Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 13

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Besuch in Bethlehem

Samuel, der Besucher im Stall von Bethlehem, schüttelt sich den Staub aus dem Fell. „Pass doch auf!“, schimpfen und husten die Spinnen und die Ameisen. „Du kommst einmal im Jahr zu uns, nur um deinen Wüstenstaub über uns zu schütten, mach das gefälligst vor der Tür!“

„Oh, entschuldigt, ich hatte ganz vergessen, was mir die Sonnenstrahlen erzählt haben, hier soll ordentlich viel los gewesen sein. Ist das wahr?“

Ismael, Samuels Cousin, erzählt:

„Weißt du, das war so: Die Himmelsschlüssel, diese blauen Blumen dort, die sind mit den Engeln befreundet. Von denen erfuhren wir, dass hier in unserem Stall ein Wunder geschehen wird. Hier sollte ein großer König geboren werden. Und wir wollten dazu beitragen, dass alles schön gemütlich und sauber ist. Die Sonnenstrahlen leuchteten in jedes Eck hinein, sodass die Ameisen wirklich jedes Flöckchen Staub finden und hinausbefördern konnten. Die Spinnen versprachen, wenn das Kind da ist, sofort ihre Netze aufzufressen, dass es sich nicht erschrickt. Abends fielen wir alle in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Tag hatte der Bauer hier viel zu tun. Er tauschte eine Menge kaputter Holzlatten aus und reparierte sogar das Fenster. Unser Opa stand wie immer an seinem Futtertrog. Er schaute lieber zu, anstatt sich irgendwie an der Arbeit zu beteiligen. Er begnügte sich damit, Gelegenheiten zu suchen, um vor sich hin zu granteln, wenn ihm irgendetwas nicht passte. Doch ab und zu holte ihn der Bauer ab, um den Karren mit Gemüse, Käse oder Wolle in die Stadt zu ziehen. Darüber freute er sich jedes Mal, denn meistens gab es auch Kinder zu tragen. Mit dieser leichten Last auf dem Rücken konnte er richtig gemütlich vor sich hin traben, wie es ihm gefiel. Wenn er dabei trotz seines hohen Alters übermütig wurde, plötzlich mit den Hufen ausschlug oder losgaloppierte, dann hatten die Kleinen und er ihre helle Freude. So auch jetzt, nachdem die Arbeiten im Stall erledigt waren. Auf dem Weg in die Stadt leistete ihm der Ochse vom Nachbarhof Gesellschaft. Unterwegs fraßen sie gemeinsam frisches Gras und tauschten Neuigkeiten aus. Hierbei erfuhr unser Opa, dass wir einen Besucher haben werden: Der Ochse wird eine Weile mit ihm an der Futterkrippe stehen. Na, das war immerhin eine Nachricht! Ganz anders als die von diesem König, so Opas Aussage. Bald erschien ein fremder Mann, der einen Esel führte, auf dem eine schwangere Frau saß.

„Damit fing alles an“, plappert eine Spinne voller Ungeduld los. „Jetzt brach nämlich die Hölle aus und alles drehte sich nur noch um diese Frau und ihr Kind. Der Bauer mit seiner Familie und eine weitere Frau waren die ersten Besucher, die kamen. Haben die eine Unruhe verbreitet! Die Kinder des Bauern rannten hier herum, die zweite Futterkrippe wurde hervorgeholt. Stell dir vor, da konnten wir über Generationen ungestört unsere Netze bauen, auf einmal war alles weg! Stattdessen wurde ganz frisches Stroh hineingelegt. Vor dem Stall wurde Holz angezündet. Dazwischen schrie das kleinste Kind. Und das alles war erst der Anfang, es kamen immer mehr Menschen dazu. Und du weißt ja selbst, wo die in Massen auftreten, ist es laut und Tiere sind im Weg. Besonders wir Spinnen und Ameisen müssen immer wieder aufpassen, dass wir nicht zertrampelt werden. Und nachdem das Kind geboren war, kamen so viele Besucher, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Sehr, sehr oft tauchten schon bei Sonnenaufgang irgendwelche Fremde auf, um vor der Frau mit ihrem Kind niederzuknien und ihr Geschenke zu bringen. Die Letzten gingen nach Sonnenuntergang. Wir hatten überhaupt keine Ruhe mehr. Es muss wirklich ein ganz außergewöhnliches Kind sein, das da geboren wurde.“

„Und wie ging es danach weiter?“, fragt Samuel.

