Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 1

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Auch Engel brauchen manchmal Hilfe

Es war einmal ein blondgelockter Rauschgoldengel. Er stand in der Mitte eines festlich geschmückten Tisches und hörte, wie das nette Ehepaar, das ihn auf dem Christkindlesmarkt gekauft hatte, das Weihnachtszimmer mit den Worten abschloss: „Schön, dass Jan noch an das Christkind und die Engelchen glaubt. Wenn er nächstes Jahr in die Schule kommt, ist dieser Zauber sicher schnell vorbei.“

Obwohl es im Zimmer dunkel war, spendeten die Flügel des Rauschgoldengels so viel schimmerndes Licht, dass er sich gut umsehen konnte. Unter dem festlich geschmückten Tannenbaum schlängelte sich eine Holzeisenbahn. Weitere Päckchen lagen in buntes Papier gehüllt zwischen den Gleisen. Mit einem verzückten Schrei sprang er vom Tisch auf den Boden. Fliegen wie die anderen Weihnachtsengel konnte er nicht, dazu waren seine Rauschgoldflügel viel zu groß und zu schwer. Er inspizierte die Lokomotive, die Güterwagons, den Miniaturbahnhof, den klitzekleinen Bahnhofsvorsteher und die Reisenden mit ihren Koffern, die kaum größer als ein Daumennagel waren. Liebend gern hätte er auch gewusst, was in den Päckchen versteckt war, doch er war ein wohlerzogener Engel: „Die Bescherung ist ja schon morgen“, bremste er seine Neugier. „Solange muss ich wohl noch warten. Aber Hunger und Durst hab ich heute schon. Vielleicht haben die Erwachsenen mir etwas Gutes übrig gelassen.“

An einem Tischbein zog er sich wieder nach oben. „Mmhm! Plätzchen, Lebkuchen! Sogar gebrannte Mandeln sind da!“ Er naschte von allem und wurde noch durstiger. So nippte er an einem roten Saft aus Bechern, die mit Bildern des Christkindlesmarktes verziert waren. „Lecker, lecker, muss ich sagen. Hier bleibe ich!“

Der kleine Engel war viel zu jung und unerfahren, um zu wissen, warum er sich plötzlich so unternehmungslustig fühlte. Obwohl die Eltern nicht mehr viel Glühwein übrig gelassen hatten, genügte es, dem kleinen Engel den ersten kleinen Schwips seines Lebens zu bescheren. Er sprang wieder vom Tisch herab, öffnete nun doch die Päckchen, guckte hinein und verschloss sie mehr schlecht als recht.

„Egal, ist ja nur bis morgen!“, entschuldigte er sich und musste einen Schluckauf niederkämpfen. Übermütig sprang er durchs Zimmer.

Klirr, klirr! Zwei Christbaumkugeln zerbrachen auf dem Parkettboden in viele glitzernde Stücke. Seine großen Flügel hatten sie vom Baum gerissen. Erschrocken hielt er inne. „Wenn rauskommt, was ich gemacht habe“, überlegte er laut, „werde ich zurück in die Schachtel verbannt und darf am Weihnachtsfest nicht teilhaben. Die Scherben müssen weg!“ Mit der breiten Seite seines rechten Flügels schob er die Scherben zusammen und knotete sie in seinen wallenden Rock. Dann kletterte er auf das Fenstersims und zog sich bis zum Fenstergriff hoch. Als er am offenen Fenster hing und die Scherben in den Garten werfen wollte, kam eine Windböe. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste tief.

„Aua, Hilfe!“, rief der Engel. „Aua, hört mich jemand?“

Wer sollte zu nachtschlafender Zeit sein zartes Stimmchen hören? „Ich will nicht in der Kälte sterben! Ich habe mich doch so auf das Weihnachtsfest gefreut!“, jammerte der kleine Engel, und dicke Tränen kullerten über seine Wangen. Er bibberte in seinem roten Kleid, durch das der Wind hindurch pfiff.

Plötzlich stand ein kleiner Junge im Schlafanzug vor ihm und rieb sich die verschlafenen Augen. „Wer bist denn du? Was machst du hier draußen? Und warum schreist du so?“

Der Rauschgoldengel drehte sich zu dem Jungen um. „Aua!“, rief er wieder. „Ich glaube, ich habe mir den Flügel gebrochen.“

Der Junge rieb sich nochmals die Augen. „Kommst du aus unserem Wohnzimmer?“, fragte er, als er das offene Fenster sah.

