Buch lesen: «Verräter»
Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Mathias Schreiber,
geboren 1943 in Berlin, lebt in einem Dorf am Nordrand der Lüneburger Heide. Bis 1982 war er leitender Redakteur beim »Kölner Stadtanzeiger«. Danach wechselte er ins Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. 1991 nahm er seine Arbeit im Kulturressort des »Spiegel« auf, das er 14 Jahre lang leitete. Er hat Bücher über Lyrik, moderne Kunst und Architektur veröffentlicht und widmet sich seit einiger Zeit wieder zunehmend philosophischen und ideengeschichtlichen Themen. Zuletzt ist von ihm erschienen:
»Würde. Was wir verlieren, wenn sie verloren geht« (2013).
MATHIAS SCHREIBER
Verräter
Helden der Finsternis von
Judas bis Snowden
Inhalt
Cover
Titel
Zitat
Verrat und Tod
Der Begriff des Verrats
Der Krake Internet
Treue als Bastion
Hochverräter, Landesverräter
Judas, Alkibiades, Arminius und andere Altvordere des Verrats
Der Spieler der Indifferenz und der Wert des Vertrauens
Ein normales Laster?
Impressum
Fußnoten
Denn was auch immer auf Erden besteht,
besteht durch Ehre und Treue.
Wer heute die alte Pflicht verrät,
verrät auch morgen die neue.
Adalbert Stifter (1805 bis 1868)
Verrat und Tod
EIN Vergehen, so alt wie aktuell, so vielgestaltig wie abgründig, so legendär wie real, so böse wie banal: der Verrat. Verräter sind die unheimlichen Schatten-Helden der Geschichte; »Zeugen der Finsternis«, wie der britische Historiker Tony Robert Judt die Abtrünnigen des linken Totalitarismus genannt hat. Verborgenes oder verbotenes Wissen wird durch einen Verrat aus dem Dunkel, mit dem es sich bis dahin umgab, ans Licht gehoben. Verräter sind auch jene Spitzel, Doppelagenten und Überläufer, die den Überfall bei Nacht als Filmkulisse und den Schuss aus dem Hinterhalt als Begleitmusik gebucht haben. Wer Verräter verstehen will, der erforscht »die Tiefen des Satans«, von denen die Gnostiker der Spätantike sprachen. Verräter spielen oft mit dem Tod, dem eigenen oder dem Tod anderer. Sie handeln an Grenzen; an Scheidelinien zwischen politischen Bündnissen, zwischen Überzeugungsgemeinschaften, zwischen Nationen, zwischen konkurrierenden Firmen, zwischen kleineren Solidargemeinschaften, legalen wie illegalen; auch an den unsichtbaren Zäunen, die trotz aller Verschmelzung der Gefühle zwischen zwei Lebenspartnern bestehen, seien diese Partner nun enge Freunde oder Liebende. Dort verliert sich der sozusagen feierlich-böse Verrat auch mal ins Läppische.
Wer an der Grenze allen Ernstes den Übertritt in das andere riskiert, ist anders als die meisten. Aus welchem Motiv auch immer er handelt, eines ist gewiss: Er braucht besondere psychische Reserven, zum Beispiel eine tiefsitzende Gefühlskälte, ein Talent für Einsamkeit, eine Begabung für Visionen oder auch nur eine lange aufgestaute Wut. Aus alldem kann die Kraft zur Skrupellosigkeit aufsteigen. Er muss Menschen, die ihm lange wichtig waren, in einem entscheidenden Moment verleugnen können. Erinnerungen dürfen ihn nicht umwerfen. Er muss sich gut verstellen können, fähig sein, etwas über längere Zeit geheim zu halten oder heimlich zu tun, ertragen können, dass er angefeindet wird. Der windige Verräter gilt von alters her als so niederträchtig, dass sogar Gauner ihn verachten. Er hat für sie keine Ehre und darum letztlich den Tod verdient.
Der Befund des Verrats erscheint so simpel wie ein Western, in dem die Rollen der Guten und der Bösen klar verteilt sind. Doch je genauer wir hinschauen, desto mehr verliert sich dieser Befund ins Vieldeutige. Der Verräter ist selbst als positiver Pionier einer willkommenen Veränderung eine schillernde Gestalt. Oft enthüllt da jemand etwas, bleibt aber selbst am liebsten unerkannt. Und was er verrät, ist vorher ein Geheimnis, das derjenige, auf dessen Kosten es offengelegt wird, auch nach dem Verratsgeschehen noch zu verbergen oder wenigstens ins Zweifelhafte zu ziehen versucht, etwa indem er – wie jeder tüchtige Agent – durch Halbwahrheiten falsche Fährten legt. Verrat ist einer der komplexesten und ärgerlichsten Vorgänge des Lebens. Betrachten wir erste Beispiele.