Ismael beginnt wieder: „In der Nacht, nachdem das Kind geboren wurde, ich hatte schon fest geschlafen, sind mir die Spinnen und die Ameisen über das Gesicht und den Hals gekrabbelt. Meistens machen sie das nur aus Versehen und lassen sich leicht abschütteln, diesmal waren sie sehr hartnäckig. Gleichzeitig lag auf meinen Augenlidern ein enormer Druck. Als ich endlich blinzeln konnte, machte ich direkt vor dem Stall eine gleißend helle Lichtquelle aus. Hinter mir ertönte ein gedämpftes, tiefes Iaaa. Ich drehte mich um. Auch Großvater hatte wohl so etwas noch nicht erlebt: Er stand neben seinem heiß geliebten Futtertrog, und starrte gerade aus vor den Stall. Jetzt konnte ich auch erkennen, was er sah: Vor der Familie standen Zweibeiner, die aussahen wie Menschen, sie waren nur größer und trugen Flügel. Sie strahlten eine eigenartige Helligkeit aus. Zahllose kleinere geflügelte Wesen, die genauso aussahen, durchkreuzten fliegend und singend die Umgebung. Einige bliesen in lange silberne Rohre, aus denen wunderschöne Musik kam. Andere trugen runde Töpfe, um mit kurzen Holzstielen darauf herumschlagen. Die riesige Figur direkt vor der Frau war die einzige, die das Maul auf und zu klappte. Sie hat ganz bestimmt etwas sehr Schönes gesagt. Die Wöchnerin sah ganz aufmerksam zu ihr hin. Wir hatten Angst und waren gebannt von diesem wunderbaren, seltsamen Schauspiel. Wir drängten uns in einer Ecke hinten im Stall ganz eng zusammen. Eine Spinne hatte einen Krampf im rechten vorderen Bein, weil sie unbequem stand. So unauffällig wie irgendwie möglich humpelte sie zur Seite, um sich vorsichtig zu strecken. Nach einer Weile wurde das Licht schwächer, die Menschen und die geflügelten Wesen zogen sich zurück. Links und rechts neben dem Stall blieben zwei Menschenfiguren mit Flügeln stehen, ihr Licht glimmte gerade noch wie das von Glühwürmchen. Die Musik klang leise im Hintergrund weiter. Wir standen noch lange beisammen, um über dieses seltsame Schauspiel zu reden, so unauffällig wie möglich.“

Die Tiere kauen versonnen auf ihrem Heu herum. Schließlich bricht Samuel das Schweigen. „Und was ist mit Opa? Wieso ist der nicht hier?“

Jetzt wird Ismael wütend, er lässt sein lautestes Iaaa hören und galoppiert über die Wiese, bis er sich beruhigt hat. Dann trottet er mit hängenden Ohren und eingezogenem Schwanz zurück in den Stall. „Es schmerzt mich immer wieder“, knurrt er vor sich hin, „dass ich zusehen musste, wie Opa litt und ihm nicht helfen konnte.“

Er macht eine Pause, nimmt einige Atemzüge und redet dann leise weiter. „Es kamen wirklich noch viele fremde Menschen hierher. Die hatten alle Geschenke dabei und knieten vor der Frau und dem Kind nieder. Eines Tages kam ein ganzer Trupp vornehm gekleideter Männer und Frauen auf Kamelen geritten. Es gab ein Gespräch, das die ganze Familie in großen Aufruhr versetzte. Weil die Menschen Schwierigkeiten hatten, mussten wir einen weiten Weg gehen, der unserem Opa zu viel wurde, und das ist das, was mich so wütend macht.“

„Er musste die Menschen tragen?“

„Der fremde Esel und ich, wir beide bekamen Kisten mit den Geschenken aufgeladen, die die vielen Besucher mitgebracht hatten, und Opa musste die Frau und das Kind tragen. Nach zwei Tagen konnte er einfach nicht mehr. Wisst ihr, was die mit ihm gemacht haben? Die ließen ihn einfach zurück! Ich musste noch lange weiterlaufen, meinen Opa habe ich nicht mehr gesehen.“

Traurig und mit hängenden Köpfen stehen die Esel um die Futterkrippe herum und fressen ihr Heu.

