Single Malt Weihnacht

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Kathrine

Bianca Brepols

Der erste Schluck lief ihm die wohltuend die Kehle runter. »Wild Turkey«– seine liebste Whiskey-Sorte. Bourbon. Die hellgelbe Flüssigkeit leuchtete im Kerzenschein. Mehr Licht brauchte er nicht. Es war Heiligabend – und er war allein. Das erste Weihnachten ohne sie. Kathrine. Heute war es drei Monate her. Nachdem ihr Körper innerlich aufgefressen war, schlief sie abends ein und wachte nicht mehr auf. Jetzt war er allein auf der Farm - mitten in Kansas, dem »Sunflower State«.

Seine Söhne wollten keine Farmer werden. Also musste er, als sein Körper die Belastungen des Ackerbaus und der Viehzucht nicht mehr wegstecken konnte, die riesigen Felder verpachten und die Büffel verkaufen. Nur das Haupthaus und der Schuppen waren ihm geblieben. Dort befand sich sein liebstes Gefährt, der John Deere Modell 80 Diesel, gerade im Winterschlaf.

Heute hatte es geschneit. Das geschah nicht oft im Jahr. Knietief hatte er am Nachmittag in der weißen Pracht gestanden und auf seine ehemaligen Felder geschaut. Einmal Farmer, immer Farmer. Er vermisste die Arbeit mit den Tieren. Den Geruch von frischem Heu und Stroh. Der Bourbon erinnerte ihn daran.

Er blickte rüber zum Kamin. Das zweihundert Jahre alte Farmhaus besaß keine Heizung, keine Klimaanlage. Sie waren stets ohne Schnickschnack ausgekommen. Als Kathrine schwer erkrankte, kauften ihnen die Kinder ein schnurloses Telefon. Das einzige moderne Gerät in diesem Haus. Damit sie immer und überall nach Hilfe rufen konnten. Die nächsten Nachbarn wohnten eine Meile weit weg.

Jetzt lag es auf seiner Ladestation. Anrufe bekam er wenig. Viele seiner früheren Farmerkollegen waren verstorben oder weggezogen. Große Gesellschaften betrieben nun den »Brotkorb der USA«. Diese Entwicklung machte ihn traurig. Die Arbeit des Farmers wurde, seiner Meinung nach, immer weniger geschätzt.

Müde ging er die Treppen zu ihrem - jetzt seinem - Schlafzimmer hoch. Vorbei an der Wand, wo sein jüngster Enkel vor ein paar Jahren in einem unbeobachteten Moment seine »Kunst« direkt auf die Tapete brachte. Während die Eltern das Kind ausschimpften, hatte er gelacht und einen Holzrahmen um das Bild genagelt. Zu seinem Enkel sagte er, dass es das erste und letzte Bild sein würde, welches er ungebeten auf eine Wand malte.

Er zog sich um, putzte seine Zähne und legte sich ins Bett. Löschte das Licht und schlief ein. In dieser Nacht beschloss sein Herz, dass es Zeit war, Kathrine zu folgen.

Zwei Singles, ein Malt

Tobias Miller

Er half seiner blonden Begleitung galant aus dem schwarzen Mantel, bevor sie sich auf den Lederstuhl fallen ließ. Sofort war ich zur Stelle und nahm dem Gast das Kleidungsstück ab, um es an der Garderobe neben dem Eingang auf einen Bügel zu hängen. Ihr Haar verzierte den angerauten Stoff wie Goldfäden eine Uniform. Ich strich darüber und lächelte. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, verschwand ich hinter der Bar und bereitete den Aperitif vor. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich das Pärchen weiter. Die geröteten Lider der Dame verrieten eine schlaflose Nacht, die das Make-up nicht überdecken konnte. Doch der Lippenstift verlieh ihrem Lächeln eine Frische von Waldluft am Morgen. Nicht nur ich bemerkte das – es fing auch ihren Begleiter ein. Er vollführte eine linkische Handbewegung und setzte sich ihr gegenüber.

»Warum wohnst du im Hotel? Ich sehe dich viel zu selten.« Der raue Tonfall des Herrn im perfekt sitzenden Nadelstreifenanzug war unüberhörbar. Noch ist er nicht in diesem Moment angekommen, noch hat er nicht losgelassen. Ihn umgab weiterhin eine Aura, die es erschwerte, ihm zu widersprechen.