„Ja, ich bin ganz neu bei euch. Wer bist du und wie heißt die Lokomotive auf deinem Schlafanzug?“

„Wir heißen Jan und Thomas. Ich bin schon fünf Jahre alt.“ Dabei hielt er dem Engel seine linke Hand mit allen ausgestreckten Fingern vor die Nase. „Zeig mir mal, wo du verletzt bist.“

Der Engelsflügel hing nur noch an einem kleinen losen Ende am Körper und war eingerissen und geknickt.

„Weißt du, ich glaube, wir müssen ammutieren“, stellte Jan überzeugend fest.

„Was?“, schrie der Engel auf, denn das Wort klang gar nicht gut. „Was müssen wir?“

„Ammutieren. Das sagen die Ärzte im Fernsehen immer, wenn sie ein Bein oder einen Arm abschneiden.“

Vor Schreck fiel der Engel in Ohnmacht. Jan führte seine erste Amputation erfolgreich durch, obwohl er das Wort noch nicht einmal richtig aussprechen konnte. Dann hob er seinen nun einflügeligen Patienten auf, kletterte von außen über das Fensterbrett in das Wohnzimmer und stellte ihn auf den Tisch. Er stieß einen kleinen Schrei aus, als er die Eisenbahn sah, kniff aber die Augen gleich wieder zu:

„Nein, ich habe nichts gesehen!“, verteidigte er sich, kletterte auf dem gleichen Weg wieder zurück in den Garten und tapste mit kalten Füßen in sein kuscheliges Bett.

Er schlief lange am nächsten Morgen und bekam nicht mit, wie die Eltern sich gegenseitig Vorwürfe machten, am Vorabend das Fenster nicht richtig geschlossen zu haben. „Wir werden an Weihnachten sicher nicht streiten!“, beschlossen sie dann aber einmütig.

Als es draußen dämmerig wurde, öffneten sie die Wohnzimmertür und freuten sich mit Jan an dem glänzenden Weihnachtsbaum und dem heimeligen Geruch der brennenden Kerzen.

„Fröhliche Weihnachten!“, wünschten sie sich gegenseitig, umarmten sich und stimmten „Stille Nacht, Heilige Nacht“ an.

Jan musste immerzu auf die schöne Eisenbahn starren und bewegte nur stumm die Lippen. Stattdessen krächzte der wieder zum Leben erwachte, schwer erkältete Rauschgoldengel kräftig mit.

„Na, du klingst ja gar nicht gut“, sagte die Mutter besorgt zu Jan.

Der Engel zwinkerte Jan zu und legte seinen Finger an die Lippen.

„Ach ja“, antwortete Jan und hüstelte ein paar Mal, „kann schon sein.“

„Ich hole gleich die Medizin“, sagte seine Mutter und eilte in die Küche.

Der Vater war in einen dicken Bildband vertieft, sodass Jan dem Engel zuraunen konnte: „Ich singe nie! Singen ist total doof! Aber wegen dir muss ich jetzt die bitteren Tropfen schlucken.“

In den folgenden Jahren zeigte der Rauschgoldengel Jan seine Freundschaft, indem er mit schönster Stimme bei den Weihnachtsliedern mitsang und Jan nur so tun musste, als ob er sang. Das nächtliche Abenteuer blieb tatsächlich ihrer beider Geheimnis.

Viele Jahre später, als Jan gerade seinen Umzug vom Elternhaus in eine eigene Wohnung vorbereitete, hörte er ein zartes Stimmchen rufen: „Hilfe! Nein! Schnell! Zu Hilfe!“ Jan erkannte die Stimme sofort wieder. Er eilte ins Wohnzimmer. Dort sortierte seine Verlobte die Habseligkeiten, die sie in die neue Wohnung mitnehmen wollten, von den Sachen, die zurückblieben.

„Der ist doch schon so alt und schäbig, der muss weg!“, sagte sie, als Jan den Engel wieder aus dem Mülleimer zog.

