Wer regiert die Schweiz?

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DIE
WIRTSCHAFT
KÄMPFT
VOR ALLEM
MIT SICH SELBST.

Der Wirtschaftsdachverband schaffte es selbst nach der Jahrtausendwende, neun von zehn Volksabstimmungen zu gewinnen. Zuverlässig wechselten sich Economiesuisse und Gewerbeverband darin ab, wirtschaftspolitisch wichtigen Wahlgängen ihren Stempel aufzudrücken – mit Kampagnenkassen bis zu zwei Millionen Franken bei weniger bedeutsamen Themen, mit bis zu fünf Millionen Franken für mittlere Kampagnen und mit bis zu acht Millionen Franken für wirtschaftspolitische Kernfragen. Auch im Parlament behalten Know-how, Glaubwürdigkeit und Finanzkraft von Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen viel von ihrer Wirkung. Die Verbände können Gesetzesvorhaben bereits im Entwurfsverfahren eng begleiten; sie pflegen gezielt ganze Parlamentariergruppen, von der Frühstücksveranstaltung über das Kaffeegespräch bis hin zum «Themen-Dinner»; und in jeder Session bringen sie den Volksvertretern mit ausgefeilten Informationspaketen samt Stimmempfehlung die eigenen Interessen nahe. In der grossen politischen Arena von Nationalrat, Ständerat und Volk – dies hat zum Beispiel der Politologe Manuel Fischer nachgewiesen – schafft es eine Mitte-Achse aus FDP, CVP und Economiesuisse mit beeindruckender Regelmässigkeit, die nötigen Pakte für die Anliegen der Unternehmen zu schliessen.

Das Hebeln mit der Macht ist schwieriger geworden für die Wirtschaft, gewiss. Die Politik scheint unberechenbarer. Kaum einer würde es in der Gegenwart noch wagen, den Staat als «Schweiz AG» zu bezeichnen – nachdem mit dem geflügelten Begriff in den 1990er-Jahren noch regelmässig das Verhältnis von Politik und Wirtschaft umschrieben worden war. Die AGs sind Teil des Landes, prägend, aber nicht mehr. Sie stehen in einem verschärften Konkurrenzkampf mit anderen Gruppen, Organisationen und Kräften. Und vor allem im Kampf mit sich selbst.

DIE POLITIKER

Das Bundesparlament und die Parteien hätten viel zu sagen. Aber sie knebeln sich gern selber.

Die Regierung regiert. Das Parlament überwacht die Regierung und beschliesst die Gesetze. Die Justiz überwacht die Einhaltung der Gesetze. Die Parteien bündeln die Strömungen im Land und teilen auf, welche Weltanschauung wie viel Einfluss haben soll. In diesem Viersatz der Staatskunde wirkt die Macht geregelt und zugleich verteilt, sie wird fassbar und doch kontrolliert: Checks and Balances. Aber wer mehr Anteile hat, soll mehr zu sagen haben im Staat.

In der Wirklichkeit jedoch wabert die Macht irgendwie zwischen diesen Institutionen und Verteilschlüsseln. Wer in der Schweiz mitbestimmen will, kann dies auch in den Zwischenräumen der staatlichen Ordnung tun. Keiner zeigt dies besser als Christoph Blocher. Der Unternehmer aus dem Kanton Zürich, geboren 1940, war der wirkungsvollste Schweizer Politiker der vergangenen Jahrzehnte: Darin sind sich Gegner wie Fans recht einig. Doch stets lag dieser Mann schräg in der politischen Landschaft. Er machte die SVP zwar zur einflussreichsten Partei im Land – aber er amtierte dabei meist nur als Präsident der Zürcher Kantonalpartei, am Ende als «Strategiechef» und als Vizepräsident. Er schaffte es zwar in den Bundesrat, aber sein Wirken als Justizminister blieb kurz und vergleichsweise unauffällig. Er sass zwar zwischen 1979 und 2014 mit Unterbrüchen im Nationalrat, aber dort fiel er – über die ganze Zeit gesehen – eher selten durch viel Präsenz, besonderen Fleiss, wichtige Vorstösse oder legendäre Reden auf. Fraktionschef war er nie, und der einflussreichere Ständeratssitz blieb ihm verwehrt: Eine Volksmehrheit konnte er nicht hinter seine Person scharen.