Ein ungeheuerlicher Vertrauensbruch, dessen kriminelle Heldin ihre Energie vor allem aus der Bindung an eine Gruppe bezieht, passiert am 30. Juli 1977 in der Nähe von Frankfurt am Main. Alles grünt und blüht in den Vorgärten von Oberursel, einer malerischen mittelgroßen Stadt zwischen Hochtaunus und Maintal. Am späten Nachmittag sitzen die Eheleute Ignes und Jürgen Ponto – er ist Vorstandssprecher der Dresdner Bank – auf der Terrasse ihrer Villa, als es klingelt. Am Gartentor steht eine junge, dunkelhaarige Frau im braunen Rock und mit hellblauer Jacke über der geblümten Bluse, begleitet von einer weiteren Frau und einem Mann, die beiden sind ebenfalls sorgfältig gekleidet. Die Frau in der hellblauen Jacke hält einen Blumenstrauß aus Heckenrosen in der Hand. Es ist Susanne Albrecht, die Tochter einer Hamburger Anwaltsfamilie, seit Jahren mit den Pontos eng befreundet – Ponto ist der Patenonkel von einer Schwester Susannes. Schon einige Tage vorher wollte die Freundin der Bankiersfamilie »Onkel Jürgen« sprechen, hatte ihn aber nicht angetroffen; jetzt war sie für 16.30 Uhr zum Tee angemeldet. In der Sprechanlage meldet sie sich jetzt schlicht mit »Hier ist Susanne«. Daraufhin drückt der Chauffeur den Knopf, die Pforte öffnet sich. Als der Bankier die drei sieht, scherzt er noch »Das ist ja ein großes Komitee« und führt die Besucher über die Terrasse ins Haus.
Plötzlich schreit der junge Mann: »Mitkommen, das ist eine Entführung!« Christian Klar richtet eine Pistole auf Ponto. Der antwortet: »Sind Sie wahnsinnig geworden?« Er will sich wehren, indem er mit erhobenen Armen auf die andere Dame, Brigitte Mohnhaupt, zuläuft. Klar schießt einmal aus nächster Nähe auf ihn, Mohnhaupt fünfmal. Drei Kugeln treffen den Kopf des Bankiers. Zwei Stunden später stirbt er in einer Frankfurter Klinik. Mit einem Fluchtauto, das in der Nähe parkt, verschwinden die Terroristen und tauchen für Jahre unter. Susanne Albrecht, die später unter falschem Namen in der DDR und in der Sowjetunion lebt, wird 1990 – nach dem Fall der Berliner Mauer – in Ostberlin verhaftet und später wegen »versuchter Entführung mit Todesfolge« zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Von der Strafe wird ihr allerdings, aufgrund der Kronzeugenregelung und guter Führung, die Hälfte zur Bewährung erlassen.
Jürgen Pontos Ehefrau Ignes gibt im Jahr 2013, in einem Fernsehbeitrag des Bayerischen Rundfunks, ihr Urteil über Susannes »Aktion« zu Protokoll: »Das war ein typischer Verrat – auch gegenüber Susannes eigenen Eltern.« Verrat am Freund des Vaters, damit auch an diesem Vater selbst, Verrat an der Freundschaft zwischen den Familien Ponto und Albrecht, einer Freundschaft, die Susannes Horror-Trio überhaupt erst die Privatsphäre der Pontos zugänglich gemacht hat.