»Weil ich es so wollte.« Meine Mundwinkel zuckten. Ihre Stärke imponierte mir. Die knallroten Lippen formten die Worte mit aller Bestimmtheit, ohne einen Anflug von Ärger preiszugeben. Ich hing an ihnen und konnte mich nicht sattsehen. Er beugte den Oberkörper vor.

»Wie lange ist es her?« Er schenkte Wasser aus der Glaskaraffe ein.

»Das weißt du genau.«

Der Anzugträger nickte und senkte den Blick auf die Tischplatte.

»Eine Ewigkeit seit Paris.« Heiserkeit lag in seiner Stimme. Er räusperte sich und rieb sich ein Auge unter der Brille. In aller Stille polierte ich die Whiskeytumbler. Gemeinsam verloren sich unsere Blicke aus dem Fenster. Vom sechsundsechzigsten Stock betrachtet glichen die Häuser Spielzeugbausteinen. Einzelne Lichtpunkte aneinandergereiht zu endlosen Straßenzügen zeichneten ein chaotisches Muster auf die Erdoberfläche. Niemals erlaubten sie der Finsternis, auf die Stadt hinabzusinken.

»Das war eine wunderbare Auszeit«, flüsterte er, bevor er mit den Fingerkuppen sanft über ihre Hand strich.

»Hoffentlich vergeht nicht mehr so viel Zeit bis zu deinem nächsten Besuch.«

»Ich bin doch gerade erst angekommen«, schmollte sie. Er nickte.

»Hoffentlich bist du nicht enttäuscht. Wir feiern Weihnachten nicht so, wie du es ...«

»In dieser Stadt ist mir nie langweilig«, unterbrach sie ihn und deutete mit dem Blick auf den bunt erleuchteten Tokyo-Tower. Diesmal war er es, der eine Schnute zog. Ich schniefte auf und schüttelte den Kopf. Er hatte wohl erwartet, sie wäre wegen ihm gekommen.

»Wie war dein Flug?«

»Zu lang ... – ein tolles Restaurant. Danke.« Sie ließ den Blick durch den Saal schweifen und zupfte die Träger ihres Abendkleids zurecht.

»Alles in Ordnung?«

»Der Jet-Lag ... Die Zeitumstellung haut mich immer um.«

»Wie lange bleibst du? Das hast du mir über Skype nicht gesagt.« Sie schaute wieder aus dem Fenster, antwortete aber nicht.

»Wie geht es deinem Vater? Kommt er allein klar?«, fragte sie stattdessen.

Er neigte den Kopf von links nach rechts, was sein schwarzes Haar hin und herfallen ließ.

»Seit meine Mutter ihn verlassen hat, trifft er sich zweimal die Woche in einem Izakaya zum Kartenspielen. Er gewinnt immer ...«

Sie lachte lauthals auf und zwinkerte ihm zu.

»Das passt zu dem alten Schlitzohr.«

Er prustete los. Sie hatte es geschafft. Der knallharte Geschäftsmann hatte sich innerhalb von Minuten in einen fühlenden Menschen verwandelt.

»Siehst du Akira oft? Du sprichst nur noch selten von ihr.« Aus seinem Gesichtsausdruck entwich jede Fülle wie Luft aus einem kaputten Fußball.

»Sie ist mit ihrer Mutter nach Osaka gezogen ...«, sagte er mit gesenktem Blick.

»Ah, daher bist du öfter in der Zweigstelle.«

Er lächelte und wandte den Kopf kurz ab.

»Auch ...«

»Läuft die Firma gut?«

Eifriges Nicken. »Wir übernehmen gerade einen amerikanischen Konkurrenten. Ich werde in der nächsten Zeit öfter nach San Francisco fliegen.« Dabei lehnte er sich zurück und streckte sich über die Rückenlehne des Stuhls aus.

»Mmmhhh«, knurrte sie.

»Keine Angst, wenn du kommst, bin ich hier.« Er grinste breit, doch sie reagierte nicht darauf.

»Und bei dir?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Alles steht Kopf.«

»Klingt nicht begeistert.«

»Immer dasselbe. Die Firma will Stellen abbauen ...«

»Deine Abteilung ist wohl kaum betroffen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich überlege trotzdem, ob ich was anderes mache.«

Er zog die Brauen hoch und schaute sie gespannt an.

Lautlos pirschte ich mich an ihren Tisch und entzündete eine Kerze in der Mitte. Ich reichte die Aperitifs, die sie dankend annahmen.