Zugleich rüttelte Christoph Blocher mit selbst geschaffenen Gruppierungen am Land: so mit der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» (Auns, gegründet 1986), dem «Komitee Nein zum schleichenden EU-Beitritt» (gegründet 2013) sowie zahlreichen Ausschüssen bei einzelnen Volksabstimmungen. Die mächtigen Wirtschaftsverbände mied er dann allerdings wieder, und Beziehungs-Verwaltungsratssitze hatte er nur zu Beginn seiner Karriere. Als Nationalrat Blocher in seiner letzten Legislaturperiode die Interessenbindungen offenlegte, räumte er nur gerade zwei Familienfirmen, seine Beteiligung bei der «Basler Zeitung» sowie sein Engagement für zwei regionale Kulturstiftungen ein. Selbst Hinterbänkler haben mehr Mandate.

Im Mai 2014 verkündete Christoph Blocher seinen Rücktritt aus dem Nationalrat mit der Begründung, er «verplemperle» dort eh nur seine Zeit: «Das Parlament hat sich so verbürokratisiert und veradministriert. Das sind praktisch nur noch Berufsparlamentarier. Die machen Sitzungen über völlig nebensächliches Zeugs.»

Zweifellos: Da traf er einen Punkt. Im Kern des Parlamentsbetriebs steht die dröge Kommissionsarbeit, wo die Volksvertreter vielleicht in der Eröffnungssitzung noch weltanschauliche Ansichten vortragen – um danach stunden-, abende- und tagelang um Details zu schachern: «Wenn ihr diese Formulierung bei Litera C zurücknehmt, akzeptieren wir bei 27 den ganzen Rest.» So wird am Kooperationsabkommen für das Satellitenprogramm Galileo, an der Zulassung für Neonicotinoide oder an der Motion «Solardächer statt Schutzraumpflicht bei Neubauten» gefeilt – derart wird Macht in der Realität umgesetzt. Bereits die grossen Redeschlachten im Plenum sind Randphänomene im Leben der Parlamentarier, auch im Nationalrats- und Ständeratssaal geht die meiste Arbeitszeit für Paragrafen- und Verfahrensgefeilsche drauf.

Neu ist das nicht. Solche grauen Zustände prägen den Parlamentsbetrieb seit der Staatsgründung im 19. Jahrhundert. Korrekt an Blochers Diagnose war indes, dass sich der Betrieb professionalisiert hatte; zum Beispiel leistete sich das Parlament im 21. Jahrhundert mehr ständige Kommissionen statt irgendwelcher Ad-hoc-Ausschüsse, die sich ihre Protokolle von einem Staatssekretär (vor-)schreiben liessen. Korrekt war auch, dass der reine Milizparlamentarier seltener geworden war, wobei aber gerade damals, im alten Nebenamts-Parlament, dubiose Machtballungen wuchern konnten – unter den Verbandsgesandten, Politik-Direktoren, Kantonsdelegierten, Verwaltungsrats-Sitzern und Interessengruppen-Räten. Nicht umsonst hatte Hans Tschäni 1983 gegen die «Zwillinge Miliz und Filz» gewettert.

DAS PARLAMENT WIRD
LÄRMIGER. DIE
UNRUHE
IM LAND STEIGT.

Korrekt war ebenfalls, dass die Volksvertreter selber immer mehr Themen aufs politische Tapet brachten – darunter massenhaft «völlig nebensächliches Zeugs». Die Zahl der parlamentarischen Initiativen, Motionen, Postulate und Anfragen stieg über die Jahrzehnte stetig an, sodass 2014 mehr als 2000 Gesetzesvorgaben und Geschäfte im Parlamentsgebäude darauf warteten, abgetragen zu werden. Es war ein unbezwingbarer Berg. Ein Berg, vor dem der einzelne Politiker, ja selbst eine Fraktion zwergenhaft erschienen: Wer sollte denn unter diesem Hausaufgabenwust effektvoll die Schweiz regieren?