Susanne verrät den besten Freund des Vaters an die Mörder der Roten Armee Fraktion (RAF), um mit dem entführten Jürgen Ponto die Freilassung der in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder um Andreas Baader und Gudrun Ensslin zu erpressen. Dass Ponto dabei zu Tode kommt, ist wohl nicht geplant, wird aber als Möglichkeit auch nicht ausgeschlossen. Während der Vorbereitung der Entführung absolviert Susanne einen zweitägigen Intensivkurs in Solidarität, von RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock – dem Fahrer des Fluchtautos nach der Tat in Oberursel – später »Gehirnwäsche« genannt, und muss dabei wahrscheinlich immer wieder weinen. Sie selbst sagt allerdings in den Vernehmungen, sie sei durchaus nicht von der Gruppe »erpresst« worden, sie habe den Verrat letztlich begangen, »um etwas für die Gefangenen zu tun«.1
Der Gruppenzwang und das Einverständnis mit dem revolutionären Programm der RAF haben Susanne Albrecht dazu gebracht, einen an sich verruchten Verrat gutzuheißen und sogar selbst durchzuführen – das Bekennerschreiben ist von ihr unterzeichnet. Wäre sie aus diesem Kontext ausgestiegen, hätten die RAF-Banditen sie als Verräterin eingestuft und womöglich hingerichtet. Einmal in diese extreme Konstellation geraten, blieb Susanne nichts anderes mehr übrig, als eine Verräterin zu werden – entweder an ihrer natürlichen Familie oder an der gewählten Terror-Familie. Diese Ausweglosigkeit fügt dem eigentlichen Verbrechen – der Täuschung und der Mitwirkung an der Tötung Jürgen Pontos – eine Note hinzu, die man »tragisch« nennen möchte, wäre man sicher, damit nicht einer Täter-Romantik zu huldigen. Sie darf den für den Rest ihres Lebens traumatisierten Familien Ponto und Albrecht nicht zugemutet werden. Auf den verständlichen Vorwurf der Täter-Romantik lief der Haupteinwand der Witwe Ponto – und einiger Kinder anderer Opferfamilien – gegen den an sich durchaus eindrucksvollen Film »Der Baader Meinhof Komplex« (2008) hinaus, einen vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen geförderten Film, den Bernd Eichinger mit dem Regisseur Uli Edel nach dem gleichlautenden Buch von Stefan Aust produziert hat.
Wie Susanne Albrecht Jürgen Ponto den tödlichen Kugeln ihrer Mittäter zuführt, ist ein besonders krasses Verratsexempel. Nur so lässt sich verstehen, wieso zwei andere mit dieser Geschichte verknotete Verratsmotive kaum beachtet wurden. Susanne Albrecht lebte in der DDR unter dem falschen Namen einer in Madrid geborenen »Ingrid Jäger«, und sie hat als solche den Vater ihres 1985 geborenen Sohnes, einen Physiker, geheiratet. Dieser Vater erfuhr erst 1990, am Ende der DDR, die wahre Identität seiner Frau. Auch die jahrelange Täuschung ihres Mannes, inszeniert mit Hilfe der DDR-Staatssicherheit (»Stasi«), war gewiss keine Lappalie. Sie war ein sehr persönlicher Verrat an den Gefühlen eines Menschen; und an dem Vertrauen, das er ihr geschenkt hatte.
Das zweite Verratsmotiv in diesem Zusammenhang betrifft die Familie von Ignes Ponto. Jürgen Pontos Frau ist die Nichte von Helmuth James Graf von Moltke, dem 1945 durch die NS-Scharfrichter hingerichteten Begründer jenes »Kreisauer Kreises«, der durch seinen hartnäckigen Widerstand gegen die NS-Diktatur berühmt geworden ist. Bedenkt man den antifaschistischen Anspruch der RAF, so erscheint die Tötung eines Menschen ausgerechnet aus diesem Familien-Umfeld als besonders makabrer Fehlgriff – als später Verrat am guten Geist jener Deutschen, die den Nazis Widerstand geleistet haben. Ein Hinweis darauf, dass die vermeintlich antifaschistische RAF keine Scheu hatte, selbst faschistisch zu werden.
