zufällig ein B&B-Schild an der Straße sah. Colin und Fiona haben mich rührend mit einem Kaminfeuer, Decken und heißem Tee aufgepäppelt und mir am Abend noch einen zehnjährigen Ledaig eingeflößt - »zum Warmhalten von innen«. Das Zittern hatte dann irgendwann aufgehört. Später am Abend kam Kathy nach Hause. Sie hatte sich noch um die Tiere eines kranken Nachbarn gekümmert. Sie umarmte ihre Eltern und dann sah sie mich dort sitzen. Wie ein Haufen Elend immer noch in Decken gehüllt und so nah am Kamin, wie möglich. Mit meinem Whisky in der Hand und schon halb im Schlaf muss ich aber trotzdem irgendwie selig und zufrieden ausgesehen haben. Kathy musste lachen und um mich war es geschehen. Zehn Monate später haben wir geheiratet.

Sagte ich schon, dass Kathy und Mull untrennbar sind? Jedenfalls kann ich ja im Grunde überall schreiben. Was brauche ich schon außer einem Laptop, einer Inspiration, WLAN – und Kathy? Ich bin eigentlich gar nicht mehr richtig weggefahren von Mull und lebe nun ebenfalls glücklich dort inmitten der Natur und manchmal auch inmitten der Touristen. Aber das ist in Ordnung. Die meisten, die nach Mull kommen, verbindet mit uns eine Liebe zur Natur und damit ist das ganz etwas anderes, als anderswo. Ich habe das sogar noch zu meinem Nebenberuf gemacht und biete Bootstouren zum Whalewatching an. Nicht nur die Gäste aus dem Bed und Breakfast machen das sehr gerne. Das Meer und besonders das Segeln hat es mir schon immer angetan. Allerdings ist das hier in den Hebriden schon eine ganz andere Nummer, als bei Hamburg. Dabei habe ich damals als Nordseesegler bereits ein wenig mit milder Herablassung auf die Tidenverweigerer in der Ostsee herabgeblickt. Na ja. Sowas ist wohl immer eine Frage der Perspektive. Letztes Jahr habe ich meinen Yachtmaster Ocean gemacht. Wir sind um Irland herum zu den Azoren gesegelt. Aber hier zwischen den Hebriden ist die Strömung, die Tide, das Wetter und der Wind tückisch genug, dass es für zwei Seglerleben ausreichend viele Herausforderungen gibt.

So, wie am Weihnachtsabend letztes Jahr.

Kathys Großmutter, Fionas Mutter, Aleen Macrae, war mit dem Flieger aus den USA über London in Glasgow gelandet. Sie wollte uns besuchen und mich endlich kennen lernen. Eigentlich ist sie schon etwas gebrechlich und war deswegen schon lange keine größeren Strecken mehr gereist. Aber schließlich hatte sie sich doch die Tour fest vorgenommen. »Ein letztes Mal«, hatte sie gesagt. »Ein letztes Weihnachten.« Wir wollten eigentlich zu ihr nach Kalifornien fliegen, aber sie hatte abgelehnt. »Die Heimat, ich will doch die Heimat nochmal sehen.« Das war aber an diesem Weihnachten unmöglich geworden. Es hatte über Nacht heftig geschneit und der Sturm nahm immer mehr zu. Der Fährbetrieb wurde am Morgen eingestellt und so saß die alte Dame nun allein im Hotel in Glasgow und konnte nicht nach Mull und wir konnten nicht zu ihr. Kathy brach es das Herz und das brach mir das Herz.

Ich schaute aus dem Fenster und konnte durch das dichte Weiß nicht einmal mehr den Ben More erkennen. Ich blickte Kathy an. Ich glaube, sie hatte geweint. Noch ein Blick nach draußen und wieder auf Kathy und der Entschluss war gefasst. Aus Liebe kann man manchmal etwas unglaublich Dummes tun. »Scheiß drauf«, sagte ich.

»Was?« Kathy schaute auf. Ich sah ihr in die Augen »Wir nehmen das Boot.« »Mitten im Winter und bei dem Wetter? Du bist verrückt!« Sie sagte das, aber ihre Augen sagten etwas anderes. »Wir lassen deine Oma da nicht alleine sitzen. Was soll schon sein?«

Was sollte schon sein? Wir hatten ein wirklich modernes Boot. Kartenplotter, AIS, Radar, natürlich Funk. Und einen starken Diesel für den Fall, dass man nicht Segeln konnte. So wie jetzt.