Plötzlich vibrierte ihr Telefon.

»Ganz genau. Lagern Sie die Sachen bitte ein, bis ich mich melde.« Sie legte auf. Ihr Gegenüber wog den Kopf schräg. Sein jungenhaftes Gesicht verriet weder sein wahres Alter noch eine emotionale Regung. Nur die zusammengekniffenen Augen zeugten von Misstrauen.

»Mein Gepäck. Ich lasse es später liefern.«

»Wieviel hast du dabei?«, fragte er irritiert.

»Zu viel für einen Koffer ...«

Ihr Lächeln war aufrichtig, trotzdem verbarg sie etwas. War sie verlegen? Er bedeutete ihr mit der Hand, fortzufahren.

»Ich habe gekündigt.«

Der Herr im Anzug zuckte zurück. Mit geöffnetem Mund saß er da und hielt sich an der Tischkante fest.

»Ich verstehe nicht. Der Job kam bei dir immer an erster Stelle ...«, antwortete er einen Moment später.

»Ich fange neu an«, sagte sie felsenfest überzeugt.

»Mit weniger Gehalt.«

»Mit mehr Verantwortung.«

»Mit längeren Arbeitszeiten.«

»Mit freien Wochenenden.«

»Ohne Dienstwagen.«

»Mit weniger Reisen.«

»Was für ein Job soll das sein?« Die Schroffheit kehrte in seine Stimme zurück.

»Ich bin Großunternehmen leid. Es ist ein Mittelständler.«

Er wog den Kopf hin und her, als taumelte er wie Treibgut im Wasser.

»Wann?«

»Zum neuen Jahr.«

»Mmmh, du fliegst in ein paar Tagen zurück«, seufzte er. Sie griff in ihre Handtasche und wühlte darin umher. Unter dem Tisch blätterte sie in einem roten Büchlein, bis sie die Seite gefunden hatte. Sie legte sie ihm vor.

Ungläubig nahm der das Heft in die Hand. Erst lehnte er sich zurück, nickte dann aber anerkennend. Ehrfürchtig fuhr er mit den Fingern über das Visum.

»Du bleibst ...«

Er schaute sie mit leuchtenden Augen an, rieb sich mit der Hand das Kinn und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. Gebannt starrte er erneut auf das Dokument, um ihm all die Geheimnisse zu entlocken, die er noch nicht entschlüsselt hatte.

»Warum hast du nichts gesagt? Lass mich raten: Weil du nicht wolltest?« Er lachte auf.

 

»Mmmh.«

»Daraus soll einer schlau werden. Und wie geht’s weiter?«

»Die Firma vermittelt mir eine Wohnung. Bis dahin bleibe ich im Hotel.« In ihren Augen blitzte es, aber er schien ihr Spiel nicht zu durchschauen.

»Ah ...« Er reichte ihr den Pass. Eine Weile schwiegen sie und nippten an ihren Gläsern.

»Was hast du?«, fragte sie schließlich, um die Stille zu durchbrechen. »Ich dachte, du würdest dich freuen.«

»Ich freue mich ...«

»Aber?«

»In einem solchen Fall ...«

»Ja?«

»Du könntest auch zu mir ziehen ...«

Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. »Wir haben nie zusammen gewohnt.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich würd’s riskieren ...« Sie lachte herzhaft auf.

»Und was ist mit mir?«

»Du weißt, wie gut meine Miso-Suppe ist.«

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Deine Nudeln sind auch nicht von schlechten Eltern.« Sein Blick entspannte sich wieder und der Mund formte ein verschmitztes Lächeln.

»Wirst du Frankfurt nicht vermissen?«

»Ein wenig, aber das ist es mir wert.«

»Was ist dir was wert?«

»Mein neues Leben.«

»Mmmh. Und die nächsten Tage? Hast du Pläne?«

»Ein paar Wohnungsbesichtigungen ...« Sie wickelte die Haarspitzen um ihre Finger.

»Ah.« Er nickte verständnisvoll.

»Vielleicht kommst du ja mit?« Er verschränkte seine Hand in ihrer. Dann legte er den Kopf zur Seite und sagte: »Nimm etwas nach deinem Geschmack.«

»Ich kenne die Stadt nicht so gut.« Sie freute sich wie ein Kind über sein empörtes Gesicht. »Oooh, nein, das nicht«, prustete er heraus, »du bekommst keinen Touristenführer.«

»Aber ich möchte dich an meiner Seite.«

In diesem Moment rappelte er sich auf und winkte mir zu.