Dies wird durch ihre Konspiration mit antijüdischen palästinensischen Terror-Gruppen plausibel; auch zum Beispiel durch jenen unerhörten Selektions-Vorgang, der sich im Juli des Jahres 1976 ereignete: Deutsche und palästinensische Terroristen hatten unter der Führung von zwei mit der RAF sympathisierenden Gründungsmitgliedern der dezentral organisierten »Revolutionären Zellen« (RZ), Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, eine mit 253 Passagieren besetzte Maschine der Air France, die von Tel Aviv nach Paris fliegen sollte, während des Fluges gekapert und zur Landung im ugandischen Entebbe gezwungen. Mit der Entführung sollten 53 politische Gefangene, die in deutschen, israelischen, schweizerischen und französischen Gefängnissen saßen, freigepresst werden, darunter der in Deutschland als lustiger Anarchist verharmloste Fritz Teufel. Kurz bevor der israelische Geheimdienst dieser einwöchigen Entführung ein tollkühnes Ende bereiten konnte, hatten die Entführer die meisten nichtjüdischen Passagiere von den jüdischen getrennt und nach Paris ausfliegen lassen, um allein mit den 77 israelischen Geiseln für spektakulären Druck zu sorgen – was wohl vor allem den Mit-Entführern von einer palästinensischen »Volksfront«-Gruppe wichtig war. Als eine der jüdischen Geiseln Böse den entblößten Arm mit der eingravierten Nummer des KZ-Häftlings hinstreckt, antwortet der Chef der Aktion, er sei kein Nazi, sondern ein »Idealist«. In der Nacht zum 4. Juli 1976 gelang es den aus 4000 Kilometer Entfernung unbemerkt mit einem Flugzeug angereisten israelischen Elitesoldaten, die Geiseln zu befreien und auszufliegen – gegen den Widerstand ugandischer Soldaten. Alle sieben Geiselnehmer wurden dabei getötet. Der ugandische Diktator Idi Amin ließ später mehrere hundert Kenianer, die in Uganda lebten, ermorden. Er behauptete, Kenia, das Verräter-Land, habe den Israelis geholfen, und übte Rache in dieser Manier archaischer Sippenhaft.
1975 wurde bei der martialischen RAF-Aktion gegen die deutsche Botschaft in Stockholm der Militär-Attaché Andreas von Mirbach ermordet. Wer die fünf Schüsse in Kopf, Rücken, Becken und Beine des Mannes abgefeuert und ihn dann mit dem Kopf voran eine Treppe hinuntergestoßen hat – eine regelrechte Abschlachtung –, ist bis heute ungeklärt. Sein Sohn verglich in einer TV-Gesprächsrunde des Senders »Phönix« (am 10. 7. 2016) das penetrante Schweigen der meisten RAF-Täter auch nach ihren Entlassungen aus der Haft mit der Verstocktheit ehemaliger NS-Schergen nach 1945. Auch deren offenkundige Unfähigkeit, öffentlich zu bereuen, stellte er in diesen Zusammenhang. Eine Folge dieses Schweigens im Stil der mafiösen Omertà – wer das Schweigen bricht, wird als Verräter getötet – oder in der Art einer dumpfen Nazi-Kumpanei: Zumindest bis Ende 2016 konnte die Täterschaft etlicher »Hinrichtungen« der RAF nicht zureichend geklärt werden. Darunter sind außer der Ermordung von Mirbachs die Morde an Generalbundesanwalt Siegfried Buback (1977), am Siemens-Manager Kurt Beckurts und dessen Fahrer (1986), an dem Ministerialdirektor Gerold von Braunmühl (1986), am Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen (1989) und am Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder (1991 – von Fachleuten »aller Wahrscheinlichkeit« der RAF zugeschrieben). Diese serielle Blutspur mitten durch die deutsche Elite macht uns noch Jahrzehnte später fassungslos. Was wir gern vergessen: Manche der an den Taten Beteiligten oder auch nur Mitwisser leben noch, aber sie ducken sich weg – zum Beispiel Christian Klar. Nicht einmal ob die zweite »Generation« der RAF mit der jüngsten, der dritten, die wohl Rohwedder auf dem Gewissen hat, Wissen austauschte, ist jemals offengelegt worden. Mindestens die Familienangehörigen der Opfer haben einen moralischen Anspruch darauf, dass dieses schaurige Schweigen gebrochen wird. Die meisten Beteiligten scheuen sich offensichtlich, das Verweigern von Aussagen, das sie einst einander geschworen haben, zu beenden und so aus der Sicht der Tätergruppe als Verräter dazustehen. Daraus ist für sie längst so etwas wie eine zweite Schuld geworden. Sie zeigt, dass sich diese Täter und Mitwisser immer noch der Bandenmoral der RAF verpflichtet fühlen und dass das hier oft ins Spiel gebrachte Rechtsgut der Resozialisierung gescheitert ist, bevor es überhaupt greifen konnte. Dass diese Schweige-Schuld selten thematisiert wird, bisher nicht geahndet wurde und wohl auch nie geahndet werden wird, ist ein bleibendes Skandalon der RAF-Geschichte.