»Ist nur eine kurze Fahrt.« Ich versuchte, zuversichtlicher zu klingen, als ich war. »Wir nehmen einfach für die ganze Strecke bis zum Hafen in Oban den Diesel und dann ein Taxi nach Glasgow. Kein Ding. Abendessen mit deiner Großmutter.«

Bereits nach dem Runden der Mole und dem Verlassen des Hafens in Tobermory traf uns der Sturm mit voller Kraft. Kathy hatte sich an der Sorgleine eingepickt und hielt tapfer das Steuerrad, während ich noch die Instrumente checkte. »Oh je«, schrie sie, um den Wind zu übertönen »ich habe so einen Druck auf dem Ruder, das glaubst du nicht.« Ich übernahm kurz und dafür, dass wir keine Segel oben hatten, war der Druck wirklich unglaublich. »Wir fahren die längere Route, nördlich um die Insel, dann haben wir den Wind nur kurz von der Seite und sind nachher die ganze Zeit im Windschatten der Insel.« Kathy nickte. »Ich berechne uns einen neuen Kurs«, sagte ich und gab ein paar Zwischenmarkierungen in den Kartenplotter ein. Es ging zügig vorbei am Loch Sunart, der eigentlich eher ein Fjord ist und rund um die unbewohnte Nordspitze von Mull. Dann nach Südwesten. Querab Calgary konnten wir im Schneetreiben die Küste schon nicht mehr erkennen. »Jetzt einfach den Kurs halten und wird sind heute Nacht noch in Nordirland«, scherzte ich. Kathy sah mich mit gerunzelter Stirn an. Nach Scherzen war ihr nicht zumute. Sie sieht übrigens sehr süß aus mit gerunzelter Stirn. Manchmal bin ich etwas unsensibel. Ich setzte noch einen drauf: »Natürlich reicht der Diesel nicht bis dahin. Also wird’s bei dem Wind eher Halifax in Kanada. So in 2 Wochen dann.« »Ha, ha, sehr lustig«, machte Kathy und konzentrierte sich wieder auf das Display mit Karte und Kurs. Ein paar Minuten schwiegen wir. Das Anschreien gegen den Sturm war einfach zu anstrengend. »Ich mach uns mal einen heißen Kaffee«, sagte ich und nahm den Niedergang. Kaum war ich unten, rief Kathy mir hinterher und ihre Stimme ließ mir die Nackenhaare aufstellen. »Du Idiot! Das ist jetzt kein bisschen lustig! Mach das wieder an!« Ich hatte keine Ahnung, was ich getan haben sollte, und enterte wieder auf. »Alles in Ordnung?«, fragte ich und sah schon an Kathys Gesicht, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Stumm zeigte sie aufs Display. Dunkel. Kein Kurs. Keine Karte. »Mist. Ich war das aber nicht.« Ich war beunruhigt aber nicht zu sehr. »Sicher nur ein Wackelkontakt. Moment.« Ich verschwand wieder im Niedergang, um unter Deck nach der Ursache zu suchen, und hätte mir fast den Hals gebrochen. Die Kajüte war absolut dunkel. Ich fluchte. »Dauert etwas.« Rief ich Kathy zu. »Bleib erstmal auf Kurs, das hält uns von der Küste ab.« Ich öffnete die kleine Klappe in der Treppe vom Niedergang und wühlte in dem Fach nach einer Taschenlampe. Man ist ja präpariert. Im Kopf überschlug ich die Entfernung zur Küste. Die war im Moment keineswegs das rettende Ufer für uns, sondern eine tödliche Bedrohung. Das schlimmste, was einem Boot bei Sturm passieren kann, ist nicht, aufs offene Meer getrieben, sondern unter Land gedrückt zu werden. Und Mull hat auch noch Klippen an der Westseite. Da, die Taschenlampe! Ich knipste sie an und sag auf den ersten Blick das Unheil. Der Boden der Kajüte stand fünf Zentimeter tief unter Wasser. Ich kletterte wieder an Deck. »Kathy, wir haben ein Problem. Das Boot nimmt Wasser. Die Elektrik ist ausgefallen.« Kathy erstarrte. Man muss fairerweise sagen, dass Kathy eigentlich nur mir zuliebe mit dem Boot fährt. Sie wird zwar nicht seekrank, aber sie hat ein wenig Angst vor dem Wasser. Trotzdem hat sie ihren Bootsschein gemacht und begleitet auch gerne die Ausflugstouren. Sie liebt die Delphine. Das hilft. Aber jetzt hatte sie echte Angst, das sah ich ihr an. Ich versuchte, umso sorgloser zu wirken, um sie nicht noch mehr zu belasten. »Wird schon«, sagte ich. »Ich lenze das und rufe die Küstenwache, sobald wieder Strom da ist.« Das hätte ich besser nicht gesagt. Bis dahin hatte Kathy noch gar nicht realisiert, dass auch das Funkgerät tot sein musste. Ebenso wie das Radar und unser Signalgeber, das AIS. Ich lächelte ihr beruhigend zu und machte mich wortlos an die Arbeit. Zuerst lenzen.