Das Milizsystem am Anschlag

Georges Theiler von der FDP hatte schon im Jahr 1999 einen «Vorstoss gegen die Vorstossflut» lanciert. Darin brachte der Luzerner Volksvertreter das Kernproblem in drei Sätzen auf den Punkt: «Die Anzahl der eingereichten Vorstösse beträgt pro Jahr etwa tausend. Diese Flut führt dazu, dass die Wirkung der Vorstösse gegen Null zu sinken droht. Damit raubt sich das Parlament seine eigenen Instrumente.» Ironischerweise scheiterte der Antrag daran, dass das Parlament nicht fähig war, ihn in der vorgeschriebenen Frist zu behandeln. 2009 setzte Theiler mit einer parlamentarischen Initiative nach, ein Jahr später folgte This Jenny (SVP) mit einer «Motion zur Eindämmung der Flut persönlicher Vorstösse» – alles ohne Erfolg. Die Volksvertreter dachten nicht daran, sich zu beschränken.

Was entstand, war eine gesetzgeberische Hektik, in der einerseits die Parlamentarier eifrig vorstiessen, initiierten, motionierten – sodass andererseits der Freiraum der Bürger tatsächlich enger zuparagrafiert wurde. Im Frühjahr 2014 wies die «Neue Zürcher Zeitung» nach, wie das Hüst und Hott insbesondere das Strafrecht erfasst hatte: Seit 1970 war das Strafgesetzbuch nur vereinzelt angepasst worden, ab den 1990er-Jahren jedoch häuften sich die Neuerungen. Nach 2000 gab es in fast jedem Jahr mehr als drei Revisionen, zweimal waren es sogar deren acht. «Wir bauen Gesetze in immer höherer Kadenz. Wenn wir nicht bremsen, müssen wir aufschreiben, was noch erlaubt ist», liess sich der Aargauer Nationalrat Beat Flach (Grünliberale) zitieren. Georges Theiler diagnostiziert, es fehle den Politikern der Mut zur gesetzgeberischen Lücke: «Offensichtlich herrscht die Illusion vor, man könne menschliche Fehlleistungen mit Gesetzen kontrollieren.»

Es ist kein Zufall, dass die Hektik gerade das – weitherum beachtete – Strafrecht erfasst hat. Viele erklären den gesetzgeberischen Eifer mit dem Wunsch der Volksvertreter, populistisch aufzufallen: Sie machen Parlamentsarbeit für die Schlagzeilen, Paragrafen für die Galerie. Obwohl die Medien, wie sich noch zeigen wird, gar nicht so entscheidend sind für eine Politikerkarriere, fühlen sich die Volksvertreter einem politisch-medialen Komplex zugehörig, in dem sich beide Seiten innig miteinander beschäftigen; dabei verkehrt man praktischerweise oft per Du. Der Versuchung, der Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit eine süffige Gesetzesidee zu servieren, ganz gleich, ob diese auch wichtig ist, konnten in den letzten Jahren wenige widerstehen. Bei der Wirkung haperte es dann allerdings, wie Georges Theiler zu Recht geahnt hatte. Die Politologen Daniel Schwarz und Adrian Vatter haben errechnet, dass der überwiegende Teil der parlamentarischen Initiativen und Motionen scheiterte. Die Erfolgsquote lag irgendwo zwischen 10 und 15 Prozent.