»Wir haben etwas zu feiern.«

Ich nickte verständnisvoll. »Darf ich etwas empfehlen?« Die Blicke des Paares hafteten auf mir.

»Yamazaki, 18 Jahre, Single Malt. Ein würdiger Toast auf das neue Leben.«

Er stockte und sah mich mit geweiteten Augen an.

»Ich lese Lippen. Entschuldigen Sie.« Ich trat einen Schritt zurück. »Ist nicht meine Art, Leute zu belauschen. Aber sie sehen beide so glücklich aus.«

Das Paar lächelte und nickte mir zu.

»Dann zwei Yamazaki«, sagte er. Darauf hob sie die Hand zum Protest und zeigte mit dem Finger in meine Richtung.

»Einen Doppelten. Das zweite Glas können wir uns sparen.« »Heißt das, ich soll ...?« Mit gerunzelter Stirn hob er die Schultern.

Ich eilte zur Bar und holte den edlen Tropfen aus einem Kabinett unter der Theke hervor. Geübt füllte ich einen Tumbler.

»Wenn du willst. Deine Wohnung ist doch eh zu klein für zwei.«

Kurze Zeit später reichte ich den Drink.

»Das Glück kommt zu denen, die lachen«, sagte ich und beide griffen zum Glas.

Uisge beatha

Aimée Ziegler-Kraska

Sie ward am heiligen Abend gesegnet

mit den Geistern des Landes.

Toniken auf ihrer Stirn.

Anschließend, Feierlichkeiten.

Wasser des Lebens

hinter jedem Lachen,

Torf und Heidekraut

unter der Zunge.

Familie heißt hier Clan.

Die Besucherin

Sarah Christiansen

Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sich Dirk auf sein Sofa fallen. Auf dem Couchtisch vor ihm standen ein Glas Wasser, ein gekaufter Adventskranz, an dem noch keine einzige Kerze entzündet worden war und eine Flasche richtig guten Whiskeys, den er nur zu besonderen Gelegenheiten hervorzauberte – und Heiligabend konnte man durchaus als eine »besondere Gelegenheit« bezeichnen. Neben ihm auf dem Sofa lag ein Roman, den er schon ewig hatte lesen wollen, für den er aber bisher keine Zeit gefunden hatte. Das sollte sich heute ändern. Er schenkte sich ein Glas Whiskey ein und nahm das Buch zur Hand. Wie lange war es her, dass er in seiner Freizeit tatsächlich nur zum Vergnügen ein Buch gelesen hatte? Sein stressiger Job ließ ihm normalerweise keine Gelegenheit für so etwas.

Dass er Heiligabend allein zu Hause verbrachte, war zum einen seinen Kollegen im Krankenhaus geschuldet, zum anderen dem Umstand, dass er keine Lust hatte, ihn mit seiner Familie zu verbringen. Diese hatte ihn wie jedes Jahr eingeladen und wie jedes Jahr hatte er leider absagen müssen – die Patienten brauchten ihn schließlich. Das lag nicht daran, dass er seine Familie nicht mochte. Im Gegenteil, er liebte sie alle sehr. Trotzdem war der Umstand, als einziger nicht verheiratet und kinderlos zu sein besonders an den Weihnachtsfeiertagen spürbar. Er fühlte sich dann immer etwas wie das fünfte Rad am Wagen und das wurde auch nicht dadurch besser, dass seine Schwester spätestens nach dem fünften Glas Wein begann, ihn mit unangenehmen Hinweisen auf sein Ungebundensein zu malträtieren. Deshalb hatte er vor einigen Jahren beschlossen, sich an Weihnachten stets freiwillig für die Arbeit zu melden. Dies war auch lange ein gut laufendes System gewesen: Seine Kollegen freuten sich über seine Aufopferungsbereitschaft und seine Familie besuchte er einfach im Anschluss an die Feiertage und überreichte seine teuren Präsente. Dieses Jahr hatten seine Kollegen ihm allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie hatten wohlmeinend seine Schichten übernommen und ihm gesagt, er solle auch mal an sich denken und Weihnachten mit seinen Liebsten verbringen. Selbstverständlich wollte er vor seinen Kollegen nicht zugeben, dass er lieber arbeitete, als Weihnachten mit seiner lieben, aber anstrengenden Familie zu feiern. Also hatte er sich brav bedankt und war nun Weihnachten zu Hause. Denn er hatte trotzdem nicht vor, zu seiner Familie zu fahren. Seine anfängliche Verärgerung wich aber schnell einer großen Freude, als ihm klar wurde, dass er nun drei Tage komplett zur freien Verfügung hatte.