Der Verrat an Jürgen Ponto war der erste Akt im dramatischsten Herbst der bundesrepublikanischen Geschichte, jenem sprichwörtlich gewordenen »Deutschen Herbst«, der in der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer, dem Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Industrie, im September und Oktober 1977 gipfelte. Es war das furchtbare Ende eines weiteren RAF-Versuchs, die Gefangenen in Stuttgart-Stammheim freizupressen. Die im dortigen Hochsicherheitstrakt einsitzende Kerntruppe hatte über Kassiber von ihren Mitstreitern draußen eine Befreiungsaktion eingefordert: »Wenn ihr es nicht schafft, uns herauszuholen, dann nehmen wir unser Schicksal selbst in die Hand«2 – womit wohl entweder eine Geiselnahme im Gefängnis (dort gab es ja Waffen) oder ein spektakulärer Gruppen-Selbstmord gemeint war. Letzteres hätte Brigitte Mohnhaupt und ihren Kampfgefährten draußen sozusagen das Gütesiegel RAF genommen, hätte sie in den Augen der Polit-Gemeinde zu Verrätern des großen RAF-Projekts »antiimperialistischer Widerstand« gestempelt oder gar zu verirrten Kriminellen degradiert. Schleyer wurde erschossen, nachdem die Gefangenen-Befreiung, die durch eine weitere Entführung – diesmal eines kompletten Urlauber-Jets namens »Landshut« – endlich erzwungen werden sollte, gescheitert war: an der Weigerung der deutschen Regierung, Baader und die anderen Terroristen freizulassen. Möglicherweise hätte man Schleyer laufen lassen, wäre die »Landshut«-Erpressung erfolgreich gewesen.
Die entführte »Landshut« wurde in Somalia von einer Spezialeinheit der Bundeswehr (GSG 9) gestürmt, wobei drei der vier palästinensischen Entführer zu Tode kamen. Den Flugkapitän Jürgen Schumann hatten die Entführer erschossen, nachdem er sich bei einer Zwischenlandung im südjemenitischen Aden eine Stunde vom Flugzeug entfernt hatte – sie verdächtigten ihn eines versuchten Verrats und wollten ein Exempel statuieren, um die 86 Passagiere einzuschüchtern. Nach dem Scheitern der Entführung erschossen sich Baader und Jan-Carl Raspe mit – von Anwälten eingeschmuggelten – Pistolen, wobei Baader so in sein Genick zielte, dass es wie der Schuss eines Fremden, also wie Mord, wirken sollte. Gudrun Ensslin erhängte sich mit einem Kabel an einem Fensterkreuz. Auf dieselbe Art hatte sich Ulrike Meinhof ein Jahr zuvor umgebracht – an eben diesem Fensterkreuz. Irmgard Möller stach sich viermal in die Brust, überlebte dann aber nach einem längeren Aufenthalt im Krankenhaus.
Zu der Vorgeschichte dieses düsteren Jahres 1977 gehört der bis heute nicht völlig aufgeklärte Tod des Berliner Ethnologie-Studenten Ulrich Schmücker. Der 22-jährige junge Mann wurde sterbend, in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1974, im Berliner Grunewald von amerikanischen Soldaten gefunden. Schmücker hatte an mehreren Bomben-Anschlägen der »Bewegung 2. Juni« teilgenommen. Er wurde bald erwischt und inhaftiert. Im Gefängnis wurde er mehrfach von einem Mitarbeiter des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz besucht, der ihn als V-Mann gewann. »Sie brauchen ja Ihre Genossen nicht zu verraten«, sagte der Verfassungsschützer zum Auftakt der folgenreichen Beziehung, »ich will nur allgemeine Informationen über die linke Szene haben.«3 Schmücker hat das verräterische Doppelspiel nicht überlebt: Die Kollegen der Terror-Organisation, kaum hatten sie dieses Doppelspiel bemerkt, beschlossen seine Hinrichtung. Dies war das Ergebnis eines »Volkstribunals«: »eine Aktion gegen einen Verräter«, wie das Gruppenmitglied Jürgen Bodeux später bei einer Vernehmung zu Protokoll gegeben hat. Schmücker war zwischen die Fronten von Geheimdienst und Terror-Organisation geraten und hatte sich dabei fatal verirrt. Eine linke Berliner Zeitschrift resümierte später: Die Erschießungs-»Aktion« Schmücker stoße »bei vielen Genossen« auf »Ekel«, dabei sei doch der »Abscheu gegen Verräter allgemein, und niemand wird wohl einer revolutionären Gruppe bestreiten, sich gegen Verräter schützen zu müssen«. In einem »Offenen Brief an die Bewegung 2. Juni« diskutierten damals einige »Genossen« der Terroristen, »wie man Verräter auslöscht« und »wie aus Genossen Verräter werden«. Diese und andere Versuche der Szene, sich von der Hinrichtung Schmückers – laut Mitkämpfer Till Meyer ein »Würstchen« – ein wenig zu distanzieren, wurden durch ein anderes Mitglied der Bewegung, Inge Viett, als Verstöße gegen die »Gruppensolidarität« verurteilt; und Frau Viett fügte hinzu: »Wir waren es nicht, aber wir distanzieren uns auch nicht davon.« Der Verdacht, in Wahrheit habe die andere durch Schmücker verratene Partei, Leute vom Verfassungsschutz, diesen liquidiert, aber so, dass es nach einem Fememord der »Bewegung 2. Juni« aussah, wurde nie befriedigend widerlegt, allerdings auch nicht bewiesen.
