Buch lesen: «Das Krähennest»

Schriftart:

MARTINA

WIED

DAS KRÄHENNEST

ROMAN

BEGEBNISSE AUF VERSCHIEDENEN EBENEN

Herausgegeben und mit einem

Nachwort von Evelyne Polt-Heinzl


INHALT

I Die Flucht

II Das große Welttheater und

III … das kleine Haustheater

IV Der Knoten schürzt sich

V Irregang

VI Verräter

VII Die Stadt aus Glas

VIII Der Aufbruch

IX Das Attentat

X Scheiden vom Krähennest

Nachwort

Impressum

Begonnen am Weißen Sonntag 1944.

in Wincanton, Somerset, England.

Beendet am Gründonnerstag 1948

in Llandudno, North-Wales.

Dieses Buch, entstanden in den Jahren,

da wir beide voneinander getrennt waren,

ist meinem Sohn HANNO zugeeignet.

»Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnein –

Weh dem, der keine Heimat hat!«

Nietzsche

I

1

Niemand hatte sich vorgestellt, daß die Übersiedlung so große – so unabsehliche Folgen mit sich führen würde. Im ersten Augenblick, als Leontes die erlösende Nachricht brachte, er habe etwas Geeignetes gefunden, ein Landgut mittlerer Größe, wo die Wohngebäude zwar nicht Raum genug für alle Kostschüler, die Gründe aber ausgiebigen Platz zur Errichtung von Notstandsbauten und Baracken boten, und er habe diesen Besitz nicht etwa nur gepachtet, sondern käuflich erworben – da schallte ihm allgemeiner Jubel entgegen. Wie unbeliebt der Prinzipal auch bei der Mehrzahl seiner Zöglinge, von den Lehrern ganz zu schweigen, sein mochte, jetzt hätte ihn jeder und jede umarmen wollen; denn alle waren, wie verschieden auch sonst im Seelischen und Geistigen, an Charakter und Widerstandskraft, nur mehr von einem einzigen Gedanken besessen: Fort von hier! Fort von den pfeifenden, schmetternden, berstenden, erflammenden Bomben – den knisternden und krachenden, »sprechenden« Mauern, den zerspringenden, splitternden, zu Boden prasselnden Fensterscheiben, dem dumpfen Hummelsummen kreisender Schutzflugzeuge, dem Knattern der Abwehrgeschütze, den lichtlosen, luftlosen, schimmelfeuchten Kellern, wo sie nun seit Wochen bereits ihre angsttraumerfüllten Nächte verbrachten.

Am Anfang war auch alles wunderschön, nahezu vollkommen. Wem das Haupthaus unter dem zierlichen Balusterdach keine Unterkunft mehr bot, der fand sie in den ehemaligen Stallungen, und waren auch diese – Sattelraum, Pferdeschwemme und die darüber liegenden, unter dem vorigen Besitzer seinen Reitknechten zugewiesenen Zimmerchen – besetzt, dann verfiel Leontes auf den Ausweg, Karawanen teils zu kaufen, teils zu mieten. Er brüstete sich nicht wenig mit dieser Erwerbung, denn er war keineswegs als der einzige auf die farbigen Reisewagen erpicht: Benachteiligte, die kein Landhaus besaßen, oder eines in gefährdeter Gegend, richteten sich häuslich im Wohnwagen ein, ausgediente Automobile, die sich schamhaft in abgelegenen Garagen verbargen, wurden aufgestöbert, zu Phantasiepreisen angekauft, notdürftig repariert, mit neuen Reifen versehen und vor die Zigeunerheimstätten höherer Ordnung gespannt: »So, jetzt mögen sie kommen, wir fahren ihnen einfach davon!«

Langsam aber meldeten sich, die ursprüngliche Begeisterung übertönend und sie mählich verdrängend, Zweifel, Unbehagen, Überdruß: Die Landschaft war nüchtern und kunstlos, ohne überraschende Einfälle, ohne den Zauber des Abstand haltenden Großartigen – ohne den bescheidenen Reiz des nahen anschmiegsam Zierlichen, auf das eiligste und wohlfeilste zusammengestoppelt, gerade nur für bescheidene Ansprüche und unverwöhnte Augen, schlicht wie die Notstandsbauten des »Lavendelhofes«, dessen duftiger Name von den Tatsachen Lügen gestraft wurde.