„Du armer Kleiner, jetzt ist auch noch dein zweiter Flügel kaputt. Tut’s sehr weh?“

„Mit wem redest du da? Du bist überanstrengt. Aber bald haben wir den Umzug überstanden!“, meinte seine Verlobte.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich diesen Engel mitnehmen werde. Mit oder ohne Flügel. Wir sind alte Freunde.“

Kopfschüttelnd willigte sie ein. Dann aber stahl sich ein schelmisches Lächeln auf ihr Gesicht und sie nahm Jans Hand: „Wie wäre es, wenn wir beide dem Engel neue Flügel basteln würden? Dann könnten wir unseren Kindern später einmal ein echtes Familienerbstück zeigen.“

Jan nickte und zwinkerte dem Engel zu: „Dann erzähle ich ihnen eine abenteuerliche Gutenachtgeschichte: Es war einmal ein blondgelockter Rauschgoldengel …“

Claudia Kejwal lebt mit ihrem Mann am Bodensee. Sie studierte in Regensburg und Konstanz Germanistik und Romanistik.

*

Elsas Traum vom Weihnachtsbaum

Endlich war es wieder so weit! Elsa, die kleine Elster, krächzte erfreut und breitete ihre Flügel aus. Im Eiltempo flog sie im Schneesturm durch die Stadt, zischte durch die Gassen, wich Laternenpfosten aus und tauchte geschickt unter Lichterketten durch. Dann endlich sah die Elster in der Ferne die Lichter des Weihnachtsmarktes. Elsas Herz schlug schneller. Sie bog um die letzte Kurve und da war er! Der große Weihnachtsbaum!

Prächtig geschmückt stand er inmitten des Weihnachtsmarktes. Elsa landete gekonnt auf einem der geschmückten Zweige und strich bewundernd mit den Flügeln über die glänzenden Kugeln. Es war einfach herrlich, von so vielen funkelnden Dingen umgeben zu sein! Die Elster liebte nämlich alles, was glänzte. In ihrem Nest lagen schon zahlreiche kaputte Schmuckspangen, Kaugummipapiere, Silberfolien und zerbrochene Ketten. „Hier sieht es aus wie auf einer Müllkippe“, hatte Jakob, der Rabe, neulich gesagt. Doch das hatte Elsa nicht gestört. Sollte ihr Freund ruhig schimpfen – Elsa mochte ihre Schätze. Und Elsa mochte den Weihnachtsbaum, der jedes Jahr am ersten Advent vor dem Rathaus aufgestellt wurde.

Auch in diesem Jahr saß sie wieder glücklich in seinen Zweigen. Den Schneesturm, der um sie herumtobte, bemerkte Elsa nicht, so verzückt war sie von den bunten Kugeln und den glänzenden Lichtern. Erst als es dunkel wurde, flog die Elster wieder in ihr Nest zurück.

Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm gelegt. Die Sonne strahlte von einem blauen Himmel. Bestimmt würden die bunten Kugeln bei Sonnenschein besonders schön glänzen! Elsa gluckste erfreut und machte sich auf den Weg zum Weihnachtsmarkt. Doch als sie beim Rathausplatz ankam, war ihre gute Laune auf einen Schlag dahin. Wo gestern noch der herrliche Baum gestanden hatte, war nun ein Durcheinander aus Ästen, Scherben und Splittern. Entsetzt landete die Elster auf einer Straßenlampe.

 

„Letzte Nacht hat der Sturm die Tanne umgepustet“, rief ein Spatz vom Dach herunter.

„Was für ein Schreck – der Baum ist weg“, fügte ein anderer hinzu und brachte damit die ganze Spatzenschar zum Lachen.

Elsa dagegen war das Lachen gehörig vergangen. Das ganze Jahr über hatte sie sich auf die Zeit im Weihnachtsbaum gefreut und nun lag dieser auf dem Boden, umgeben von zerbrochenen Kugeln! Die kleine Elster schluckte schwer.

„Den Baum könnten wir wieder aufrichten, aber der Weihnachtsschmuck ist kaputt“, sagte in diesem Moment eine Stimme unter der Straßenlaterne.

Elsa äugte hinunter und sah einen Feuerwehrmann und einige Polizisten.

„Ohne Schmuck ist es kein Weihnachtsbaum. Außerdem sind einige Zweige abgebrochen. Er sieht nicht mehr schön aus“, sagte ein Polizist.

„Liegen bleiben kann der Baum so jedenfalls nicht. Er behindert den Verkehr“, stellte ein weiterer Polizist fest.

„Dann rollen wir ihn erst einmal zur Seite und räumen die Scherben weg. Morgen soll ihn ein Lastwagen wegfahren“, beschloss der Feuerwehrmann. Die anderen Männer nickten.