 

Man kann es jedoch auch positiv formulieren: Das Parlament, die direkteste Vertretung des Volkes, erhebt heute seine Stimme gegenüber Regierung und Verwaltung um einiges lauter. Auch das trägt bei zu einer erhöhten Unruhe im Staat Schweiz – einem Phänomen, das hier noch öfters auffallen wird. Seit je pochten Schweizer Parlamentarier auf ihre Unabhängigkeit, sie waren Berufs-, Branchen-, Kantons-, Gemeinde-, Verbands-, Eigeninteressen- und Weltanschauungs-Vertreter – keineswegs nur Parteisoldaten. Fraktionsdisziplin war eher mühsam herzustellen, zumal im Vergleich mit Nachbarländern wie Deutschland oder Frankreich, wo das Regierungs-Oppositions-System an sich schon Lagerdruck ausübt. Wirklich problematisch geworden ist die Buntscheckigkeit innerhalb der Schweizer Parteien zwar nicht; im Nationalrat stimmten die Fraktionen nach 2010 sogar geschlossener als in den 1990er-Jahren. Aber zur gewohnten Eigenwilligkeit der Volksvertreter kam, dass die Teamfähigkeit der Parteien gelitten hat. Der alte bürgerliche Bundesratsblock aus FDP, CVP und SVP zerbrach nach 1992, und je nach Thema entstanden andere Parteipäckchen – Päckchen, die manchmal die Akteure selber erstaunten. SVP, CVP und FDP stimmten in der Legislatur 2011–2015 bloss noch bei einem Drittel der Nationalratsentscheide gemeinsam. In 24 Prozent der Fälle verbündeten sich FDP und CVP mit den Sozialdemokraten gegen die SVP. In 13 Prozent der Abstimmungen trat eine Mitte-Links-Verbindung (CVP plus SP) gegen eine Mitte-Rechts-Paarung (FDP plus SVP) an; dies ergaben Auswertungen der Parlaments-Watchsite «Smartmonitor».

AUSGERECHNET
DIE WAHLVERLIERER
GEWINNEN
AN MACHT.

Vereinzelt trafen sich gar Sozialdemokraten und Grüne mit den Volksparteilern zur gemeinsamen Blockade. So geschehen 2013 bei einem aufwendig erarbeiteten Sparpaket, welches die Rechte ablehnte, weil sie noch mehr Streichungen wünschte, und die Linke, weil ihr die Sache zu weit ging. Halbwegs nachhaltig wirkten die Links-Rechts-Sperren allerdings nur in einem Feld, nämlich bei der Kontrolle von Banken und Finanzplatz. Hier ergänzte sich die linke Kapitalismuskritik mit einer bodenständigen Skepsis gegenüber der internationalen Hochfinanz. So dass nach 2008 genügend Druck entstand, um in mehreren Gesetzesbestimmungen den Freiraum der Geldbranche zu beschränken. «Du, ich vertrete hier die Bahnhofstrasse»: Auf solch eine Anweisung hätte der SVP-Politiker nun nur noch mit Spott reagiert.

In der wackligeren Lage wurden jene stark, die Brücken bauen konnten, die mal hier, mal dort einen Verbündeten für ein gemeinsames Projekt fanden. Das hatte merkwürdige Folgen: Die Mitteparteien hatten seit 1983 zwar massiv an Wählerstimmen verloren – im Parlament aber konnten sie ihren Einfluss sogar ausbauen. So landete die CVP in mehr als zwei Dritteln und die FDP in knapp zwei Dritteln der Nationalratsabstimmungen unter den Siegern. Im Ständerat konnten die Mitteparteien ohnehin die Mehrheit bewahren, womit sie im kammerübergreifenden Geben und Nehmen sehr gute Karten hatten. Und selbst bei den Volksabstimmungen waren sie es, die notorischen Wahlverlierer, die am häufigsten als Sieger vor die Fernsehkameras treten konnten.

Auch da zeigte sich also, dass die Art der Vertretung in den Institutionen oder die formelle Stärke nicht unbedingt entscheidend waren dafür, ob einer viel oder wenig zu sagen hatte im Land.