Nicht alle Karawanen waren elektrisch beleuchtet, nicht alle Zimmer und Schlafsäle durch die offenen Feuerstellen genügend erwärmt, nicht jeden Tag waren die Mahlzeiten genießbar, nicht immer fanden sich die Zöglinge damit ab, in Brot und Milch, beides zum Überfluß vorhanden, ausreichenden Ersatz für den Mangel an sorgfältig zubereiteter warmer Kost zu sehen. Schüler und Lehrstab teilten sich fortan in zwei Gruppen: Nörgler und begeistert Zustimmende – und wie oft in den nächsten Jahren auch Zöglinge und Professoren wechselten –, diese beiden Gruppen blieben im gleichen Verhältnis und in nahezu derselben Anzahl dauernd bestehen.

Allerdings würde, wer immer unsichtbar ein Gespräch der Buben oder Mädel zu belauschen die Möglichkeit gehabt hätte, sich ein ganz falsches Bild von dem Eigentlichen ihrer Beschwerden und Klagen gemacht haben. Die rauchenden Petroleumlampen in mehreren der altmodischen Karawanen, die unzureichende Verdunkelungsmethode, welche Leontes nahezu allabendlich veranlaßte, in irgendeinem der Dormitorien die Birnen abzuschrauben und die Halbwüchsigen – Burschen wie Mädel – um neun Uhr schon, wie die ganz Kleinen, zur Dunkelhaft zu verurteilen, das lieblos zusammengehaute, unschmackhafte Essen, die Ödnis der Gründe, die doch früher einen wohlgepflegten, farbig aufgehellten Park getragen hatten –, dies alles waren nichts anderes als Vorwände, dahinter sich Tieferes verbarg. Die Télème-Abtei-Schule, jetzt auf dem Lavendelhof den Gefahren, die sie am Rande der Großstadt bedroht hatten, ausgewichen, beherbergte und betreute Schüler und Schülerinnen, deren geistige Ansprüche, nach Abstammung und Begabung, hoch über dem Durchschnitt zu suchen waren. Ihre Nerven waren es bloß, die nachgegeben hatten, ihre Geräuschempfindlichkeit konnte die lärmend verstörten Nächte nicht mehr ertragen; ihr eigentliches Wesen aber verlangte und suchte die Gefahr, sie war ihnen Ansporn, um Tapferkeit, Selbstbeherrschung, Geistesgegenwart zu beweisen, war ein spannendes Abenteuer, ergab die Möglichkeit, bisher unerlebte Situationen nach persönlichen Eigenheiten und seelischem Bedürfnis umzuleben, umzuformen, umzudichten; sie erteilte Erlaubnis, über die Grenzen des Gestatteten hinauszulangen in das Reich des Geheimnisvollen, des Verbotenen.

Auf dem Lavendelhof aber war alles überschaubar, offensichtlich, man lebte in einer Art von Glashaus, das zwar nicht klirrend zersplitterte, im gleichnishaften Sinn aber die jungen Seelen dessen beraubte, woran ihnen am meisten gelegen war: der Unberührbarkeit ihrer keuschen – wenn auch keineswegs vor dem Kühnen, ja nahezu Lasterhaften zurückschreckenden – Knospenseele. Nun ist die menschliche Natur aber so beschaffen, daß sie sich, was ihr von außen versagt und vorenthalten wird, aus eigenem zeugt. Auf dem Lavendelhof gab es keine Gefahr, das tägliche Dasein lief, bei aller Dürftigkeit, welche durch die Bewirtschaftung lebenswichtiger Nahrungs- und Genußmittel unumgänglich wurde, wie auf gutgeölten Rädern hin: gleichförmig, vorausberechenbar, tödlich langweilig. Dagegen empörte sich der Organismus der jungen Menschen, die sich zu einer noch nicht genau bestimmten und festumschriebenen – aber auf alle Fälle bedeutenden Leistung auserwählt fühlten; man durfte es ihnen, empfanden sie, nicht so leicht machen, mußte ihnen Bewährungsfristen, Kraftmesser bewilligen. Da dies von außen nicht mehr erreichbar war und sie von dem peinigenden Bewußtsein, daß sie in der ihnen zugeteilten Prüfung versagt hatten, schier aufgezehrt wurden, stellten sie ihren Körper auf eine harte, schmerzhafte und als Situation das Groteske und Tragikomische streifende Bewährungsprobe: Eine Seuche brach aus auf dem Lavendelhof, die alle Schüler und die meisten Lehrer – und nahezu im selben Augenblick – ergriff und seltsamerweise nur vor den Prinzipalen Halt machte.