Nun saß er also glücklich und zufrieden auf der Couch und freute sich über die gewonnene Lebenszeit. Er hatte bereits zwei Gläser Whiskey getrunken und die ersten zwanzig Seiten gelesen, da klingelte es plötzlich an der Tür. Sein erster Impuls war, sich tot zu stellen und einfach nicht hinzugehen, denn er erwartete niemanden. Doch dann übernahm der Arzt in ihm die Oberhand und mahnte, dass es sich vielleicht um einen Notfall handelte. Welchen anderen Grund konnte es geben, Heiligabend uneingeladen an der Tür zu klingeln? Er schlich auf leisen Sohlen zur Tür und blickte zunächst durch den Spion. Er sah eine blasse, junge Frau. Diese sah weder verletzt noch gefährlich aus. Nach einem kurzen inneren Ringen öffnete er schließlich.

»Hallo«, sagte er. »Hallo«, antwortete die Frau. »Kennen wir uns?«, fragte Dirk, dem die Situation ein wenig unangenehm war. »Ich war mal Patientin bei Ihnen«, antwortete die Frau. Sie sprach sehr leise und blickte an ihm vorbei in das Innere der Wohnung. »Kann ich kurz reinkommen?«, bat sie. Dirk, der eigentlich sehr ungern fremde oder, wenn er ehrlich war, auch bekannte Menschen in die Wohnung ließ, trat, sehr zu seinem eigenen Erstaunen, einen Schritt zurück und machte eine einladende Geste. Sie ging an ihm vorbei und schnurstracks ins Wohnzimmer, ohne sich vorher der Schuhe oder des Wintermantels entledigt zu haben. Dort setzte sie sich auf die Couch. Dirk folgte ihr etwas zögernd und zunehmend überfordert und setzte sich schließlich neben sie. Er nahm das Whiskeyglas zur Hand und drehte es unschlüssig in den Händen. Dann fragte er: »Möchten Sie vielleicht auch etwas trinken?« Die Frau schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Hände. Also füllte er sich selbst etwas ein und nahm einen Schluck. Er wartete darauf, dass sie etwas sagen würde und musterte sie etwas verstohlen. Doch sie blieb stumm. Er betrachtete ihr langes, dunkles Haar, das ihr Gesicht halb verdeckte, und ihre zierliche Figur. Endlich räusperte er sich und fragte: »Also, was führt Sie zu mir?« Sie sah auf und blickte ihm in die Augen. Aus irgendeinem Grund machte ihn das noch nervöser. Ihr Blick war nicht bohrend, aber trotzdem beunruhigte er ihn. Er hoffte, dass sie nicht merkte, welche Wirkung sie auf ihn hatte. Sie sprach wie zuvor mit leiser Stimme: »Ich wollte Sie besuchen.« Was soll das bedeuten? Warum?, dachte er. Laut sagte er nur: »Ach so …« und trank verlegen noch etwas Whiskey. Trotz des Alkohols war er nach wie vor nervös und von der Situation überfordert. Und wie so oft, wenn er unruhig war, begann er, sehr schnell und sehr viel zu reden. Er erzählte von dem Inhalt des Romans, den er gerade las, und zeigte dabei auf das Buch. Schließlich schweifte er ab und gelangte über Umwege zu seinem Lieblingsthema bzw. -forschungsgebiet: den Herzgefäßerkrankungen.