Christel Heil wurde in Kaiserslautern geboren und wohnte bis 1977 in einer Gemeinde im Landkreis Kaiserslautern. In ihrem 16. Lebensjahr wurde ihre erste Kurzgeschichte veröffentlicht. Nach einer langen Pause begann sie 2011 wieder, zu schreiben und in kleinerem Kreis vorzulesen. In verschiedenen Anthologien wurden einige Kurzgeschichten veröffentlicht, so auch 2014 in der Apfelanthologie. Ein weiteres wichtiges Hobby ist Querflöte spielen.

*

Biggi und die Christkind-Falle

Birgit mochte ihren Namen nicht besonders – wer hieß den heutzutage noch Birgit? Also in ihrer Klasse niemand. Die hatten alle coole, moderne Namen – und sie war nach ihrer Oma benannt. Also wirklich – was hatten sich ihre Eltern dabei gedacht. Sie war froh, dass sich in ihrer Klasse schnell ein Spitzname für sie fand und so wurde sie von allen Biggi gerufen – der Name klang so zwar irgendwie nach Kleinkind und sie ging ja immerhin schon in die erste Klasse, aber immerhin nicht nach Oma.

Ihre Oma hingegen liebte sie aber über alles. Da ihre Eltern oft arbeiten mussten, war Biggi viel bei ihr. So auch heute. Draußen stoben die Schneeflocken, während sie am Küchentisch saß und eine nahezu gigantische Tasse Kakao trank. Ihre Oma saß ihr gegenüber, las Zeitung und nippte ab und an ihrem Kaffee.

„Bald ist Weihnachten“, stieß Biggi hervor und griff nach einem Stück Kuchen, das auf einem abgewetzten Tablett vor ihnen lag.

Raschelnd senkte sich die Zeitung und ihre Oma sah sie lächelnd mit einer hochgezogenen Augenbraue an: „So so … na, dann hoffen wir, dass du lieb und brav warst …“

„Hmm … ach, Oma, … als ob ich keine Geschenke bekommen würde, wenn ich nicht brav gewesen wäre …“

Nun legte die ältere Dame die Zeitung demonstrativ weg und widmete sich voll ihrer Enkelin: „Wie meinst du denn das?“, sagte sie und griff ebenfalls zum Kuchen.

„Na, diese Weihnachtsmann-Geschichte glaubt doch kein Mensch mehr, ich bin doch kein Baby! Papa und Mama holen die Geschenke!“

Ihre Oma lachte kurz und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab: „Da hast du natürlich recht, du bist kein Baby mehr und diese Weihnachtsmann-Story … also, die kannst du wirklich vergessen!“

Biggi nickte so heftig, dass ihr Lockenkopf regelrecht erschüttert wurde, und grinste ihre Oma an, wobei sie eine Milchzahnlücke offenbarte. „Aaaaaber …“, setzte diese an, „… das mit deinen Eltern stimmt leider nicht.“

 

Biggi stockte noch im Kauvorgang und sah sie erstaunt an.

„Die Geschenke bringt nicht der Weihnachtsmann, den gibt’s gar nicht, aber deine Eltern holen sie auch nicht …“

„Wer denn dann?“ Biggi war echt verunsichert.

„Natürlich das Christkind!“

Fragende Augen sahen die ältere Dame an. „Das Christkind? Was ist denn daaaas?“

„Na ja, das Christkind bringt in der Nacht vor Heiligabend die Geschenke und legt sie um den Weihnachtbaum. Hast du dich nie gefragt, warum euer Wohnzimmer ab dem 23. Dezember nachmittags abgeschlossen ist?“

„Doch …“, gestand Biggi, „… aber ich dachte, Mama und Papa bereiten da immer alles vor.“

„Neeeein … da kommt nachts das Christkind!“

„Und ... wie sieht das aus?“

„Das ist es ja, das darf keiner sehen! Es bringt seine Geschenke nur heimlich! Also kann keiner sagen, wie es aussieht.“

Biggis fragender Gesichtsausdruck änderte sich zu wilder Entschlossenheit: „Dieses Jahr, werde ich es fangen!“ Ihre Oma lachte laut auf und strich ihr durch das wuschelige Haar.

Ihr Plan war perfekt. Biggi lag in ihrem Zimmer im Bett. Es war dunkel, nur die Schneeflocken vor dem Fenster schickten ein wenig weißes Licht in ihr Zimmer. Es war der 23. Dezember. Morgen war Heiligabend. Seit zwei Wochen war ihr das Gespräch mit ihrer Oma nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Sie schwankte zwischen Glauben und Neugier: Christkind? Wer sollte das sein? Wieder nur eine Geschichte von Oma – solche erzählte sie ihr häufig. Oder gab es das doch?