Zum erstenmal, seit er seinen Besitz an dem nun zahnlückenhaft ausgebrochenen Rande der Hauptstadt gegen dieses abgelegene und verfallene Gut ausgetauscht hatte, fühlte Leontes sich unsicher, an seiner Verantwortlichkeit gepackt, gefährdet, aufgeregt. Er ließ, und zwar auf eigene Kosten, Chemiker aus den verläßlichsten Laboratorien der Residenz kommen, die alle Quellen und Brunnen auf dem Lavendelhof nach möglichen Viren analysierten. Die Quellen und Brunnen gaben in der üblichen Zusammensetzung, welche wir in der Ebene zu finden gewohnt sind, allerdings mit einem in solchen Lagen ungewöhnlichen Kalkreichtum, durchaus unverdächtiges, bekömmliches Wasser. Leontes, nahezu enttäuscht in seinem Bestreben, ein konkretes Gebrechen, dem man irgendwie beikommen könnte, für die Epidemie verantwortlich zu machen, dachte nun – nicht ohne den von ihm zu Rate gezogenen Fachleuten ein Lächeln zu entlocken – an die Erde, der das von den Kindern verzehrte Gemüse, oft als Rohkost genossen, entsprossen war: Eine gute, vielleicht von Kalidünger etwas überanstrengte Erde war es; schließlich ließ Leontes die in solchem Überfluß vorhandene Milch seiner acht mageren, hochblonden Kühe (die überdies vor dem Gebrauch noch pasteurisiert wurde) untersuchen: Es war eine nicht sehr fetthaltige, aber bazillenfreie Milch. Leontes stand vor einem Rätsel: Wenn Wasser, Erde, Milch gesund waren – warum sind dann die Kinder erkrankt? Wo verbarg sich das Gift, das ihren Organismus durchseuchte, woher strömte es in die jungen Körper über? Und wieso war er selbst – Leontes, war Hermione, seine Frau, und seine Tochter Miranda vor der Ansteckung gefeit? (Aber, das hätte ihm zu denken geben müssen, nicht Arthur, sein Sohn, der, im Gegenteil, einer der von der Seuche am schwersten, bis zur Lebensgefahr Ergriffenen war!)

Dysenterie ist keine Krankheit, die wen immer auf die Vermutung brächte, ihr Ursprung sei anderswo als im Körperlichen zu suchen; noch der verbissenste Psychoanalytiker hielte es für ausgeschlossen, daß man einen Ruhrkranken in seine Behandlung überstellen könnte. Nicht so die Zöglinge der Télème-Abtei-Schule: Sie nannten ihre Krankheit »die Pest«, es gesellte sich bei ihnen zu den höchst empfindlichen physischen Qualen jenes Grauen, jene übernatürliche Angst, die seit altersher einzig durch Aussatz und Pest, unter allen Seuchen, erweckt wird. Die Zöglinge der Schule auf dem Lavendelhof beurteilten einander gegenseitig danach, ob sie diese Prüfung mit Anstand, Würde, Tapferkeit – oder kläglich winselnd, jammernd und sich selbst bemitleidend hinnahmen; man konnte nicht mehr daran zweifeln, daß sie die Heimsuchung (obschon die Télème-Abtei ja den Religionsunterricht abgeschafft hatte und den sonntäglichen Kirchgang dem religiösen Bedürfnis des einzelnen anheimgab) als eine Art stellvertretenden Leidens ansahen, wodurch sie sich von der Feigheit, die in ihrer Flucht auf das Land verborgen war – jetzt nämlich nannten sie’s ohne jede Beschönigung so –, freikauften.