La classe politique n’existe pas

Zu diesem Befund trug bei, dass die Parteien eher schwache Gebilde darstellten. Es waren Organisationen, in denen sich das Milizprinzip noch in recht reiner Form ins 21. Jahrhundert retten konnte. Selbst die Bundesratsparteien leisten sich heute weniger als zwanzig Vollzeitstellen; eine staatliche Finanzierung gibt es nicht, die Budgets und Geldflüsse werden weitgehend geheimgehalten; in den Vernehmlassungsverfahren, einem wichtigen Mittel der Beeinflussung, sind die Parteien lediglich eine Stimme zwischen vielen Verbänden und Gruppierungen; der Kantönligeist sorgt dafür, dass die Direktiven der Parteizentralen in der Anhängerschaft nur begrenzt wirksam sind. Und überhaupt hat die halbdirekte Demokratie den Nebeneffekt, dass sie die Parteien eher schwächt, weil sie anderen Gebilden mehr Möglichkeiten zur Mitsprache gibt. «Die Schweiz ist kein Parteienstaat», lautet denn der ebenso knappe wie klare Einleitungssatz des entsprechenden Kapitels im «Handbuch der Schweizer Politik». Die klassische Einflussachse zwischen Parteizentralen und Parlamentsbetrieb könnte in den letzten Jahren sogar noch etwas schwächer geworden sein, auch, weil auf Bundesebene wie in den Kantonen immer mehr Initiativen und Referenden lanciert, eingereicht und vom Volk angenommen wurden.

Wer regiert die Schweiz? Jedenfalls keine Strippenzieher oder Kapitäne, die im Parlament mit ein paar Drehungen am Steuerrad zielgenau bestimmen, wohin der Dampfer fahren soll. Keine Parteistrategen oder grauen Eminenzen, die langfristig planen können. Keine «Classe politique», welche wegweisende Beschlüsse beim Diner auskungelt. Die Regierung der Schweiz, so zeigt sich mehr und mehr, ist etwas sehr Organisches. «Als Politiker kann man sich nie direkt durchsetzen, selbst wenn man wüsste, was zu tun ist. Im besten Falle kann man mitbeeinflussen.» So drückte es Christoph Blocher 1995 gegenüber seinem Biografen Wolf Mettler aus. «Das Zermürbende und Frustrierende an der Politik ist die Machtlosigkeit.»

Zwei Jahrzehnte später quälte ihn dieses Gefühl offenbar immer noch.

EIN TAG IM LEBEN VON NATIONALRAT MÜLLER

Der Herr Nationalrat, den wir hier Johannes Müller nennen wollen, quält sich um fünf Uhr dreissig morgens aus dem Bett. Es ist ein Dienstag im September, es läuft die zweite Woche der Session, dieses Quartalstreffens der Parlamentarier. Sein Einzelzimmer im Hotel Bern, Zeughausgasse 9, ist seit drei Legislaturperioden dasselbe, also seit seiner Wahl nach Bern, man kennt sich. Der Herr Nationalrat, der nicht zu den bekannten Gesichtern der Bundespolitik gehört, könnte, wenn er denn wollte, auch ohne Licht vom Bett ins Badezimmer finden. 63 Jahre alt ist Müller jetzt, damit liegt er gut zehn Jahre über dem Altersdurchschnitt im Parlament. Nach dieser Legislatur wird Schluss sein, das hat er sich geschworen und seiner Familie versprochen.

Im Frühstücksraum warten dieselben Menschen wie immer, seine Kollegen und Kolleginnen aus dem Rat, viele junge Frauen sind das unterdessen, denkt Müller immer mal wieder. Er setzt sich zu einem Ständerat aus der Innerschweiz, von dem er weiss, dass er ihn um diese Tageszeit ansprechen darf. Früher, da waren sie hier unter sich, unter Christdemokraten also, die Linken sassen anderswo. Das war, als die CVP noch klar bürgerlich war. Heute sind nicht einmal mehr die Hotels eine sichere Burg. Alles geht durcheinander, man verbündet sich mal mit diesen und mal mit jenen. Die Christdemokraten gefallen sich als Zünglein an der Waage, koalieren mal mit den Rechten, mal mit den Linken.