Und so war es zum Plan heute Abend gekommen – Biggi würde dem Christkind eine Falle stellen. Aus den Vorjahren wusste sie, dass ihre Eltern nach dem Weihnachtsgroßeinkauf am 23. Dezember immer gegen Abend, kurz bevor sie ins Bett musste, das Wohnzimmer abschlossen und sie erst wieder zur Bescherung am nächsten Tag hinein konnte. Aber sie war schlau: Sie wusste, dass ihre Mutter den Wohnzimmerschlüssel immer auf ihren Schreibtisch in die Stiftebox legte. Also wartete sie heute, bis ihre Eltern ins Bett gingen – ihr Schlafzimmer lag neben ihrem eigenen Kinderzimmer, dann würde sie hinunterschleichen ins Wohnzimmer und sich dort verstecken. Sie durfte nur nicht einschlafen … und sie war verdammt müde …

Als endlich alles ruhig war, kletterte sie aus ihrem Hochbett, schlich die Treppe hinunter – die Holzstufen durften auf keinen Fall knarzen –, ging dann ins Arbeitszimmer ihrer Eltern. Oh Gott, war es da dunkel und sie durfte kein Licht machen. Langsam fasste sie in die Stiftebox – ja kein Geräusch – und hätte fast gejubelt: Sie hatte den Schlüssel! Leise ging sie zurück auf den Flur des kleinen Reihenhauses, wandte sich zum Wohnzimmer und schloss es leise auf.

Das Zimmer lag in vollkommener Dunkelheit. Vor dem großen Panoramafenster konnte sie die Umrisse des Weihnachtsbaums ausmachen. Gott sei Dank – noch keine Geschenke da! Sie war also nicht zu spät. Leise schloss sie wieder die Tür und kauerte sich hinter den großen Sessel, den Papa so bequem fand und Mutter nur hässlich. Dort würde sie warten. Oh Gott, war sie müüüüdeee.

Kurz bevor ihr die Äugelein zufielen, schreckte sie auf: Ein Lichtblitz erhellte das Wohnzimmer. Sie duckte sich nur noch mehr hinter den Sessel und beobachtete, wie aus dem Blitz eine Gestalt ins Wohnzimmer trat. Ein Mädchen, wenige Jahre älter als sie. Es hatte blondes langes Haar und goldene Flügel – sie erinnerte sie an die Engelsbilder aus dem Religionsbuch. Das Mädchen trat auf den Christbaum zu und schnipste. Sie da! Aus ihren Fingern stoben Funken und vor dem Baum erschien ein wunderschön verpacktes Weihnachtsgeschenk. Sie schnippte erneut und wieder lag ein neues Geschenk unter dem Baum.

Biggi verließ ihr Versteck und trat in das hell erleuchtete Zimmer.„Wer bist du?“, sagte sie laut.

Erschrocken drehte sich das engelsgleiche Mädchen um und sah Biggi erstaunt an. „Du darfst mich nicht sehen!“, sagte es leise – seine Stimme hatte etwas wunderbar Melodisches.

Biggi lächelte. „Ich war neugierig.“

Das Mädchen erwiderte das Lächeln: „Ich bin das Christkind und bringe gerade die Geschenke!“

„Kannst du unendlich viele Geschenke machen? Mit dem Schnipsen?“

Das Lachen des Christkindes klang wie kleine Glöckchen: „Ja, das könnte man annehmen …“

„Meine Oma hat mir von dir erzählt, da wollte ich dich unbedingt einmal sehen!“

„Und? Bist du zufrieden mit dem, was du siehst?“ Das kindliche Gesicht des Christkindes hatte neben der Freundlichkeit auch eine unglaublich erwachsene, fast weise Ausstrahlung, wie man sie ansonsten nur von sehr alten Leute kennt.

„Du … du bist wunderschön!“, stammelte Biggi!

Wieder ertönte das Glöckchen-Lachen. „Jetzt muss ich aber weitermachen!“, sagte das Christkind.

„Kannst du nicht hierbleiben?“

„Aber das wäre doch für alle anderen ziemlich gemein, wenn sie keine Geschenke mehr bekommen würden, oder?“

Biggi nickte. „Ja, das stimmt!“

„Ich wünsche dir und deiner Familie eine frohe Weihnacht!“, sagte das Christkind.