Als die Krankheit, wie man annehmen durfte, erloschen war (später erwies sich’s allerdings, daß die meisten der neu eintretenden Zöglinge und der hinzukommenden Lehrer sie nachholen mußten, ja sogar, daß viele, die gleich von der ersten Ansteckung betroffen worden waren, Rückfälle erlitten), merkte Leontes, daß unter seinen Schutzbefohlenen eine Seelenmüdigkeit überhandnahm, die ihre Auffassungsgabe, ihren freiwilligen Fleiß, die Gaben, die sie so hoch über die Gleichaltrigen in anderen Schulen hinausgehoben hatten, herabminderte. Man müsse die Kinder, riet Hermione ihm, zu zerstreuen trachten, wie wär’s mit einer Kinoanlage? »Falls du«, erwiderte Leontes mit jener Stimme, die, eine Mischung von Eis und Stahl, wenn er sich an seine Gattin wendete, so oft aus ihm hervorbrach, »die Kosten auf dein Konto übernehmen wolltest – bitte!«

Es wäre, überlegte er, nicht nur billiger, sondern auch weitaus erziehlicher, das junge Volk zu eigener Leistung anzuregen, wir sollten die auch anderwärts zum Trimesterende üblichen Theateraufführungen überdies zwischendurch, mit musikalischen Darbietungen abwechselnd, zu einer regelmäßigen Einrichtung machen, so zwar, daß alles – die Herstellung der Dekorationen wie die Regie, die Auswahl der Stücke – den Zöglingen überlassen bliebe; selbstverständlich aber dürfte über diesen Geistesübungen der Sport nicht vernachlässigt werden. Übrigens …; trotz der scharfen Ablehnung, die seine Gattin von ihm erfahren hatte, erwog Leontes dennoch die Anschaffung einer Tonfilmeinrichtung. Gefahr bestand nämlich, daß man eine Anzahl von Zöglingen an andere, inzwischen gleichfalls evakuierte Schulen, die unweit des Lavendelhofs elegantere, bequemere und – fügte Leontes mit einem innerlichen Seufzer hinzu – hygienisch ein wandfreiere Unterkommen gefunden hatten, verlöre: dem mußte mit allen Mitteln, auch wenn sie beträchtliche Auslagen erforderten, vorgebeugt werden.

Der Prinzipal berief eine Versammlung des Lehrstabes ein, mit der Tagesordnung: »Wie unterhalten wir unsere Buben und Mädel während des Wochenendes?« – Gut und schön, Samstag, das versteht sich, der übliche Fußballwettkampf, an dem ja, erstaunlicherweise, auch eine Anzahl der Schülerinnen großes Interesse nahm, aber immerhin bloß ein passives; die meisten wollten selber den ihnen gemäßen Sport betreiben, Hockey oder Netzball …, »à propos: Ich hörte soeben, eines der Netze sei zerrissen. Ist bereits Ersatz bestellt worden?«

Die Angelegenheit »Netzball« wird weitläufig erörtert, bis man zu anderer Erheiterung der weiblichen Jugend – die ja beim Netzball stärker beteiligt ist als die männliche – übergehen kann.

»Bei schlechtem Wetter aber? Pingpong? Wir haben zwei Tische und sechsundsiebzig Mädchen. Vier oder fünf darunter spielen Schach, überraschend genug nicht einmal schlecht, und zwei bis drei Dutzend Bridge – obschon ich Kartenspiele in meinem Hause nicht gern sehe. Auch nehmen bloß die Ungeistigen, und vor allem die Unmusikalischen, daran Interesse, denken wir jetzt an die Geistigen und Musikalischen: Die meisten Mädel und auch eine hübsche Anzahl Burschen spielen Klavier, wie viele, nebstbei? Dann haben wir sechzehn oder siebzehn Geiger und Geigerinnen, vier Cellisten. Ein halbes Dutzend ungefähr bläst Flöte: Daraus läßt sich schon ein brauchbares Hausorchester zusammenstellen.«

»Immerhin wäre das Arbeit, nicht Unterhaltung.«

»Für solche, die mit Feuereifer dabei sind, zumindest erziehliche Unterhaltung.«

»Und wie viele werden diesen Vorschlag mit verkniffenen Lippen aufnehmen? Das gehört in die Arbeitswoche, unsere Freizeit wollen wir anders zubringen, in der Stadt sind wir ins Kino gegangen, werden sie sagen …«

