Buch lesen: «Skelett des Grauens»

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Martin Willi

SKELETT DES GRAUENS

Kommissarin Petra Neuhaus zweiter Fall


Impressum

© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

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Umschlag und Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: shutterstock.com / Raggedstone
Lektorat Manu Gehriger
Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm
Verwendete Schriften: Adobe Garamond Pro, Artegra Sans, Blood Lust
Papier: Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei; Inhalt, 90g/m2, Werkdruck bläulichweiss, 1,75-fach, holzfrei

ISBN 978-3-907146-96-5

eISBN 978-3-907301-21-0

Printed in Germany

www.muensterverlag.ch

Für alle bemitleidenswerten Opfer dieser Welt, mögen sie den Mut finden, sich zu wehren!

Die Opfer sollen erhört werden!

Eine Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen

Personen ist rein zufällig und frei erfunden.

Inhalt

Prolog

1) Montag, September, erste Woche

2) Mittwoch

3) Donnerstag

4)

5) Freitag

6) Montag, zweite Woche

7) Dienstag

8) Mittwoch

9)

10) Donnerstag

11) Freitag

12) Montag, dritte Woche

13) Dienstag

14) Mittwoch

15)

16) Donnerstag

17) Freitag

18) Montag, vierte Woche

19) Dienstag

20) Mittwoch, fünfte Woche

21) Donnerstag

22) Donnerstag, vor einer Woche

23) Freitag, sechste Woche

Epilog 1

Epilog 2

Dankeschön

Über den Autor

Prolog

Mit langsamen und schweren Schritten kämpfte sich der junge Mann durch den schmalen Pfad, dicht reihte sich Baum an Baum entlang des engen Weges, der nie zu enden schien. Bei jedem Schritt kam es ihm vor, als würde schweres Blei an seinen Füssen kleben, die er nur schleppend vorwärtsbewegen konnte. Die Kapuze seines grauen Pullovers hatte er tief über die Stirn gezogen. So weit, dass sie ihm während des Gehens beinahe die Sicht verdeckte. Das war auch gut so, er wollte die Welt nicht sehen, jetzt nicht, vielleicht sogar nie mehr. An der Axt in seiner rechten Hand klebte Blut, das fortwährend zu Boden tropfte. Er hatte es vollbracht, endlich, die Bestie war tot. Der Teufel in Menschengestalt hatte die Welt verlassen, für immer und ewig. Aber bin ich jetzt selbst eine Bestie, selbst ein Teufel? Doch augenblicklich warf er den Gedanken hinweg, dieser Bastard hatte es verdient tot zu sein. Dieser verdammte, dieser verfluchte, dieser elende Hurensohn!

Noch immer hörte er die flehenden, die angsterfüllten Schreie seines Opfers. Laut und markerschütternd hallten sie hinaus in die weite, schier unendliche Welt. Hoffentlich hat niemand etwas davon mitbekommen. Sein Herz pochte so laut und vehement, es war ihm, als müsste es wohl kilometerweit zu hören sein. Als er seine grosse Axt endlich zum alles vernichtenden Schlag anhob, überkam es ihn, als würden Himmel und Hölle gleichzeitig über ihm hereinbrechen. In seinen Ohren vernahm er stetig das Rollen des Schädels über die Dachziegel, bis der blutende Kopf ins Regenfass knallte und das Wasser sich rot verfärbte.

Schwer atmend und erschöpft blieb er stehen, streifte seine Kapuze in den Nacken, blickte zum abendlichen Himmel empor, der ihm ein wunderbares Abendrot präsentierte. Beinahe so rot wie das Blut an meiner Axt. Und jetzt? Wird nun endlich Ruhe sein, können die Opfer aufatmen? Was ist, wenn ich mich geirrt habe und er doch nicht… Schnell verwarf er den wirren Gedanken, der in ihm aufkam. Es gab für ihn keinen Zweifel, er hatte richtig gehandelt.

Der Bastard war tot!