„Danke!“, brachte Biggi hervor, sah dem Christkind tief in die Augen. Sie fühlte sich plötzlich so müde … so unendlich müde. Das Glöckchenlachen begleitete sie, als sie in den Schlaf hinüberglitt.

Biggi schreckte hoch. Verschlafen rieb sie sich die Augen. Die morgendliche Sonne strahlte in ihr Zimmer. Es hatte zu schneien aufgehört. Aber … wie war sie in ihr Bett gekommen?

„Na? Schlafmütze, heute bist du aber lange im Bett.“ Ihre Mutter hatte das Zimmer betreten.

„Mama! Ich muss dir was erzählen!“, platzte es aus Biggi heraus.„Ich hab das Christkind heute Nacht gesehen!“

„Ahhh, das Christkind!“ Ihre Mutter nickte lächelnd und öffnete das Fenster. Kalte Luft strömte in den Raum. „Und? Hat es Geschenke gebracht?“

„Ja … und … es war wunderschön!“, stammelte Biggi verschlafen und aufgeregt gleichzeitig. „Ich habs wirklich gesehen!“

Ihre Mutter strich ihr übers Haar. „Na, wenn das kein Weihnachtstraum war – komm, ich mach dir Frühstück. Raus aus dem Bett. Heute ist doch Weihnachten!“

Oliver Miller ist Lehrer an einem Gymnasium in Hannover.

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Die einhundert Paar Schuhe

Mein Name ist Dennis. Gerade bin ich damit beschäftigt, mein bestes Paar Schuhe zu putzen. Auch wenn man es ihnen ansieht, dass sie meine Füße schon so einige Kilometer getragen haben und ihr einstmals schwarzes Leder nun blass und an manchen Stellen brüchig ist.

Morgen ist Nikolaus. Wie alle Kinder möchte ich meine geputzten Schuhe vor die Haustür stellen. Ich hoffe, sie morgen in aller Frühe voller Leckereien vorzufinden. Am liebsten wäre es mir, wenn sie bis zum Rand mit Marzipankartoffeln gefüllt wären, denn die esse ich so gerne.

Letztes Jahr hatte mir der Nikolaus zusätzlich zu den Süßigkeiten auch einen Güterwaggon für meine elektrische Eisenbahn gebracht. Dieses Jahr wäre ich schon mit einem neuen Stromabnehmer für meine Lok zufrieden. Leider ist mir der alte Stromabnehmer kaputt gegangen. Mit meiner Bahn kann ich jetzt nicht mehr spielen.

Ich weiß, dass Jonas aus der dritten Etage, also eine Etage über unserer Wohnung, seine schicken blauen Sneakers herausgestellt hat. Die brauchte er kaum zu putzen, weil sie noch so neu sind. Seine Schwester Carla wollte ihre pinkfarbenen Glitzerboots vor die Tür stellen, die ihr fast bis zu den Knien reichen. Sie meinte, je größer die Schuhe wären, umso mehr Süßigkeiten könne man am nächsten Morgen darin vorfinden. Jonas nickte eifrig, als Carla dies sagte. Er fügte hinzu, es käme aber nicht nur auf die Größe der Schuhe an. Er sagte auch, je neuer die Schuhe wären, desto leckerer wäre der Inhalt, den der Nikolaus da hineinpacken würde. Ich hoffe, die beiden haben unrecht. Denn hätten sie recht, dann hätte ich mit meinen alten Halbschuhen ein schlechtes Los gezogen.

In der Schule war es nicht viel anders. Auch der blonde Simon und die Ute aus Paderborn stimmten mit dem überein, was Jonas zuvor gesagt hatte. Sie hatten ihre größten und neuesten Schuhe herausgepickt. Manche meiner Klassenkameraden kamen sogar auf die Idee, mehr als ein Paar Schuhe vor die Tür stellen zu wollen. Ferdinand aus der Parallelklasse meinte, je mehr Schuhe man einsetze, desto mehr Süßigkeiten könne man ernten. Und wenn er Besitzer von einhundert Paaren Schuhe wäre, dann würde er auch alle einhundert in den Hausflur platzieren. Das hieße investieren, sagte er. Das Wort habe er von seinem großen Bruder aufgeschnappt, der auf eine Wirtschaftsschule geht. Und der müsse es schließlich wissen.