»Bravo, da haben wir’s ja: eine Kinoeinrichtung, machen wir uns selbständig.«

»Wissen Sie vielleicht, wenn auch nur annähernd, wieviel so etwas kostet, Antonius? Nun, ich weiß es, denn ich habe diese große Ausgabe bereits erwogen – und, wiewohl sie in gewissem Mißverhältnis zu dem, was Anstalten mit bedeutend höherem Schulgeld sich leisten, stünde, war ich bereit, dieses finanzielle Opfer zu bringen –, da kamen die Einschränkungen im Stromverbrauch: Wir können doch nicht gut an dunklen Wintermorgen in unerleuchteten Schulzimmern sitzen, oder übers Wochenende die Milch im Frigidaire sauer werden lassen – bloß um samstags Diana Durbin zwitschern zu hören und sonntags ›Phantasia‹ aufzuführen! Sie, als Philologe, Antonius, dürfen sich ja solche Phantasien leisten, ich aber, als Doktor der Politischen Ökonomie, besitze einen gewissen Sinn für Proportion, vielmehr, ich bin sogar dazu verpflichtet, ihn in Anwendung zu bringen …«

Nach dieser Stabsversammlung, der auch die beiden weiblichen Mitglieder der Lehrerschaft angewohnt hatten, nahm Leontes einige seiner jüngeren Professoren beiseite. Des Prinzipals gute Laune war von ihnen noch weit stärker gefürchtet als seine unvorhersehbaren Zornesausbrüche. Diese konnte man schweigend, gebeugten Nackens, wie ein Gewitter, über sich hinbrausen lassen, war er aber aufgeräumt, dann erwartete er lachende oder lächelnde Beistimmung zu seinen witzigen Bemerkungen: recht peinlich für die Zuhörer.

»Sie sind doch«, sagte Jacques ärgerlich und abschätzig, »ein rechter Streber, mein lieber Antonius. Wie bringen Sie’s nur fertig, zu solchen traurigen Späßen angeregt zu wiehern? Merken Sie denn nicht, daß der Alte sich an uns ganz einfach für künftige Parlamentsreden einübt? Mit interpolierten Klammern, versteht sich: ›Hört, Hört!‹«

»Wie? Parlamentsreden? Ich wußte gar nicht …«

»Ach so: dann sind Sie der einzige Unwissende hier: Leontes ist, als Gutsbesitzer des Kreises, für die kommenden Ersatzwahlen als Kandidat aufgestellt worden – und Sie, mit Ihrem erschütternden Bariton, stellen für ihn gleich die ganze Galerie dar. Nebstbei: welch unglaubliche Taktlosigkeit, sich um unsere erotischen Belange zu kümmern! Dazu hab’ ich ihm, nach oder vor den Wahlen, kein Mandat gegeben. Mein Hirn hab’ ich ihm vermietet, aber ›von der Taille abwärts‹ – um mit Gilbert und Sullivan zu reden – geh’ ich ihn nichts mehr an.«

»Witzig ausgedrückt: Aber freilich haben Sie, Jacques«, seufzte Antonius, »leicht reden. Wer vor so schönen Augen Gnade gefunden hat …«

»Und die Augen«, unterbrach, mit einem Anflug der Geckenhaftigkeit, Jacques seinen Kollegen, »sind nicht einmal das Allerschönste an ihr.«

»Nicht freundschaftlich von Ihnen, dergestalt den Neid der besitzlosen Klasse zu wecken …«

»Nun, Antonius, ich dachte doch, Ihre Askese – wenn es eine ist – sei freiwillig? Denn wenn ich mich auf Blicke verstehe, sieht Viola Sie mit höchst aufmunternden an. Warum spielen Sie also ständig den Spröden?«

»Ich spiele ihn gar nicht, ich bin’s. Diese liebenswürdige junge Dame ist mir denn doch allzu domestiziert. Und da das Halten von wilden Bestien in Privatwohnungen bei uns verboten ist, und ich an schmiegsamen Haustieren kein Wohlgefallen finde, muß ich mich – auch ohne besondere Ermutigung von Leontes dafür abgewartet zu haben – an einen der Zwinger halten, wo es für mich junge Löwinnen oder Pantherkatzen zur Gesellschaft gibt.«

»Oho, das ist nicht nur«, widersprach Jacques, »die einschlägigen Darbietungen angehend, eine übertriebene Erwartung – mir wenigstens ist in derartigen Etablissements noch nicht einmal eine Wildkatze untergekommen –, sondern auch eine Falschmeldung: Nach einem Löwenjäger sehen Sie mir nicht gerade aus, mein lieber Antonius. So weit ich Sie kenne, scheinen Sie mir doch eher sentimental …«