„Aus der Traum vom Weihnachtsbaum“, grölten die Spatzen auf den Dächern. Das war zu viel für Elsa! Mit Tränen in den Augen flog sie nach Hause. Dort schaute Jakob, der Rabe, erstaunt auf. „Du bist schon wieder da?“, fragte er. Elsa nickte traurig und erzählte ihrem Freund die traurige Geschichte vom umgefallenen Baum.

„So ein Jammer“, seufzte Jakob, als Elsa geendet hatte. Dann saßen die zwei Freunde lange Zeit schweigend nebeneinander. Erst als es dunkel wurde, straffte Elsa die Flügel.

„Ich werde jetzt meine Schätze sortieren. Es sind mittlerweile so viele, dass ich kaum noch in meinem Nest sitzen kann“, sagte sie.

„Deine Schätze gehen wenigstens nicht kaputt, wie die doofen Baumkugeln“, antwortete Jakob.

„Genau ... und ...“ Elsa erstarrte. Dann riss sie den Schnabel auf und krächzte so laut, dass Jakob vor Schreck beinahe vom Ast fiel.

„Was hast du denn?“, fuhr er seine Freundin an.

„Ich habe eine Idee, wie wir den Weihnachtsbaum retten können“, gab Elsa geheimnisvoll zurück.

Zusammen mit Jakob flog sie in ihr Nest, das bis zum Rand mit den gesammelten Schätzen gefüllt war.

„So, und das alles bringen wir nun zum Weihnachtsbaum“, sagte Elsa und begann mit ihrem Schnabel Silberketten aufzupicken. Jakob verstand zwar immer noch nicht, was dies alles für einen Sinn hatte, aber weil seine Freundin endlich wieder glücklich aussah, half er ihr. Schwer beladen mit Silberpapier, Ketten, verbogenen Löffeln und allerlei anderem funkelndem Kram landeten die zwei Vögel schließlich auf dem Weihnachtsmarkt. Weil es mittlerweile später Abend geworden war, waren sämtliche Buden geschlossen und der Markt menschenleer. Lediglich der Weihnachtsbaum lag einsam und verlassen vor dem Rathaus.

„Und nun wollen wir ihn schmücken“, krächzte Elsa und begann eifrig damit, Silberpapier und Ketten in den Ästen zu verteilen.

„Du kannst doch keinen Baum schmücken, der auf dem Boden liegt“, sagte Jakob kopfschüttelnd.

„Mir ist es egal, ob der Baum liegt oder steht. Er ist trotzdem ein Weihnachtsbaum“, gab Elsa entschieden zurück und wickelte einen Streifen Silberfolie mit dem Schnabel geschickt um einen Zweig.

Die zwei Vögel zerrten und pickten, hackten und zogen an den Zweigen. Zweimal flogen sie den langen Weg zu Elsas Nest zurück, um neue Schätze zu holen und diese dann über dem Weihnachtsbaum zu verteilen. Erst gegen Mitternacht waren sie mit dem Ergebnis zufrieden.

Am nächsten Morgen wurde Elsa von dicken Schneeflocken geweckt. Sie schüttelte ihre Federn, dass der Schnee nur so nach allen Seiten stob, und flog dann zu Jakobs Nest, um ihren Freund aufzuwecken. In halsbrecherischem Tempo flogen die zwei Freunde kurze Zeit später durch die Gassen und kamen schließlich auf dem Weihnachtsmarkt an. In der Ecke, wo der Weihnachtsbaum lag, herrschte schon reges Gedränge.

„Jakob, schau mal hier sind ja viele Kinder. Was haben sie denn in den Händen?“ Neugierig landete Elsa auf einer Straßenlampe.

„Das ist selbst gebastelter Weihnachtsschmuck. Die Kinder schmücken den Baum“, antwortete ihr Freund.

„Oh ...“ Verzückt beobachtete Elsa, wie unzählige Strohsterne und Hagebuttenzweige, Tannenzapfenmännchen und Wachsengel in die Zweige des Baumes gesteckt wurden. Die Kinder arbeiteten mit Feuereifer, und als der Lastwagen gegen Mittag kam, um den Baum abzuholen, funkelte er so prächtig wie nie zuvor.