Müller und sein Kollege besprechen am Frühstückstisch das, was Männer halt besprechen, wenn ihnen nichts anderes einfällt, Dinge, die der Tag so bringen wird: die anstehenden Traktanden im Nationalrat, das neue Alkoholgesetz, die Änderung des Sanktionenrechts, das Rüstungsprogramm. Müller lebt im Wallis als Bauer, das heisst, er nennt sich noch so, es klingt so gut, so bodenständig. In Tat und Wahrheit stehen natürlich schon lange andere im Stall und auf dem Feld. Aber den Hof, den hat er immerhin noch. Die Politik, sie lässt ihm keine Zeit mehr, dem nachzugehen, was ihm sein Vater, Gott hab ihn selig, beigebracht hat. Der Beruf ist zum Hobby geworden, die Politik zum Beruf.

DIE POLITIK, SIE LÄSST
IHM KEINE ZEIT MEHR,
DEM NACHZUGEHEN,
WAS IHM SEIN VATER,
GOTT HAB IHN SELIG,
BEIGEBRACHT HAT.
DER BERUF IST ZUM
HOBBY GEWORDEN,
DIE POLITIK ZUM BERUF.

Um sieben Uhr morgens ist Müller, die schwer beladene Aktentasche in der Rechten, zu einem ersten Gespräch verabredet, im «Bellevue», The Leading Hotels of the World, ein befreundeter Bauernlobbyist wartet, man bespricht letzte Details für die Beratung des Alkoholgesetzes im Nationalrat, dem der Ständerat schon zugestimmt hat. Christdemokrat Müller ist Mitglied der vorberatenden Kommission für Wirtschaft und Abgaben, der WAK, die Allianzen mit SVPlern und Grünen sind geschmiedet, die Reihen geschlossen, man wird es schon durchbringen – auch wenn diese Totalrevision gegen viele Werte verstösst, die Müller in seinen Wahlkampfreden hochhält, zum Beispiel den freien Markt. Ja, es ist schon ein Coup, den sie hier gleich landen werden, sie haben ihn gut getarnt, mit Jugendschutz, Verkaufsverbot für Alkohol nach 22 Uhr und Mindestpreisen.

Im Wesentlichen geht es Müller und den Seinen um die sogenannte Ausbeutebesteuerung, die im Rahmen des neuen Alkoholgesetzes eingeführt werden soll. Die Abgabe will die Schweizer Schnapsproduzenten gegenüber den ausländischen Importeuren bevorteilen: Ihre Spirituosen würden nur halb so hoch besteuert wie diejenigen der Konkurrenz ennet der Grenzen, die ihre hochprozentigen Wässerchen in der Schweiz verkaufen wollen. Für den Zürcher Rechtsprofessor René Matteotti, der im Auftrag der Eidgenössischen Alkoholverwaltung ein Gutachten dazu verfasst hat, ist der Fall klar: «Das verstösst gegen die WTO-Verträge, ist völkerrechtswidrig und willkürlich.» Und seine Kollegin in der Kommission, die grünliberale Nationalrätin Kathrin Bertschy, hat in einer Zeitung gesagt: «Das ist ein Buebetrickli der Bauern.» Ansonsten aber ist das Thema völlig unter dem Radar der Medien durchgeflogen. Gut so.

Nationalrat Müller ist einerlei, wenn sich da ein paar Bedenkenträger äussern, sollen die nur reden, ihre Stimme hat ja eh kein Gewicht. Es geht um Grösseres, um das Überleben eines Schweizer Wirtschaftszweigs, der schon arg dürr ist. Der Markt, nein, er regelt nicht alles, das hat ja wohl die Vergangenheit gezeigt, es ist zu schützen, was man schützen kann. Und das ist ihm gelungen. Es war nicht einfach, das muss man sagen. Es war ein seltener Glücksfall, denkt sich Müller beim Café Crème. Sowieso ist es ungeheuer schwierig geworden, Mehrheiten zu finden. Die Dinge sind halt nicht mehr so einfach, schwarz oder weiss, es gibt wechselnde Mehrheiten, wer etwas will, muss schon Mitstreiter gefunden haben, bevor ein Geschäft in eine Kommission geht. Und da es immer öfter immer schneller gehen muss, fehlt meistens die Zeit, sich überhaupt rechtzeitig eine Meinung zu bilden, geschweige denn Kompromisse zu finden. Denn dazu braucht es eine Vertrauensbasis. Leider, denkt sich Müller, ist das Misstrauen zur Konstanten geworden, seitdem das Land so polarisiert ist in Linke und Rechte, in SP und SVP. Die Parteilinie ist, gerade bei den Polparteien, zum obersten Gebot geworden.