 

Ich bediente die Hand-Lenzpumpe, deren Griff in der Backskiste im Cockpit noch problemlos zu erreichen war. Ich lenzte einige Minuten. Vor, zurück, vor, zurück. Der Rhythmus des Pumpens und das Gefühl, dass mit jedem Zug am Hebel einige Liter Wasser von Bord gingen, hatte zunächst etwas Beruhigendes. Im Schein der Taschenlampe konnte ich aber erkennen, dass das Wasser unter Deck nur unwesentlich oder gar nicht weniger wurde. »Ok, ich muss das Leck stopfen, wir nehmen zu schnell Wasser.« Ohne Kathys Reaktion abzuwarten, verschwand ich mit der Taschenlampe unter Deck. Hier mussten doch irgendwo die Leck Stopfen sein? Da. Ok, jetzt systematisch das Leck suchen. Ich stapfte durch das inzwischen wohl schon sieben Zentimeter hohe Wasser und hob die Bodenabdeckung in der Kajüte hoch. Erst in der Mitte, dann weiter vorn. Natürlich waren alle Schächte darunter ebenfalls voll Wasser und die Kabelverbindungen waren überspült. Da! Ein länglicher Riss im vorderen Bereich. Wir mussten unbemerkt irgendein Treibgut gerammt haben. Müßig, darüber nachzudenken, was da wohl bei jemandem über Bord gegangen war und wie viel Pech es war, in all diesem Wasser genau darauf aufgelaufen zu sein. Ich fluchte. Bei dieser Form des Lecks würden mir die Leckstopfen nichts helfen. Stattdessen watete ich ganz nach vorn bis zur Schlafkoje und raffte eine Decke an mich. Wieder zurück beim Leck drückte ich die Decke auf den Riss und warf zum Beschweren Schraubenschlüssel aus meinem Werkzeugkoffer darauf. Die Decke sog sich voll. Ich atmete auf. Besser als nichts.

Ich fing wieder an zu lenzen. Diesmal gelang es mir, das Wasser ein paar Zentimeter nach unten zu bringen. Allerdings nur das. Offenbar benötigte die Decke einen gewissen Wasserdruck von oben, um das Leck soweit zu verließen, dass nicht mehr Wasser von unten hineindrückte, als ich lenzen konnte. Ist das nun ein hydrostatisches oder ein hydrodynamisches Gleichgewicht schoss es mir durch den Kopf. Oh man, wie einen ein Studium nach all der Zeit noch versauen kann. Fast hätte ich nervös gelacht. Aber das konnte ich Kathy nicht antun. Stattdessen versuchte ich, möglichst sachlich zu klingen. »Ok, Kathy. Folgende Situation: Wir können den Wassereinbruch aufhalten, werden aber nicht wieder trocken. Die Elektrik ist damit erstmal tot. Der Motor hat noch für etwas über zwei Stunden Diesel. Wir können wegen des Wetters nicht auf Sicht navigieren. Wir können keine Hilfe rufen.«

Kathy nahm es gefasst. »Was machen wir also?«, fragte sie.

»Wir sehen erstmal zu, dass wir nicht auf eine Klippe laufen, also weiter geradeaus. Bitte halte noch etwa fünf Grad mehr nach Osten, um den geschätzten Windversatz auszugleichen. Und ansonsten halten wir uns an den Bootsnamen.«

Der Bootsname. »Fortitudine« - mit Tapferkeit. Das war das Motto des Clans von Kathys Mutter und wir beide fanden, dass es auch ein schöner Name für ein Boot war.

Eine Weile tuckerten wir im Schneetreiben mit reduzierter Geschwindigkeit stur auf demselben Kurs. Es wurde nun langsam auch merklich dunkler. Wann ging die Sonne unter? Kurz vor vier in diesen Breiten und im Winter. Ich sah auf die Armbanduhr. Verdammt!