1) Montag, September, erste Woche

Wohltuend räkelte sich Petra Neuhaus unter ihrer tiefgrünen Bettdecke und öffnete ihre graublauen Augen, mit denen sie zunächst zwinkernd die Welt erblickte. Ach nein, ist es schon so hell? Muss das denn wirklich sein? Wieso vergehen die freien Stunden immer in Windeseile und warum wollen die langen Arbeitstage oft nicht zum Ende kommen? Schon wieder eine neue Woche, was wird sie mir wohl bringen? Als Kriminalkommissarin musste sie täglich, stündlich, sogar jede Sekunde mit neuen Herausforderungen rechnen. Einen Arbeitstag zu planen war für sie schwierig, denn jederzeit konnte etwas geschehen, das alles was sie sich vorgenommen hatte, über den Haufen warf. Mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand, dessen Fingernagel purpurrot lackiert war, rieb sie ihr rechtes Auge, das wie beinahe jeden Morgen etwas verklebt war. Warum dies so war, wusste sie nicht, sie konnte es sich nicht erklären. Vielleicht weil ich meistens auf der rechten Seite liege, aber auf der linken Seite kann ich nicht schlafen, da stört mich mein Herzschlag, hat sie sich mal feststellend gedacht. Irgendwann hatte sie in einer Fachzeitschrift in einem ärztlichen Wartezimmer gelesen, dass dies davon kommen könnte, dass das Auge in der Nacht nicht ganz geschlossen sei. Blödsinn, das würde ich ja bemerken, wenn mein Auge nicht zu ist, dann ist es doch hell. Immer diese wissenschaftlichen, nicht nachvollziehbaren Erklärungen. Zurzeit war es ihr vollkommen egal. Es gibt Momente, wo sie sich daran störte oder darüber sogar ärgerte. Doch nach einem solch tollen Wochenende, nach Stunden voller Leidenschaft, Hingabe und hemmungsloser Erotik, hatte ihr nicht ganz lupenreines Auge nur wenig Bedeutung, es verkam zu einer winzig kleinen Lappalie im grossen Universum des Lebens. Ihre linke Hand griff unter die Bettdecke neben ihr. Doch sie konnte zu ihrer Verwunderung und besonders zu ihrer Enttäuschung nichts ertasten, die linke Seite des Bettes war bereits verlassen und kalt. «Ulrich? Wo bist du? Hallo?»

Sie richtete sich auf, setzte sich auf die Bettkante, versuchte ihre angespannten Nackenmuskeln zu lockern und schaute sich in ihrem Schlafzimmer um. Ihre Augen erblickten da so einiges: High-Heels, Weinflasche, Gläser, Netzstrümpfe, Krawatte, Männerhemd… Oh Mann, hier hat wohl eine Bombe eingeschlagen.

«Eine Bombe Namens Ulrich.» In diesem Augenblick betrat Ulrich das Schlafzimmer bereits angezogen, leider bereits angezogen, wie Petra sich in sehnlicher Erinnerung dachte.

«Kannst du Gedanken lesen?» Petra stand auf, umarmte und küsste ihn auf die Wange. Sie wusste, dass er es nicht gerne hatte, wenn sie ihn am Morgen auf den Mund küsste, bevor sie ihre Zähne geputzt hatte. Und sie hielt sich daran, sie wollte ihn nicht verärgern und vor allem wollte sie ihn nicht wieder verlieren. Sie waren schon mal ganze acht Jahre lang getrennt, seit sie wieder zusammen waren, so fühlte sie sich glücklich. Wenn es sowas wie Glück überhaupt gibt, auf alle Fälle war sie zufrieden mit sich und der Welt. Das ist mehr als viele andere Menschen haben.

«Du bist sowas von heikel», sagte Petra unlängst zu Ulrich, als dieser wieder mal ihren Morgenkuss abwehrte. «Heikel, und manchmal leider etwas zu perfekt.»