Schmückers Verrats-Geschichte ist der typische Fall des Doppelagenten, der ertappt wird. Seinem Tod kann selten ein Täter eindeutig zugeordnet werden, denn der Doppelagent hat ja nicht einen, sondern zwei Todfeinde, die als Täter in Frage kommen.
Der Doppelagent ist die Bestätigung der These, Geschichte und Politik seien im Grunde Dschungel und Chaos, folglich müssten alle Versuche scheitern, Strukturen oder gar lineare Entwicklungen darin zu finden, etwa im Sinne eines historischen Fortschritts in Richtung Freiheit und Gerechtigkeit. Er ist auch der natürliche Feind jeder Moralphilosophie, die auf erkennbare Fronten zwischen den Gerechten und den Bösen baut und letztlich die Weltgeschichte als »Weltgericht« (Schiller) versteht. In der Horde der Agenten, Überläufer, Spielernaturen, Hochstapler, Heuchler und Intriganten, die nicht einmal mit sich selbst identisch sind, verliert die Geschichte leicht jenen roten Faden, den auf Sinn versessene Historiker immer wieder in ihr suchen.
Geradezu ideale Bedingungen für das Gewusel jener zwielichtigen Gestalten bot der Kalte Krieg, der den Zweiten Weltkrieg fast ein halbes Jahrhundert lang auf leisen Sohlen fortsetzte, wenn auch mit veränderten Fronten. Er hat das Verhältnis zwischen dem von der Sowjetunion dominierten Teil Europas und den Westmächten so vergiftet, dass Misstrauen und Verrat zum alltäglichen Leben gehörten wie der Schatten zum Licht. Als östlichster Vorposten des Westens nahe dem sowjetisch beherrschten Teil des Kontinents lagen Österreich und insbesondere Wien im Fadenkreuz westlicher wie östlicher Geheimdienste. Carol Reeds Film »Der dritte Mann« (1949), gedreht nach einem Roman des Ex-Agenten Graham Greene, verdichtet meisterhaft die unheimliche Atmosphäre in der damals in vier Besatzungszonen aufgeteilten Stadt, wo sich Schwindler und Verräter jeglicher Couleur tummeln. Faszinierend ist die schattenhaft auftauchende und wieder verschwindende Figur des dubiosen, illegalen Penicillin-Händlers Harry Lime. Er verrät seine tschechoslowakische Freundin Anna, die inkognito, mit gefälschten Papieren, in Wien lebt, an den sowjetischen Geheimdienst. Die von einer suggestiven Zithermelodie untermalte, in einer atemlos expressiven Bildsprache gedrehte Jagd der Polizei auf Harry durch die düstere Unterwelt der Wiener Kanalisation wird zur Metapher einer rast- und ratlosen, undurchsichtigen Welt des epochalen Übergangs.