Er berichtete lang und ausschweifend, teilweise wild gestikulierend und mit zunehmendem Enthusiasmus. Während er auf dem Sofa hin und her wogte und sich begeistert in Details verlor, blieb die Frau ruhig sitzen und musterte ihn aus großen Augen, wobei ihre Lippen ein leichtes Lächeln umspielte. Als er schließlich in seinem Redeschwall das Wasserglas umstieß, zuckte sie nicht einmal. Er entschuldigte sich, stand auf und holte einen Lappen. Als er wiederkam, hatte sie sich immer noch nicht bewegt, sondern saß nach wie vor in derselben Position, in der sie schon die ganze Zeit über gesessen hatte. Die Beine standen auf dem Boden auf, die Hände lagen in ihrem Schoß gefaltet. Nicht einmal ihren Wintermantel hatte sie geöffnet. Dirk bekam langsam beinahe etwas Angst vor dieser Frau. Wer war sie? Was wollte sie von ihm? Er trank noch mehr Whiskey und versuchte sich zu erinnern, ob er sie schon einmal gesehen hatte. Er bemühte sich außerdem, eine Unterhaltung in Gang zu bringen und stellte ihr einige Fragen, doch sie antwortete einsilbig und ausweichend. Immerhin erfuhr er ihren Namen: Runa. Das war ja schon einmal was, vielleicht konnte er mit dieser neuen Information seinem Gehirn irgendeine Erinnerung abtrotzen. Leider war mit dem nicht mehr viel anzufangen, denn er bemerkte, wie ihm der Alkohol langsam zu Kopf stieg. Alles schien immer verschwommener, beinahe unwirklich und er bemerkte peinlich berührt, dass er auf einmal zu lallen begann. Die Frau schien das nicht zu stören. Sie saß weiterhin einfach ruhig da. Dafür machte sich bei ihm eine immer stärker werdende Unruhe, ja beinahe eine gewisse Paranoia breit. Seine verwirrten Gedanken kreisten nur noch um die Frau. Vielleicht kannte er sie nicht, weil sie gar keine Patientin von ihm war. Vielleicht war sie vielmehr die Angehörige eines seiner Patienten. Eines Patienten, der vielleicht gestorben war ..., das kam leider immer mal wieder vor. Aber vielleicht lastete sie ihm dessen Tod an. Vielleicht war sie gar gekommen, um sich zu rächen. Oder – sein Herz begann mit einem Mal wild zu pochen –, vielleicht war sie selbst nicht mehr am Leben. Tot, gestorben unter seiner Hand. Manchmal starben schließlich auch junge Menschen. Nun suchte sie ihn zu Weihachten, an Heiligabend als Geist heim. Geister, die einen an Heiligabend besuchten. Gab es da nicht entsprechende Geschichten? Ja, das musste es sein. Alles passte zusammen: Sie hatte nichts gegessen, sich kaum bewegt, nichts berührt. Ein weiteres Indiz waren ihre Augen. Er hatte die ganze Zeit versucht, ihre Augenfarbe zu bestimmen. Doch diese schienen ihr Geheimnis wahren zu wollen, denn es war nicht zu erkennen, ob sie grau, braun, grün oder gar blau waren.

Wer könnte diese Frau nur sein? Er zermarterte sein Gehirn nach Hinweisen, doch die Gedanken waren wie zähflüssiger Schleim, der mühsam durch seine Gehirnwindungen kroch.

Plötzlich war da ein verschwommenes Bild. Kitschige Weihnachtsdeko auf der Station. Es war Heiligabend, normalerweise immer ein entspannter Dienst, doch diesmal war es anders. Er war von einem Notfall zum nächsten gerannt. Stress, Panik. Dazwischen immer wieder Patienten, die wegen Nichtigkeiten da waren. Die nervten ihn immer besonders, da sie ihm die Zeit für die wirklich dringenden Notfälle wegnahmen. Irgendwann kam in diesem Getümmel ein Mädchen, besser gesagt eine junge Frau in die Notaufnahme. Er konnte sich nicht mehr genau an ihr Aussehen erinnern, einzig ihre langen, dunklen Haare, in denen sie für ihr Alter viel zu kindliche Haarspangen mit lachenden Weihnachtsmännern trug, waren ihm in Erinnerung geblieben. Es waren dieselben, mit denen seine kleine Nichte häufig in der Vorweihnachtszeit ihre Haare schmückte. Wer sie begleitet hatte, wusste er nicht mehr genau. Vielleicht die Eltern? Oder eine große Schwester? Sie klagte in jedem Fall über starke Bauchschmerzen und Übelkeit, außerdem hatte sie Kopfschmerzen. Er hatte sie kurz untersucht und es schien alles auf eine Magen-Darm-Grippe hinzudeuten, die zu diesem Zeitpunkt gerade im Umlauf war. Diesen Verdacht äußerte er auch gegenüber der Assistenzärztin, in deren Hände er die Patientin übergab, als er zu einem weiteren Notfall gerufen wurde. Diese verschrieb dem Mädchen etwas gegen die Symptome und schickte sie nach Hause. Er hatte dann keinen Gedanken mehr an die Patientin verschwendet, bis er am nächsten Abend wieder zum Dienst erschienen war und erfahren hatte, dass sie gestorben war. Sie war von ihrem Ex-Freund vergiftet worden und er hatte das nicht erkannt. Die Familie hatte davon abgesehen, das Krankenhaus zu verklagen, gab ihm aber eine Mitschuld am Tod der jungen Frau. Auch wenn ihm alle sagten, dass ihn keine Schuld träfe, hatte er sich sehr schuldig gefühlt. Sein Umgang damit hatte, wie immer in problematischen Situationen, darin bestanden, viel zu arbeiten und unangenehme Gedanken beiseitezuschieben. Nun stürzte das mühsam Verdrängte wieder auf ihn ein. Er schüttelte den Kopf und versuchte wieder in die Gegenwart zurückzugelangen.