Ulrich löste sich schnell aus der Umarmung und meinte betreffend der Bombe: «Gedanken lesen kann ich noch nicht, aber ich habe doch deinen Blick gesehen. Deine Augen sagen oft mehr als tausend Worte. Aber jetzt muss ich leider los mein Schatz.»

«Trinken wir nicht noch einen Kaffee zusammen?», erwiderte Petra sichtlich enttäuscht. Sie wollte nicht so abrupt in den tristen Alltag starten, dazu hatte sie nicht mal ein halbes Prozent Lust. Und wer räumt hier auf?, dachte sie als sie umherblickte, natürlich wieder mal ich. Aber eigentlich ist es auch okay so, immerhin ist es ja meine Wohnung.

Doch Ulrich hatte seinen Morgenkaffee bereits getrunken und war schon auf dem Sprung: «Die Pflicht des Lebens ruft. Und du solltest dich auch beeilen.»

«Wieso, gibt’s irgendwo einen Toten oder sonst ein schlimmes Verbrechen, das darauf wartet von mir aufgedeckt zu werden?» Sie trat zum Fenster, das sie weit öffnete und mit einem tiefen Atemzug schaute sie hinaus in den Morgenhimmel, der sich ihr bedeckt und grau präsentierte. Es schien ihr, als stünden die dunklen Wolken am Himmel kurz davor, sich zu entladen und die Erde mit einem starken Regenschauer zu erfrischen. Was eigentlich auch gut ist, wie sie zu sich selbst meinte, hatte es doch schon seit Wochen nicht mehr so richtig geregnet. Tja, die Klimaerwärmung. Die ist ja in aller Munde und längst zur Tatsache geworden. Auch wenn es Politiker wie Donald Trump immer noch nicht wahrhaben wollen. Vielleicht wird Europa ja irgendwann zu einer Wüste, aber das erleben Ulrich und ich nicht mehr. Sie legte ihre rechte Hand auf ihre Stirn und ihr Blick schweifte in die Ferne «Kein Verbrechen in Sicht, Ulrich, ich kann nichts entdecken. So sehr ich mich anstrenge, nichts zu sehen.»

Ulrich, der eigentlich schon gehen wollte, trat plötzlich von hinten an sie heran und seine Hände streichelten zunächst ihren straffen Po, der ihn oft beinahe zum Wahnsinn trieb, und dann ihre Brüste. Er dachte zurück an den gestrigen Abend, an die vergangene Nacht, und seine Lüsternheit stieg in ihm auf. Seine kräftigen, aber dennoch zarten und weichen Hände glitten unter Petras türkisfarbenes T-Shirt und zärtlich umkreiste er ihre Busen, was ihre Brustwarzen in Erregung versetzte. «Wir könnten auch sofort wieder ins Bett», hörte er Petra zärtlich flüstern, da sie seine Erregung nur zu deutlich spüren konnte.

Schon wollte Ulrich seiner Geliebten nachgeben, doch in diesem Moment klingelte das Mobiltelefon von Petra, was so früh am Morgen in der Regel nichts Gutes verhiess. «Immer im dümmsten Moment, irgendwann bring ich das Ding noch um», ärgerte sie sich, schaute auf das Display und nahm widerwillig den Anruf entgegen. «Erwin, guten Morgen, was gibt’s denn? Ich hoffe, du hast einen guten Grund mich so früh anzurufen.»

«Guten Morgen Petra, hast du schon gefrühstückt?» Erwin Leubin, der langjährige Arbeitskollege von Petra, sprach langsam und auch etwas bedrückt. Als Ermittlerduo Neuhaus/Leubin hatten sie schon viele mysteriöse Kriminalfälle aufgedeckt und Erwin wusste, der nächste Fall ist bereits da.

«Nein.»

«Dann nimm noch was Kräftiges zu dir. Wir haben einen Toten, das heisst einige Teile davon.»

Nachdem Erwin ihr erklärt hatte, wo sie sich treffen würden, legte Petra ihr Mobiltelefon wortlos auf das Sideboard, das sich im Wohnzimmer neben dem Fenster befand. Super, die Woche fängt ja schon mal gut an. Sie blickte in Ulrichs braune schmale Augen: «Sorry, ich muss los!»