»Aber mein lieber Jacques, das Sentimentale ist doch anerkanntermaßen Ihr Reservat …«

»Soweit Sie mich kennen: aber kennen Sie mich überhaupt? Wer von uns kennt sich denn selbst? Kenne ich mich etwa?« Jacques summt halblaut einen Vers vor sich hin:

»Ich erkenn’ den Mönch an der Kutte,

An den Dienern, wie ihre Herren sich betragen,

Die Herkunft des Wamses erkenn’ ich am Spitzenkragen,

Den Rang eines Weins an der Butte.

Alles kenn’ ich, alles durchschau’ ich schon –

Bis auf mich selbst: Den Françis Villon …«

»Von wem ist denn das, Jacques?«

»Von einem ganz modernen Dichter, der nur zufälligerweise bereits vor – lassen Sie mich nachrechnen – ungefähr vierhundertachtzig Jahren gestorben ist.«

Die Andeutung, welche wir diesem Gespräch zwischen Antonius und Jacques entnehmen – die Namen tun übrigens nichts zur Sache, es werden immer wieder die gleichen Typen auf dem Lavendelhof auftauchen –, läßt uns erraten, wie es um die jungen Leute, Lehrer so gut wie die erwachsenen Schüler, bestellt war, die sich so blitzlich – so leichtsinnig, sagten später manche von ihnen – dem Bereich der großstädtischen Unterhaltungsmöglichkeiten entzogen hatten.

»Es bleibt uns«, sagte der feine Horatio zu dem grobschlächtigen Autolykus, der etwas von dem Ungestüm und der gutmütigen Tölpelhaftigkeit eines jungen Rüden an sich hatte, »nichts anderes übrig: Wir müssen uns sublimieren …«

»Subli…, was müssen wir? Sublimat ist ein: Desinfektionsmittel, soviel ich weiß, das irgendwie mit Quecksilber zusammenhängt …«

»Richtig. So wie die aufgefangenen Dämpfe des erhitzten Quecksilbers den Niederschlag eines rötlichen Pulvers ergeben, müssen wir unsere aufgespeicherte Erotik verdampfen lassen, um sie im Niederschlag unsterblicher Verse verklärt aufzufangen.«

»Dir gelingt das vielleicht. Wenn man eine berühmte Dichterin zur Großmutter hat, kommt man leicht auf solch abwegige Ideen. Sublimier dich also, bitte, nach Herzenslust, Horatio, mir grobem Gesellen aber erlaub’, mich an Substantielleres zu halten …«

»Ist sogar in unserem Städtchen erreichbar, bei herabgesetzten Ansprüchen allerdings nur …«

»Du hast also, trotz angestrebter Sublimierung, dennoch herausbekommen, daß man sich in unserem biederen Provinznest bloß bei ›herabgesetzten Ansprüchen‹ erlustigen kann?«

»Nicht aus eigener Erfahrung, denn ich nehm’s«, wehrte Horatio ab, »mit der Sublimierung wirklich ernst, weiß ich das, sondern aus den zuverlässigen Berichten von Hal und Lancelot. Du kannst, wenn dir daran liegt, von ihnen Einläßlicheres darüber hören, denn sie sind Stammgäste bei Madame Adèle. Petruchio und Brutus hingegen, höher kultiviert und überdies mit Taschengeld reichlicher versehen, ziehen die Maison de Passe der Madame Paulina in unserem lieben Bäderstädtchen vor, die Chefin ist Portugiesin mit farbigem Einschlag, und beide, Petruchio sowohl wie Brutus, finden sie empfehlenswert, die Maison, versteht sich, nicht die Portugiesin …«

»Verzeih, was ist eine ›Maison de Passe‹? Nicht jeder hat wie du, Horatio, Französisch als zweite Muttersprache erlernt …«

»Der Gegensatz zu einer ›Maison close‹ – mehr kann ich dir nicht verraten, denn das Auskunftsbüro wird mittwochs um vier Uhr geschlossen – und«, Horatio blickte auf sein Handgelenk, »es ist bereits halb fünf – und ein Mittwoch …«

24,99 €