 

Mühsam blinzelte er die Frau auf dem Sofa an. Es fühlte sich an, als würde die ganze Welt schwanken, ihm wurde schwindelig. Die Besucherin rührte sich nicht, verzog keine Miene. Mittlerweile war er sich sicher, dass sie ein Geist war. Wenn er sie berührte, wäre da vermutlich kein Fleisch, kein Widerstand, nur Luft. Sein vernebelter Verstand machte ihm klar, dass es nur eine Möglichkeit gäbe, wieder zu Seelenruhe zu finden: Er musste versuchen, die Frau zu anzufassen. Nur so konnte er sich Gewissheit verschaffen. Also nahm er einen letzten Schluck Whiskey, um genügend Mut für sein Unterfangen zu finden. Dann stellte er das Glas unkoordiniert wieder auf den Tisch, fixierte die Frau mit beiden Augen, streckte seine Hand in ihre Richtung und beugte sich vorsichtig nach vorne. Im nächsten Moment raste ihm der Wohnzimmerboden entgegen und er fiel mit dem Gesicht zuerst auf den kratzigen Teppich. Dann wurde alles schwarz.

Er erwachte mit einem widerlichen Geschmack in seinem Mund und rasenden Kopfschmerzen. In der Wohnung war es taghell und er schloss seine gerade erst geöffneten Augen direkt wieder, als ihm das Licht mitten hinein stach. Schließlich öffnete er sie doch. Er lag auf dem Sofa, jemand hatte ihm eine Decke über die Beine gelegt. Langsam kam die Erinnerung zurück: Heiligabend, die geheimnisvolle Frau. Er fuhr mit einem Ruck hoch – und bereute die unvorsichtige Bewegung sofort wieder, als ihn der Kopfschmerz durchzuckte. Er sah sich vorsichtig um, die Besucherin schien verschwunden zu sein. Dafür sah sein Wohnzimmer aus, als wäre ein Tornado hindurchgezogen. Alle Schubladen waren aufgezogen und durchwühlt worden, der Inhalt sämtlicher Schränke ergoss sich auf dem Boden. Er tastete nach dem Glas Wasser, das neben ihm auf dem Tisch stand. Als er es zu fassen bekam, merkte er, dass es leer war. Stimmt, er hatte es gestern Abend umgestoßen. Schwankend erhob er sich und schleppte sich in die Küche, um es wieder aufzufüllen. Unterwegs machte er eine Bestandsaufnahme der Wohnung und stellte fest, dass sich ihm überall dasselbe Bild darbot wie im Wohnzimmer. Alles schien gründlich auf den Kopf gestellt worden zu sein. Was war hier nur passiert? War das die Frau gewesen? Und wohin war sie verschwunden? War sie überhaupt jemals wirklich da gewesen? Plötzlich kamen ihm die Ereignisse der letzten Nacht total unwirklich vor. Vielleicht hatte er sich einfach total zulaufen lassen und die Episode mit der Frau nur geträumt. Aber wer hatte dann seine Wohnung durchwühlt? Er ließ Wasser in das Glas laufen und leerte es in einem Zug, dann schob er sich eine Tiefkühl-Pizza in den Ofen. Wenn er schon einen Kater hatte, wollte er auch ein Katerfrühstück. Nachdem er die Pizza gegessen hatte, fühlte er sich schon etwas besser. Langsam begann auch sein Kopf wieder zu funktionieren und ihm kam der Gedanke, dass jemand bei ihm eingebrochen haben musste. Deshalb schaute er sich als Nächstes alles systematisch an. Und tatsächlich: Es fehlten sämtliche Wertgegenstände. Allen voran sein Fernseher, Laptop und Handy. Ein Gang in die Speisekammer zeigte aber auch, dass sämtliche Whiskey- und Weinflaschen verschwunden waren.