«Tja, also doch, ich habe es dir ja gesagt, die Pflicht des Lebens ruft auch nach dir.»

Um 5:30 Uhr in der Früh klingelte bei Ibrahim Mansour der Wecker, es war ein ganz gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand, den er sich vor ein paar Jahren in einem Discountladen für weniger als 20 Franken erworben hatte. Er legte keinen Wert auf Luxusartikel, lieber versuchte er sich einen Sparbatzen anzulegen. Der knapp dreissigjährige Bauarbeiter stand innert Sekunden auf, er musste pünktlich zur Arbeit erscheinen. Aber das war für den kräftigen braungebrannten Ibrahim, dessen Grossvater im Jahre 1947 als Flüchtling zunächst nach Deutschland und dann drei Jahre später in die Schweiz kam, kein Problem. «Pünktlichkeit, das ist fünf Minuten vor dem Termin zu erscheinen», sagte ihm einst einer seiner Lehrer, ein gewisser Samuel Wassmer, der aus dem bernischen Emmental stammte. Ibrahim hatte Lehrer Wassmer nicht nur der Pünktlichkeit wegen in guter Erinnerung behalten. Zurückblickend auf seine Schulzeit dachte er oft, dass er von all seinen Lehrkräften am meisten von Samuel Wassmer gelernt und profitiert hatte.

Trotz seiner arabischen Wurzeln fühlte sich Ibrahim durch und durch als Schweizer, nicht als Eidgenosse. Nein, das denn doch nicht, denn Eidgenossen, das waren für ihn die Männer im Mittelalter, die als Söldner mit Morgensternen, Hellebarden und Schwerter in die fernen Länder reisten und für fremde Herrscher in den Krieg zogen. Ein für ihn mehr als sinnloses Unterfangen, wieso soll man sein Leben für ein fremdes Land riskieren? Das konnte er sich beim besten Willen nicht erklären, das war für ihn schlicht eine Nummer zu hoch. Er konnte auch nicht verstehen, weshalb sich Europäer und darunter auch Schweizer immer wieder der salafistischen Miliz IS anschlossen. Ibrahim huschte kurz unter die Dusche und trank dann eine Tasse Chai, einen Tee mit sehr viel Zucker und den Gewürzen Kardamom, Zimt und Nelken. Dazu ass er ein Stück Sauerteigbrot und eine fast noch grüne Banane, dann war er bereit für seinen Arbeitstag.

Fünf Minuten vor 7:00 Uhr trat Ibrahim ins Büro seines Chefs auf der Baustelle in Hirschthal, wo er seit rund zwei Wochen schon tätig war. Er freute sich auf die Arbeit, denn die Wochenenden sind für Ibrahim oft lange und auch einsam. Eine Freundin hatte er zurzeit nicht, wer will sich schon mit einem Araber einlassen, auch wenn sich dieser als Schweizer fühlt und auch so spricht. Und seine Freunde, das waren vor allem seine Arbeitskollegen. Den Sonntag hatte er grösstenteils vor dem Fernseher verbracht, er sah sich ein Fussballspiel und das Formel 1 – Rennen an, das von Lewis Hamilton gewonnen wurde. Ansonsten war es ein eher langweiliges Wochenende. Daher war Ibrahim nun richtiggehend froh, dass er sein Tagewerk beginnen konnte.

«Guten Morgen Ibrahim», begrüsste ihn sein Vorgesetzter Thomas Steiner, zu dem er ein gutes kameradschaftliches Verhältnis pflegte.

«Guten Morgen Thomas, gibt es heute etwas Besonderes?»

«Nein, alles wie geplant, du kannst an deinem Aushub weitermachen. Willst du einen Kaffee bevor du beginnst?» Mit sichtlicher Vorfreude drückte Thomas auf die Taste der Kaffeemaschine, die sich denn auch sofort brummend ans Werk machte und die Kaffeebohnen zu mahlen begann. «Ein kleines Wunder, so eine funktionierende Kaffeemaschine, da kommt doch Freude auf, nicht wahr, Ibrahim?»