Erst 1955 wurde Österreich als neutrale Republik von den west-östlichen Besatzungsmächten offiziell in seiner staatlichen Unabhängigkeit anerkannt. In dieser turbulenten Zeit entschied sich das Schicksal des 20-jährigen tschechoslowakischen Stabsunteroffiziers Jan Masek. Er war Mitglied der Grenztruppen und deshalb durchaus vertraut mit den tödlichen Elektrozäunen, Schießbefehlen und anderen Besonderheiten des Eisernen Vorhangs. Masek stammte vom Land und hing an seiner Mutter, die ihn allein großgezogen hatte. Als sie erkrankte, wollte er das Militär verlassen und seine Mutter unterstützen. Das wurde ihm aber nicht erlaubt; er verließ dennoch die Kaserne, um zu seiner Mutter zu reisen. Als er zurückkehren wollte, wurde er gewarnt, ihm drohe eine harte Strafe. Daraufhin floh er über die Grenze nach Österreich und vertraute sich britischen Mitgliedern der lokalen Wiener Sicherheitspolizei an, die im Dienst des britischen Geheimdienstes MI6 (Military Intelligence, Section 6) standen und sozusagen für das Grobe zuständig waren. Er wurde fünf Tage verhört und dem in Schönbrunn residierenden MI6 zugewiesen, weil er wichtige Details über die Integration der tschechoslowakischen Armee in das Militär der Sowjets kannte.
Kurz bevor man ihn nach Australien ausreisen lassen wollte, brauchte der MI6 plötzlich einen kundigen Kurier, der ein speziell präpariertes Radio über die Grenze schmuggeln sollte – für ein Widerstandsnest, das in jener Gegend agierte, aus der Masek stammte. Die Tschechoslowaken hatten kurz zuvor mehr als 60 professionell trainierte Widerstands-Kuriere der Briten enttarnt und gefangengenommen. So war Masek ein willkommener Bote, obwohl eigentlich zu unerfahren. Er war auch zu labil: Er überwand die Grenze und überbrachte das Gerät auftragsgemäß, ignorierte dann aber die strikte Anweisung der Briten, unverzüglich nach Wien zurückzukehren und nicht etwa seine Mutter zu besuchen, da sie beschattet werde. Sein Besuch könne leicht von Dorfbewohnern, die sich gern als Informanten des Geheimdienstes ein Zubrot verdienten, verraten werden.
Wenig später meldete ein Wiener Lokalblatt, die Tschechoslowaken hätten einen britischen Spion erwischt. Auf einer tschechoslowakischen Liste von etwa 40 westlichen Spionen, die wegen ihrer Aktionen oder Agitationen gegen den Kommunismus hingerichtet wurden, tauchte schließlich auch der Name des Jan Masek auf. Dabei war Masek »bloß ein einfacher Mann, der seine Mutter sehen wollte«, wie der BBC-Mitarbeiter Gordon Corera, der den Fall recherchiert hat, anrührend formuliert.4
Der Überläufer im Kalten Krieg hat viel mit dem Deserteur im Krieg gemeinsam. Die Fronten zu wechseln, ist in jedem Fall physisch, aber auch moralisch riskant. Siegfried Lenz, einst selbst Kriegsteilnehmer und Deserteur, schildert in seinem atmosphärisch bedrängenden Romanerstling »Der Überläufer« (postum 2016 publiziert) dieses Risiko so: Im letzten Sommer des Zweiten Weltkriegs wechselt der von der »abscheulichen Klicke« der Nazis desillusionierte deutsche Wehrmachts-Soldat Walter Proska die Fronten, beeinflusst von einem anderen Überläufer, der sich selbst mit Judas vergleicht, beflügelt auch durch die Liebe zu der polnischen Partisanin Wanda, die von ihm ein Kind erwartet. Den »Bösen« ist er verhasst als Verräter der nationalistischen Selbstüberschätzung, den Befreiern willkommen als »Außenseiter«, der seinem Gewissen folgt. Die Flucht von den »Bösen« zu den »Gerechten« macht Proska, den moralischen Helden, aber auch schuldig, weil er als Verbündeter der Partisanen versehentlich seinen Schwager erschießt. Am Ende verlässt er auch die Gerechten: Ihre sozialistische Überwachungs-Diktatur, unter der ihm, dem notorischen Zweifler, wegen irgendeiner Denunziation die Verhaftung droht, verängstigt ihn; in einem abenteuerlichen Kraftakt kriecht und rennt er bei Nacht, durch Schlamm und Gestrüpp, knapp vorbei an russischen Wachtposten, auf den Weg in den Westen. So verrät er gewissermaßen den eigenen Verrat. Dabei verliert er die Verbindung zu der Mutter seines Kindes ebenso wie die zu seiner geliebten Schwester Maria – seine komplizierte Verratsgeschichte endet zwar in der Freiheit, aber auch im Selbstverlust.