„Nanu? Was ist denn hier passiert?“ Der Fahrer des Lastwagens rieb sich die Augen und sah verdutzt auf den geschmückten Baum.

„Über Nacht hat jemand Silberschmuck in den Zweigen verteilt und heute Morgen sind die Kinder auf die Idee gekommen, ihn weiterzuschmücken“, stellte ein Polizist fest.

„Einen so schönen Baum werde ich doch nicht wegschleppen“, sagte der Lastwagenfahrer und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Da hat er recht“, schaltete sich ein Feuerwehrmann ein und schlug dann vor: „Wo wir jetzt schon alle da sind, da können wir den Tannenbaum auch gleich wieder aufstellen.“

So geschah es. Die Tanne wurde an ihren ursprünglichen Platz gestellt und stand dort stolz und prächtig.

„So einen schönen Weihnachtsbaum hatten wir noch nie“, rief ein kleines Mädchen und klatschte entzückt in die Hände.

Auch die anderen Besucher des Weihnachtsmarktes waren zufrieden mit dem neuen, alten Weihnachtsbaum.

Am glücklichsten jedoch war Elsa. Sie schwang sich in die Lüfte, um gleich darauf inmitten der Zweige des Weihnachtsbaums zu landen. Und dort saß sie dann, umringt von alten Löffeln, Silberpapier und selbst gebastelten Sternen und konnte sich keinen schöneren Platz auf der ganzen Welt denken.

Manuela Feiler, Jahrgang 1977, lebt mit Mann und Kind im Schwarzwald. Die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin arbeitet heute als Büroangestellte in einem Redaktionsbüro und hat bereits mehrere Weihnachtsgeschichten veröffentlicht.

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Kinderkram

Jetzt leuchten sie wieder, die Sterne und Weihnachtsmänner, die sie über die Straße gespannt haben. Was geht’s mich an. Ich werfe einen knappen Blick nach oben, schwinge meine Sporttasche über die Schulter und mache mich auf den Weg zum Training, wie jeden Mittwoch. Ärgere mich nur, dass ich Mütze und Schal tragen muss. Bis zur nächsten Ecke. Dann reiße ich das Zeug herunter. Der Winter ist zu lang, als dass ich das Gewurgel um den Hals ertragen könnte.

Blöd ist, dass wir das Konditionstraining draußen machen. Die kalte Luft brennt in der Lunge. Wenn der Hals kratzt, dann ist jedenfalls das Training schuld. Nicht der Schal. Der fehlende Schal, meine ich. Und dass Schokolade mit rauem Hals nur halb so gut schmeckt, weiß jedes Kind. Ist doch gerade die Zeit für Schokolade. Schokolade und Plätzchenbacken. Haben wir früher auch gemacht. Jetzt habe ich keine Zeit mehr, nachmittags Teig zu stechen. Oder keine Lust. Nenn’ es, wie du willst. Jedenfalls ist Weihnachten was für kleine Kinder, so ist das. Glänzende Augen und Weihnachtsmänner mit Wattebart. Ich glaube daran schon lange nicht mehr. Ich KANN nicht mehr daran glauben, was die Sache irgendwie auch traurig macht.

Mir läuft bereits der Schweiß, da sehe ich plötzlich ein kleines Kind neben der Finnbahn hocken. Es ist schon dunkel. Was macht ein kleines Kind um diese Zeit auf dem Sportplatz? Es kickt einen roten Gummiball, nicht ungeschickt, hin und zurück.

„He“, rufe ich, „Kleines. So spät noch unterwegs?“ Aber es hört nicht. Es ist zu konzentriert und mich ruft mein Trainer: „He, schon müde?“

Müde bin ich allerdings, als ich nach Hause komme. Gerade rechtzeitig zum Weihnachtsbaumschmücken, wie Mama freudig bemerkt. Ja, ich hänge sie noch mit auf, die Rausche-Engel und Strohsterne. Das silberne Lametta. Aber es pikt mich an den Händen, und irgendwann wär’s mir lieber, den Film im Ersten zu schauen. Ich mag es Mama und Papa aber nicht sagen. Sie haben glänzende Augen und denken, ich freu’ mich ebenso. Ja, doch.

„Muss mal kurz aufs Zimmer“, sage ich, als wir bei den Kugeln angelangt sind, und mache auf halbem Weg im Schlafzimmer halt, wo ein zweiter Fernsehapparat steht. Nur kurz hineinlinsen, wie er anfängt, der Film im Ersten.