«Nein danke», lehnte Ibrahim das stärkende Getränk ab, «ich bin hier zum Arbeiten und nicht zum Kaffeetrinken. Und du weisst doch, dass ich lieber Tee trinke als Kaffee.»

«Jaja, ich trink für dich auch noch einen Kaffee. Oder vielleicht auch deren zwei.» Thomas Steiner machte sich nun wirklich nichts aus Tee und konnte Ibrahims Vorliebe absolut nicht verstehen. Tee, so meinte Thomas, trinken nur alte Frauen und er höchstens mal in der allergrössten Not, wenn er krank war. Und das kam nur alle Schaltjahre einmal vor.

Ibrahim verliess das Baustellenbüro und ein aromatischer Kaffeeduft folgte ihm hinaus, bevor er die Türe hinter sich wieder zuzog. Einige Meter noch konnte Ibrahim den Kaffeeduft hinter sich wahrnehmen. Mit entschlossenen Schritten näherte er sich seinem Kettenbagger, einem ET145 der Marke Wacker Neuson und blickte zum bedeckten Himmel empor. Hoffentlich bleibt’s heute trocken, mit Regen macht die Arbeit wirklich keinen Spass. Ibrahim war stolz darauf ein solches Fahrzeug bedienen zu dürfen, gilt der ET145 doch als Champion in der Königsklasse der Kettenbagger. Der Hersteller verspricht ein optimales Verhältnis von Leistung, Beweglichkeit und Standsicherheit. Womit er auch recht hat, wie Ibrahim meinte. Was für ein Geräusch, dachte sich Ibrahim, als er den Motor des ET145 startete, schöner als alle Musik der Welt, das lässt doch jedes Männerherz höherschlagen. Die ersten Minuten verliefen ganz nach Plan und Ibrahim erfreute sich gerade daran, wie gut er vorwärtskam. Doch dann, wie aus heiterem Himmel, fand seine Tätigkeit ein abruptes Ende.

«Halt, Stopp, Ibrahim Stopp!» Ibrahims Arbeitskollegen schrien sich buchstäblich die Seele aus ihrem Leib. Sie konnten nicht glauben, was sie da in der Schaufel von Ibrahims Bagger zu sehen bekamen. Knochen, nicht irgendwelche Knochen eines verwesten Tieres, nein das waren, das mussten Menschenknochen sein.

Was soll denn das? Was soll das Geschrei? Drehen meine Kollegen durch? Ibrahim stoppte den Bagger abrupt und schaute aus seiner Fahrzeugkabine heraus. «Hey Mann, was ist denn los?» So werden wir ja nie fertig. Ibrahim stieg aus seiner Kabine und trat zu seinen Kameraden, die entsetzt, wild gestikulierend und durcheinanderredend auf die Schaufel des Baggers schauten und zeigten. Nun sah auch Ibrahim den Grund des plötzlichen Arbeitsstopps. Er traute seinen Augen nicht und griff mit seinen Händen ungläubig an den Kopf. „Nein, nein, nein.“ Er hatte während seiner Tätigkeit schon einiges in der Schaufel gehabt, was ihn erstaunte und verwunderte, aber das war nicht einfach irgendetwas, das war ein Mensch oder zumindest das, was von ihm übrigblieb. Beim Anblick der Knochen zog es ihm die Magengrube zusammen, er spürte förmlich, wie ihm übel wurde. Doch Schwäche zeigen und Erbrechen, nein das kam für Ibrahim nicht in Frage. Sowas tun nur Frauen, war seine Meinung dazu.

«Guten Morgen», Petra Neuhaus trat ins Baustellenbüro und sah sich zwei Schnapstrinkenden Männern gegenüber. «Mein Name ist Petra Neuhaus, ich bin von der Kriminalpolizei Kanton Aargau. Hier, mein Ausweis.»