Nationalrat Müller macht sich auf ins Parlament, Haupteingang, die Schleuse ist schnell passiert, das Wachpersonal winkt ihn durch. Die Treppe hoch, vorbei an der Statue der drei Eidgenossen, und nach hinten durch ins Café des Alpes. Das ist der Ort, an dem sich die Parlamentarier mit den Lobbyisten treffen, den Verwaltungsbeamten und den Schülerklassen, die die Demokratie besichtigen wollen, ein schöner Ort. Das Bergpanorama grüsst durch die Fensterfront, Tische aus edlem Holz, die nach Wunsch auch weiss gedeckt werden. Der Kellner fliegt heran, noch ein Café Crème soll es sein. Dann ist es Zeit. Johannes Müller schnappt sich am Eingang zur Wandelhalle einen Apfel, den seine Berufskollegen, die Bauern, gratis zur Verfügung stellen, grüsst im Vorbeigehen ein paar Bekannte, drückt sich vorbei an den Kameras und Fotografen und setzt sich auf seinen Platz in der Mitte des Nationalratssaals. Da bimmelt schon der Nationalratspräsident mit seiner Glocke und eröffnet die Sitzung.

Vieles hat sich in den drei Legislaturen geändert, aber manches ist immer noch wie früher, denkt sich Müller. Wer etwas in diesem Parlament erreichen will, der muss sich an die Richtigen wenden. Und das sind immer noch Männer, Amstutz, Schwaller, Pfister, Levrat – oder wie die Leithammel alle heissen. Sie haben die Autorität, sich in ihrer Partei durchzusetzen, auf sie wird gehört.

Es läuft wie erwartet, die Redner zanken sich über das Offensichtliche, es geht um Glaubensfragen, Ideologie, die liebe Jugend, die man vor sich selbst schützen muss und so weiter und so fort. Die Bundesrätin hält dagegen, appelliert an die Stimme der Vernunft und an die Fakten. Jeder spielt seine Rolle. Und am Schluss wird der Kommissionsmehrheit zugestimmt, die Minderheitsanträge werden abgelehnt. Es gibt noch ein paar Abweichungen zum Ständerat, die wird man aber bereinigen können. Johannes Müller sitzt die ganze Zeit bequem in seinem Stuhl und drückt zur richtigen Zeit den richtigen Knopf. Manchmal tun ihm die jungen Menschen leid, die auf der Galerie das Geschehen verfolgen und meinen, einer richtigen demokratischen Debatte zu folgen. Sie wissen nicht, dass alles abgesprochen und vorbereitet ist, Überraschungen sind praktisch ausgeschlossen. Unvorhergesehenes kann nur bei den Bundesratswahlen passieren, weil da geheim abgestimmt wird. So haben sie den Blocher aus dem Bundesrat entfernt, unwürdig war der, einer, der sich aufführte, als sei er der Chef der Schweiz. Das aber würde der Christdemokrat Müller natürlich nie öffentlich sagen.

 

Zusammen mit seinen Kommissionskolleginnen und -kollegen aus der WAK geht Johannes Müller zum Mittagessen ins Restaurant Lötschberg, Zeughausgasse 16, Hochburg der welschen Parlamentarier, aber Müller kann ja gut Französisch. Auch wenn die Szene nicht mehr so ghettoisiert ist wie früher: Das «Diagonal», Amtshausgasse 18, im Schatten des Eidgenössischen Departements des Innern, gehört immer noch vornehmlich den Linken, den Grünen und den Journalisten. Das «Lorenzini», Hotelgasse 10, den Wichtigen. Das«Bellevue Palace», Kochergasse 3–5, den Bürgerlichen. Und im «Schwellenmätteli», Dalmaziquai 11, unten an der Aare, da lässt man den Tag ausklingen, vor allem im Sommer. Herr Müller hebt das Weissweinglas, es gibt etwas zu feiern. Die einheimische Schnapsbranche ist gerettet.