Ich springe mit gekonntem Schwung auf das breite Bett mitten auf die große Decke. Und spüre zu meiner Überraschung ein kleines Knäuel unter mir. Wir haben keine Katze. Also schaue ich vorsichtshalber nach, was sich dort versteckt haben könnte unter der blauen Decke mit lila Blumen darauf. Das kleine Kind vom Sportplatz. Aha. Aha?

„Sag mal!“, frage ich. „Hast du kein Zuhause?“

Das kleine Kind nimmt keine Notiz von mir. Es hat nicht einmal bemerkt, dass ich auf es draufgehüpft bin. Wohlig eingekuschelt liegt es unter der Decke mit den Blumen und atmet Mamas Geruch, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt.

„He, spinnst du? Raus mit dir!“

Aber es denkt nicht daran. Es schlummert bereits. So einen Schlaf möchte ich haben. Das Kind drücken offenbar keine Träume über verpatzte Klassenarbeiten. Auch gut. Dann gehe ich halt ins Wohnzimmer zurück. Und tschüss.

Sie sind fertig mit dem Schmücken.

„Schön, oder?“, sagt Papa. Das sagt er jedes Jahr, nachdem er fluchend den obersten Stern an die Tanne gefrickelt hat. Ich nicke pflichtbewusst. Zur Feier des Vorabends zünden sie eine Kerze an und spielen das Weihnachtsoratorium von Bach. Diese Musik habe ich immer sehr gemocht, aber jetzt, ich kann nicht anders, denke ich eben doch an den Film im Ersten, und daran, dass er hoffentlich wiederholt wird.

Am nächsten Tag ist es soweit: Warten aufs Christkind. Was geht’s mich an. Als Oma und Opa zur Kaffeezeit und in bestem Zwirn an der Tür erscheinen, wünschte ich, ich wäre aufgeregter. Zumindest wie vor einem guten Spiel. Neben mir auf dem Stuhl sitzt – das kleine Kind! Ich glaub’s nicht. Quartiert sich bei uns ein und denkt, es könne Weihnachten mit uns feiern.

„Und?“, frage ich. „Zufrieden?“

Aber ich muss nicht fragen, ich sehe es ja: Die glänzenden Augen, das Staunen und die Aufregung darüber, dass nachher ein Weihnachtsmann durch den nicht vorhandenen Kamin rutschen wird. Es ist so aufgeregt, dass es seinen Saft verschüttet. Und das dritte Nussplätzchen hat es auch bereits verdrückt. Das ist wahre Freude. Und: Ja, ich beneide es.

Das Kind bleibt für den Rest des Tages. Isst unseren Weihnachtsstollen und latscht Hand in Hand mit Oma den Weg zur Kirche. Dort sitzt es und singt voller Inbrunst die Lieder, die ich fast verlernt habe. Ich kann meinen Blick nicht von ihm lassen.

Aber dann, als wir wieder Zuhause sind, weiß ich nicht mehr, ob es noch da ist oder gegangen. Wohin auch immer. Ich vergesse darauf zu achten. Vergesse es!

Papa zündet die Kerzen am Baum an, und ich betrete das Zimmer. Mein Kopf wird warm, meine Augen – keine Ahnung, wie die aussehen. Egal. Jedenfalls staune ich, wie schön unser Baum ist. Ich reiße das erste Geschenk auf, das zweite, und dann noch ein drittes. Es ist ein roter Gummiball.

Später kuschele ich mich im Schlafzimmer unter die blaue Decke mit den lila Blumen und rieche Mamas Geruch. Ich bin müde. Erhitzt, erschöpft. Wie nach einem guten Spiel. Oder vielleicht besser. Was ist schlecht am Plätzchenbacken, denke ich, dann schlafe ich ein und träume vom Weihnachtsmann, der mit meinem roten Gummiball kickt. Er schießt nicht übel.

Corinna Antelmann, 1969 in Bremen geboren, lebt heute in Linz in Österreich. Seit ihrem künstlerischen Studium – Film, Theater, Literatur, Musik – ist sie vorwiegend als Kino-Drehbuchautorin und Dozentin tätig. Daneben hat sie für verschiedene Produktionsfirmen gearbeitet, aber auch als Dramaturgin für Theaterprojekte. Kurzgeschichten sind in Anthologien erschienen.

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