«Guten Tag, ich bin der Baustellenleiter, Thomas Steiner. Das ist Ibrahim Mansour, er war es, der den Bagger führte und die Knochen ans Tageslicht beförderte.»

Petras Augen schweiften interessiert durch den Container. Trostlos, also das wäre kein Arbeitsort für mich, ganz bestimmt nicht. Das einzige farbenfrohe an den Wänden des Containers waren die Playboy-Poster, die daran aufgehängt waren. Männer sind doch alle gleich. «Gut, dass Sie heute nicht mehr arbeiten müssen», sagte sie und deutete auf die Schnapsflasche. Denn Alkohol und Arbeit das ging für sie ganz und gar nicht, das war für sie ein absolutes No-Go.

Thomas Steiner kniff seine Augen zusammen, legte seine Stirn in Falten und erwiderte: «Wie meinen Sie das?»

«Nun, ich denke mir, auch für Baggerführer gibt’s eine Promillegrenze, nicht wahr? Oder sollte ich mich da täuschen?»

«Aber das müssen Sie doch verstehen, Frau Neuhaus. Uns steht noch der Schreck in den Knochen. So etwas haben wir wirklich noch nie erlebt. Wir sind nicht so abgebrüht, wie Sie das aufgrund Ihrer Tätigkeit vermutlich sind. Was meinen Sie, wie lange wird es denn dauern, bis wir unsere Arbeit wieder aufnehmen können?» Mit diesen Worten bot Thomas Steiner der Kriminalkommissarin einen wackligen Stuhl an. Wenn die wüsste, wie vielfrüher auf den Baustellen überallgetrunken wurde. Dagegen geht’s heute schon harmlos und gesittet zu und her, eigentlich fast schon etwas langweilig. Heute fliesst kaum mehr Alkohol als in einer Kindertagesstätte.

«Danke, ich stehe lieber. Nun, das ist schwierig zu sagen, die Forensiker sind jetzt an der Arbeit. Aber zwei, drei Tage wird’s schon dauern, damit müssen Sie leider rechnen.»

«Zwei, drei Tage? Super! Da wird unser Boss aber keine Freude daran haben. Wir sind sonst schon etwas im Verzug.»

Gerade in diesem Augenblick war in unmittelbarer Nähe ein kräftiges Donnerwetter zu vernehmen. Die dunklen Wolken über der Baustelle begannen sich kräftig und ausgiebig zu entleeren. Es schien fast so, als wollte Petrus die Erde nach diesem schrecklichen Fund mit Blitz und Donner und viel Regenwasser, wieder reinwaschen. Der Wetterumschwung gefiel Petra ganz und gar nicht, denn sie wusste, dass sich dadurch die Arbeit am Fundort deutlich erschweren würde. Sie schaute zum kleinen Fenster hinaus. Ach Petrus, hättest du nicht noch warten können? Mach mir das Leben doch nicht so schwer.

Petra wusste nicht weshalb im Zusammenhang mit dem Wetter immer von Petrus die Rede war, das war für sie ein absolutes Rätsel. Und damit steht sie nicht alleine da.

Im monotheistischen Christentum gibt es prinzipiell nicht mehrere, nach Funktionen unterschiedene Götter, daher also auch keinen Wettergott. Im Volksglauben jedoch wird der Apostel Petrus als verantwortlich für das Wetter angesehen und darum auch gerne als Wettergott bezeichnet. Diese Bezeichnung hat sich vom Volksglauben gelöst und ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Die Zuschreibung rührt vermutlich daher, dass Petrus in mittelalterlichen Darstellungen zuständig ist für das Öffnen und Schliessen der Himmelspforte. «Petrus hat die Himmelsschleusen geöffnet», lautet bisweilen im Volksmund die bildhafte Umschreibung des Regenwetters. Auch als kulturgeschichtlicher Nachfolger des römischen Gottes Janus steht Petrus in enger Verbindung mit Wettererscheinungen.

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