Sein kaum benutztes Haustelefon war noch da. Mit dem rief er die Polizei an. Ein genervter, aber auch etwas gelangweilt klingender Beamter meldete sich. »Ähm … ja, hallo. Bei mir ist irgendwie eingebrochen worden«, stotterte Dirk. »Irgendwie? Was soll das heißen? Wurde nun eingebrochen oder nicht?«, fragte der Beamte. Dirk ärgerte sich über seine eigene Unsicherheit, atmete tief durch und sagte: »Meine Wohnung wurde durchwühlt und Wertsachen wurden entwendet.« »Das klingt nach einem Einbruch. Haben Sie einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?« Dirk zögerte kurz, denn er war sich immer noch nicht sicher, ob die Frau von letzter Nacht wirklich dagewesen war, aber er konnte dem Polizisten schlecht von seinem Verdacht erzählen, dass ihn ein Geist heimgesucht hatte. Schließlich sagte er: »Eine Frau, die ich nicht kannte, hat mich gestern überraschend aufgesucht. Ich habe etwas viel getrunken, bin eingeschlafen und am nächsten Morgen war sie verschwunden und mit ihr meine Wertsachen.« Der Beamte schwieg kurz, dann fragte er: »Haben Sie Ihr Glas zu irgendeinem Zeitpunkt unbeobachtet gelassen?« »Ähm … was?« »Ob Sie Ihr Glas oder Getränk mit der Frau allein gelassen haben?« Dirk dachte nach und erinnerte sich verschwommen, wie er sein Wasser umgestoßen hatte und kurz in die Küche gegangen war, um einen Lappen zu holen. »Ja, ich bin einmal kurz rausgegangen«, antwortete er, während es ihm langsam dämmerte. »Dann hatten Sie Besuch von der Honigtopf-Bande. Die gehen immer gleich vor. Sie suchen sich einen alleinstehenden Mann und beobachten ihn. Dann schicken sie die Frau. Diese bezirzt den Mann und verabreicht ihm ein Betäubungsmittel. Ist das Opfer ausgeknockt, lässt sie die anderen Mitglieder der Bande in die Wohnung und die räumen sie dann entspannt aus. Geben Sie mir Ihre Adresse. Ich schicke Ihnen meine Kollegen vorbei.«

Nach dem Gespräch legte Dirk auf und setzte sich aufs Sofa. Einen Moment lang starrte er vor sich hin. Schließlich begann er zu kichern. Das Kichern steigerte sich dabei nach und nach, bis sich sein Körper in einem beinahe hysterischen Lachen schüttelte. Die Frau war kein Geist, kein dunkler Racheengel gewesen, der ihn an Heiligabend heimgesucht hatte. Im Gegenteil: Sie war eine ganz einfache Kriminelle, spezialisiert auf alleinstehende Männer. Ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung machte sich in ihm breit.

Da fiel ihm ein, dass gleich ein paar Polizisten kommen würden und er sprang auf. Er sah bestimmt furchtbar aus. Bevor sie kamen, wollte er sich wenigstens noch kurz frisch machen. Er stellte das Radio an, aus dem Weihnachtsmusik ertönte. Leise summend ging er zum Badezimmer und öffnete die Tür. Sie ging nur einen Spalt breit auf, dann klemmte etwas unter ihr fest und verhinderte, dass sie sich weiter öffnete. Mit einem gezielten Tritt beförderte er den Gegenstand unter der Tür hervor, dieser schlitterte ein Stück über den Boden und kam dann in einer Ecke des Wohnzimmers klirrend zum Liegen. Erleichtert ging Dirk ins Badezimmer und schloss die Tür wieder hinter sich, ohne einen weiteren Blick auf den Gegenstand zu werfen, der nun direkt neben seinem Sessel lag. Dabei hätte ihn dieses spezielle Objekt durchaus interessieren können, denn es war eine nun leicht verbogene einzelne Kinderhaarspange mit einem fröhlich lachenden Weihnachtsmanngesicht.