Die Dunkelheit war aber nicht unser einziges Problem. Ich überlegte, ob wir den restlichen Diesel sparen mussten für den Fall, dass wir den Motor dringend brauchen, weil wir aufzulaufen drohen. Aber wenn wir den Motor abschalten, wird der Anlasser funktionieren? Der hängt direkter an der Batterie, als der Rest der Elektrik aber wer weiß? Ich hatte vorhin natürlich auch die Batterien gescheckt. Sie standen halb unter Wasser. Das sollte eigentlich noch gehen. Ich traf eine Entscheidung. Besser selbst und kontrolliert handeln, als nur Opfer der Umstände zu sein.

»Kathy, das kann noch eine Weile so gehen. Ich fürchte, wir müssen Diesel sparen. Ich schalte den Motor ab.« Kathy war am Steuerrad in Gedanken versunken und brauchte eine Weile, um zu merken, dass ich mit Ihr gesprochen hatte. »Was? Oh. Aber wenn wir treiben, erwischen uns doch Wind und Wellen von der Seite und sonst wie.« »Ich weiß«, sagte ich. »Nützt nichts, wir müssen Segel aufziehen.« Kathy erschrak noch mehr. Auf einem kleinen Boot rumturnen bei Sturm im Schneetreiben mit kalten Händen und der Angst im Nacken, dass jeden Moment voraus eine Klippe auftauchen könnte, war kein Spaß. Aber es nützte ja nichts.

Fortitudine - mit Tapferkeit sagte ich mir im Stillen und begann stur und systematisch vor mich hinzuarbeiten.

Ich löste das um den Vorstag gewickelte Vorsegel. Der Wind riss es mir in dem Moment, in dem ich es zusammenlegen wollte, aus der Hand und es verschwand mit einem letzten wedelnden Gruß im dichten Weiß in dem Schnee und See kaum noch auseinanderzuhalten waren. Egal. Ich holte die Sturmfock aus ihrer Verstauung, schleppte sie an Deck und schlug sie am Vorstag an. Dann löste ich die Persenning vom Großsegel und holte es so klein auf, wie es ging, also bis zum dritten Reff und rollte dann die Fock vorsichtig so weit auf, bis das Boot sich stabilisierte. Dann schaltete ich den Motor ab.

Stille. Nur noch der Wind. Kein beruhigendes Tuckern mehr. Ich löste Kathy am Ruder ab. Unter Segeln war der Druck auf dem Ruder wirklich schlimm. Kathy kauerte sich neben mir im Cockpit zusammen. »War’s das?«, fragte sie. »Sag ehrlich.« Ich schaute sie an. Die Wahrheit war, dass ich es nicht wusste. Die Chancen standen schlecht. Wir segelten aufs Geradewohl einen Kurs, der uns hoffentlich etwas von der Küste abhielt, aber nur so weit, dass wir wieder zurückkommen würden, wen der Sturm endlich nachließ. Wann würde das sein? Morgen früh? In vierzehn Tagen? Der Frischwassertank war im Winter nicht gefüllt. Der Ausflug war ja nicht geplant. Wir hatten ein paar Mineralwasserflaschen an Bord. Genug für wie viel Tage? Zwei, vielleicht drei?

»Schatz, wir stehen das durch«, sagte ich. »War schon schlimmer.« Das war eine glatte Lüge. Es war nicht schonmal schlimmer gewesen. Bei weitem nicht.

»Ich hab’ mal gelesen, Weihnachten ist der Tag im Jahr, an dem die meisten Menschen sterben. Dachte nur nicht, dass das so geht«, sagte Kathy. Ich grinste. Na also, wenn, dann mit Humor untergehen. Hoffentlich nicht im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hielt Kurs.

Nach einiger Zeit versank auch ich am Steuer in Gedanken, die Augen fokussierten den Kompass, die Hände führten automatisch die notwendigen Korrekturen aus, um auf die Nadel stur in ihrer Position zu halten.