Jan Masek war als Informant über die militärischen Strukturen des kommunistischen Ostblocks im Westen willkommen, im totalitären Osten aber galt er als Systemfeind, dem die Todesstrafe drohte. Dass ihm diese extrem gegensätzliche Bewertung seines Tuns bewusst war, darf man annehmen. Die psychische Anspannung, die daraus für ihn folgte, mag ihn unvorsichtig gemacht haben.
Ganz einfach und eindeutig ärmlich ist in dieser Geschichte der Verrat der Dorfbewohner, die dem tschechoslowakischen Geheimdienst geflüstert haben, dass Masek zu Besuch bei seiner Mutter weilte – ohne Not, nur aus Geldgier. Diese Charakterlosigkeit wollen wir nicht perspektivisch relativieren. Der Verrat an Masek, mit tödlicher Folge, ist eindeutig abscheulich, seine eigene Verräter-Rolle wird je nach dem Standpunkt des Betrachters gegensätzlich bewertet – wie fast bei allen Überläufern im Krieg. Der Befund, abscheulich zu sein, ist jedenfalls nicht die ganze Wahrheit dieses Verrats.
»Verrat trennt alle Bande«, heißt es in Schillers Drama »Wallensteins Tod«. Der böhmische Feldherr Wallenstein, im Dreißigjährigen Krieg des 17. Jahrhunderts zunächst erfolgreich im Dienst des katholischen Kaisers, wurde wegen eigenmächtiger Verhandlungen mit dem protestantischen Gegner des »Hochverrats« angeklagt und von wahrscheinlich irischen Söldnern des Wiener Hofes heimtückisch mit der Lanze ermordet. Er hatte die Bande zum Kaiser allzu sehr gelockert, heimlich vielleicht sogar gekappt. Die Entscheidung zu diesem Verrat war eine Entscheidung für das protestantische Nordeuropa – für die Zukunft.
Die Frage drängt sich auf: Ist das Durchtrennen der Bande immer von Übel? Auch dann, wenn Kinder sich gegen die Gewohnheiten und Ideale ihrer Eltern wenden, diese insofern auch verraten? Ist nicht so mancher Partner einer unglücklich gewordenen Ehe nach der Auflösung dieses eigentlich unkündbaren Bündnisses, also nach dem Verrat am Liebespakt mit dem anderen Partner, erst richtig aufgeblüht? Das verräterische Trennen der Bande ist nicht selten auch eine segensreiche Abweichung von fragwürdig gewordenen Gewohnheiten, Vereins-Verpflichtungen oder sogar Normen. Der Philosoph Arnd Pollmann schreibt: »Der couragierte ›Whistleblower‹, der auf die Gefahr hin, seinen Job zu verlieren, brisante Informationen über illegale Machenschaften innerhalb seiner Firma, Organisation oder Dienststelle weitergibt, ist kein Verräter.«5 Mögen auch diejenigen, die sich von ihm verraten fühlen, ihn als »Nestbeschmutzer« verachten, so könne er für die Außenstehenden »sogar ein Held sein, der einen Preis für Zivilcourage verdient« – so Pollmann. Dass der mutige Whistleblower kein Verräter sei, ist wohl eine allzu sonnige Sicht. Die Institution, aus der er als illoyaler Insider Brisantes ausplaudert, wird jedenfalls von ihm hereingelegt. Es könnte allerdings sein, dass der so verratene Inhalt bedeutend für das Wohlergehen der Menschheit ist, und in diesem Fall wird es schwierig, den Verrat als solchen moralisch einzuordnen – was wir im folgenden dennoch versuchen werden.
»Whistleblower« heißt eigentlich, gemäß der Redewendung »to blow the whistle on someone«, soviel wie: etwas Geheimes öffentlich machen, jemanden sozusagen verpfeifen, aber zu einem Zweck, der – nach Einschätzung des Verpfeifenden – der Allgemeinheit dient. In Geheimdienstkreisen heißen Verräter sachlich »Informanten« – schon hier beginnt die Täuschung, sie funktioniert wie der ideologisch verordnete »Neusprech« in George Orwells Roman »1984«. Die sogenannten Informanten müssen so auftreten und wirken wie die trügerische Bezeichnung ihrer Tätigkeit: unauffällig, keinesfalls irgendwie aufregend oder abweichend.