Nach dem Mittagessen legt sich Nationalrat Müller für ein kurzes Schläfchen hin, im Männerzimmer, oben im dritten Stock des Bundeshauses, zwei Sofas, drei Sessel, einmaliger Kostenpunkt 450 Franken, hier darf niemand rein, der nicht gewählter Bundespolitiker ist. Das haben die Männer den Frauen abgeschaut, die sich schon früher eine Rückzugsmöglichkeit geschaffen haben. Die allerdings haben eine kleine Küche, ein Bad und Designermöbel von Eileen Gray. Dann wird er von einer SMS geweckt, die ihn auf eine kurz bevorstehende Abstimmung im Ratssaal aufmerksam macht. Müller springt auf, eilt in den Saal, drückt einen Knopf – und sprintet ins Café des Alpes, wo bereits ein Mitarbeiter einer PR-Agentur, eine der grossen mit Tagesansätzen von 3000 bis 4000 Franken, auf ihn wartet. Er unterbreitet ihm ein mittels Powerpoint-Präsentation auf seinem Laptop beeindruckend aufgemachtes Argumentarium.

Das Leben als Parlamentarier ist hektisch geworden. Nicht die Anzahl offizieller Sitzungstage wurde mehr, das hat Müller mal bei einer jungen Politologin gelesen, sie blieb seit den Anfängen der Schweizerischen Bundesversammlung praktisch unverändert. Aber der ganze Zirkus drumherum. Ein gescheites Sekretariat müsste Müller aus dem eigenen Sack berappen. Vor allem diejenigen, die im medialen Rampenlicht stehen, können kaum mehr abschalten. Aber das sind nur ein paar Wenige, die Medien zerren immer wieder die Gleichen in die Arena. Manchmal wundert sich Müller über die Journalisten, die ihn, wenn überhaupt, am liebsten samstags anrufen. Dann geht es um irgendwelche Indiskretionen, zu denen er sich empören soll. Grundsätzliches will man von ihm fast nie hören, es geht eigentlich immer um sogenannte Statements, kurze, knackige Sätze. Kürzlich ist Müller ein Satz eingefallen, auf den er stolz ist: «Die Lobbyisten sind auch deshalb so stark, weil die Kritikfähigkeit der Medien so schwach geworden ist.»

Eine Grossbank hat Nationalrat Müller als WAK-Mitglied um 19 Uhr zum Stehdinner ins «Bellevue» geladen, weiss gedeckte Tischchen, erlesene Häppchen, im Hintergrund ein Pianospieler. Müller hat Dutzende von solchen Terminen während den drei Sessionswochen. Die Bank will sich bedanken, weil die Politik dem FATCA-Abkommen zugestimmt hat. Der «Foreign Account Tax Compliance Act» sieht einen, zumindest teilweise, automati schen Austausch von Kundendaten mit den US-amerikanischen Behörden vor. Das war wichtig, um die amerikanischen Steuerbehörden zu besänftigen. Der Nationalrat gönnt sich einen guten, schweren Rotwein, verabschiedet sich aber früh, er muss ja morgen wieder zeitig raus.

Im Hotelzimmer liest er noch ein paar Akten, versucht zu verstehen, was nur Experten verstehen können, und fällt um Mitternacht in sein Bett, das er auch ohne Licht gefunden hätte. Kurz vor dem Einschlafen, denkt er an die älteren Kollegen, die im Amt verstarben, die Gehetzten, die einen Herzinfarkt erlitten, oder die Jungen, die, eben noch voll im Saft, Knall auf Fall den Bettel hinschmissen, weil sie nicht mehr konnten. Vielleicht ist er wirklich langsam zu alt für dieses Geschäft, das man Politik nennt.

Johannes Müller ist eine Kunstfigur, die nach vielen Gesprächen mit Parlamentariern entstanden ist. Er ist sozusagen das goldene Mittelmass der Schweizer Bundespolitik.

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