»Mir ist kalt.« Kathy stand auf, schlug die Arme um ihren Körper und hüpfte etwas. Dann bliebt sie plötzlich wie angenagelt stehen. »Was ist das denn?« »Was?«, fragte ich träge. »Da, voraus. Ein Licht! Ich glaube, das ist ein Leuchtturm!« Ich seufzte. »Das wäre schön, aber an Rubha nan Gall sind wir nun ja lange vorbei und der Nächste steht auf Skye und das ist genau die andere Richtung.« Kathy ließ sich nicht beirren. »Schau doch!« Ich raffte mich auf und blickte über das Cockpitdach nach vorn. Tatsächlich. Ein schwaches Licht, das regelmäßig aufblinkte, war rechts voraus durch das Schneetreiben zu sehen. Das war unmöglich. Selbst wenn hier irgendwo ein Leuchtturm stehen würde – und das war nicht der Fall – konnte er niemals so hell sein, dass wir ihn bei dem Wetter sehen würden. Es sei denn, er stünde unmittelbar in der Nähe. »Halt drauf zu, bis wir sehen, wo wir sind«, sagte Kathy. Ich zweifelte. Direkt zum Leuchtturm konnte heißen, direkt auf die Klippen. Aber es war immerhin eine Chance. Wenn wir sehen konnten, wo wir waren, könnten wir vielleicht, nur vielleicht, am Ufer entlang in einen Hafen navigieren. Ich änderte den Kurs. Eine lange Zeit blieb das Leuchtfeuer stabil voraus. Eine viel zu lange Zeit. Wir konnten ihn unmöglich ursprünglich aus der Entfernung gesehen haben, die wir nun schon auf ihn zu gefahren waren. »Wir kommen nicht näher«, sagte ich zu Kathy, »vielleicht ein vorausfahrendes Schiff mit einer defekten Beleuchtung.« Kathy gab nicht auf. »Na und wenn schon. Wenn wir es einholen, können sie uns helfen.« »Ok, ich versuch’s und wir setzten unser letztes Diesel auf die Karte«, sagte ich. Mit einem soliden Brummen lief der Motor wieder an und ich schickte ein stilles Stoßgebet nach oben, dass der Anlasser getan hatte. Kathy hatte diesen Zweifel gar nicht gehabt. Nach fünf Minuten Fahrt ging das Licht vor uns aus. »Verdammt.« Ich konnte meine Augen so viel anstrengen, wie ich wollte. Nichts mehr. Kathy sackte zusammen. Aber da! »Land voraus«, sagte ich. Ich sagte es ruhig. Ich sagte es wie selbstverständlich. Ich bin der Skipper. Oh Gott, Land voraus, dachte ich, innerlich ein Nervenbündel. Wir sterben heute nicht. Direkt vorm Bug, keine fünfzig Meter, tauchte ein Anlegesteg aus der Dunkelheit auf. Neben dem Steg lagerten eine Menge Fässer. Dahinter tauchte eine weiße Halle vor einer Reihe grauen Backsteingebäude auf. Am Steg war ein großes Schild angebracht. »Bunnahabhain Distillery« stand darauf in roten Buchstaben. Ich habe nie ein schöneres Schild gesehen. »Mein Gott, wir sind bei Islay«, murmelte ich.

»Ja, und das ist also der Grund, warum wir jetzt hier bei Ihnen sitzen können, Greg.« Der Wächter der Destille im Weihnachtsschlaf an deren Steg nun unser Boot lag, hatte uns mit Wärme und einer guten, sehr guten und sehr alten Flasche Whisky in seinem Büro willkommen geheißen. »Ein Glück haben wir ihr Leuchtfeuer gesehen.« Greg runzelte die Stirn. »Leuchtfeuer? Ha, ha. Sowas haben wir nicht. Wozu auch? Das einzige Leuchtfeuer weit und breit, ist das da an der Wand.« Er zeigte auf ein altes Gemälde, das offenbar den gleichen Küstenabschnitt und die Destille zeigte, aber überragt von einem Leuchtturm auf dem Hügel hinter der Brennerei. »Das ist reine Phantasie«, sagte Greg. »Mein Großvater hat mir mal erzählt, dass der Maler ihm damals das Bild geschenkt hat und sagte, er fand’s einfach irgendwie richtig so. Mit Leuchtturm meine ich.« Ich stand auf, ging zum Bild und betrachtete es aus der Nähe. Die Signatur war klein und ganz in der Ecke, aber noch gut zu lesen. Acair Macrae. Ich drehte mich zu Kathy um. Es fiel mir schwer zu sprechen. Aber ich schaffte es. »Sag mal Kathy, dein Großvater, der nach Amerika gegangen ist und den ich nicht mehr gekannt habe … Acrair … war der nicht Maler?«

Aus Liebe kann manchmal Unglaubliches passieren.

So wie uns.

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