Ich hoffe ernsthaft, dass nichts von dem der Wahrheit entspricht, was Jonas, Carla und Ferdinand mir heute am 5. Dezember, dem Tag vor Nikolaus, sagten. Es bereitet mir ernsthaft Sorgen, zu glauben, dass jene Kinder mit den meisten, größten und schönsten Schuhen mehr bekommen als die anderen. Wo bliebe denn dann ich, Besitzer eines kläglichen Paars alter Latschen vom Discounter? Würde der Nikolaus, verwöhnt von so wunderbarem Schuhwerk wie das von Jonas, Carla und Ferdinand, da überhaupt noch etwas hineintun?

Bevor ich zu Bett gehe, komme ich nicht umher, mich noch einmal vor meiner Eisenbahn zu knien. Ich hebe die Lok an und betrachte die defekte Stromleitung. Ein Ersatzteil käme mir jetzt sehr gelegen. Vater meinte, er könne mir zurzeit keines kaufen. Im Moment fehle uns das Geld dafür. Ich stelle die Lok zurück auf die Schienen. Schade, dass die Bahn nicht mehr funktioniert. Ich habe so gerne mit ihr gespielt.

In der Nacht plagten mich seltsame Träume. Ich träumte, ich hätte mich in einen Schuhladen verirrt. Die Schuhe dort waren von einer Art, wie ich sie bisher noch nicht kannte. Sie hatten kleine Flügel, die in allen Farben schillerten. Manche der Schuhspitzen waren zu lustigen Kringeln geformt, andere hatten fröhliche Gesichter. Plötzlich begannen sie, zu singen und zu tanzen. Sie flogen umher und hüpften um mich herum. Ich rannte mit ihnen mit, durch einen langen Gang, an dessen Wänden weitere einhundert Schuhpaare in Reih und Glied standen. Sie glänzten und sie funkelten, als hätte jemand sie tagelang geputzt. Doch sobald ich nach einem der Schuhe greifen wollte, entglitten sie meinen Fingern und huschten aus den Regalen.

Schlagartig erwache ich aus meinem Traum.

Heute ist Nikolaus.

Erstaunlicherweise geht mein erster Gedanke hin zu den Marzipankartoffeln, die ich so gerne hätte. Dann denke ich an das Ersatzteil für meine Eisenbahn. Ach – wäre es doch schön, beides in meinen Schuhen vorzufinden. Ich traue mich kaum, aufzustehen. Barfuß schleiche ich mich zum Hauseingang. Einen Moment halte ich inne, dann öffne ich die Tür.

Doch es ist, wie Jonas, Carla und Ferdinand gesagt hatten. Eine Mandarine, zwei kleine Täfelchen Milchschokolade, eine in jedem Schuh und eine Handvoll doofer Nüsse. Das ist die klägliche Gabe, die mir der Nikolaus brachte – eben passend zu meinen Schuhen. Bestimmt können sich Jonas, Carla und Ferdinand vor Süßigkeiten kaum retten.

Gerade will ich mich mit dem wenigen abfinden, dass mir gebracht wurde, als ich einen kleinen Zettel bemerke, der an der Sohle des linken Schuhs geheftet wurde. Auf den Zettel hat jemand in blauer Tinte das Wort Balkon geschrieben.

Ich trete hinaus auf den Balkon unserer Wohnung und mein Blick fällt gleich auf die nagelneuen beigefarbenen Boots mit dem weißen Pelzbesatz am Schaft. Ich erinnere mich, es sind jene Winterschuhe, die ich vor zwei Wochen in einem Schuhladen anprobieren durfte und so toll fand. Ich wollte aber nicht, dass Mama sie mir kaufte, weil sie doch so teuer waren und wir kein Geld dafür haben.

Da stehen sie nun, bis zum Rand vollgestopft mit Marzipankartoffeln. Und oben auf den Süßigkeiten liegt ein Ersatzteil, über das sich meine Lok besonders freuen wird.

Christian Gierend, Jahrgang 1965, verheiratet, Vater eines Sohnes, wohnhaft in Hürth bei Köln, von Beruf Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik. Hauptberuflich ist er seit vielen Jahren in einem Konzern für Elektrotechnik tätig. Schon während seiner Schulzeit kam er nicht daran vorbei, seiner schriftstellerischen Fantasie freien Lauf zu lassen. Seitdem verfasst er Kurzgeschichten zu verschiedenen Themen. Wenn er nicht gerade schreibt, treibt er gerne Sport oder geht mit seiner Familie und seinem Hund Kalle spazieren.

 
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