Buch lesen: «Wie man Dinge repariert»
MARTIN PEICHL
WIE MAN
DINGE
REPARIERT
ROMAN
Inhalt
BEZIEHUNGSSTATUS
SCHNEEHÖHLENFORSCHER
ZUM FEIERN HABEN WIR NICHTS
SEEUNGEHEUER
WIE KREBS FUNKTIONIERT
PACKEIS IN DEN AUGEN
VERSUCHSANORDNUNG
DIE WAHRHEIT, TEIL 2
WAS BLEIBT, IST STILLE IM 4/4-TAKT
EIN FINSTERES LAND
DIE GESAMTHEIT DES GEFUNDENEN
WARST DU SCHON EINMAL IN ILLINOIS?
95 PROZENT DES UNIVERSUMS FEHLEN
ZU WEIHNACHTEN WÜNSCHE ICH MIR EIN SYNDROM
METAMORPHOSEN
IM RÜCKSPIEGEL
UNSICHTBARE RÜCKSTÄNDE
WENN MAN VERLIEBT IST
FAST ZWEI JAHRESZEITEN
WIE MAN FREISTÖSSE SCHIESST
EINE LANGE LISTE MIT ENTTÄUSCHUNGEN
DIE GESAMTHEIT DES GEFUNDENEN
ZWEI HUNGERKÜNSTLER
KEINE BIOGRAFIE
ROMEO UND JULIA MÜSSEN STERBEN
DIE FUNKTION DES SPIELS
EINEN WALD GEERBT
52 HERTZ
IM TAL DER TOTEN FRÖSCHE
EIN ANDERES LEBEN
DIE SPRACHE DER SCHAFE
BIS ZUM GAUMENZÄPFCHEN
DIE GESAMTHEIT DES GEFUNDENEN
NACH DER LANDUNG
BEZIEHUNGSSTATUS:
Ich schreibe schon wieder einen Text über dich.
SCHNEEHÖHLENFORSCHER
Wenn ich an Niederösterreich denke, dann denke ich immer auch an das Wort KELLER. So könnte ich beginnen. Im Keller anfangen, dann über den Heizraum schreiben, über das im Nebenraum gestapelte Holz, das früher der Großvater gemeinsam mit dem Vater, dann der Vater alleine und schließlich niemand mehr mit der Kreissäge geschnitten hat, an Samstagvormittagen und Samstagnachmittagen. Unbedingt auch den Weinkeller erwähnen mit seinen Spinnweben und den vom Onkel mitgebrachten Weinflaschen aus Tschechien, aus Budapest und von diversen anderen Gruppenreisen. Vielleicht in diesem Zusammenhang gleich erzählen, ganz genau beschreiben, wie mein Onkel vor den Augen meiner Tante meiner Mutter an die Hüfte und auf den in einer Leggins aufbewahrten Hintern gegriffen und gleichzeitig ihre Kuchenbackkünste gelobt hat. Unbedingt erwähnen, dass der Onkel dabei den Hintern meiner Mutter in der einen und die Kuchengabel in der anderen Hand gehalten hat.
Ich könnte aber auch von den Schneehöhlen erzählen, die ich als Kind gegraben habe, eingehüllt in einen Skioverall und das Gesicht geschützt von einer sogenannten Schalhaube. Ja, meine Erinnerung an selbst gegrabene Tunnel, tief hinein in die nach dem morgendlichen Schneeschaufeln angehäuften Schneeberge neben der Einfahrt wäre ein passender Einstieg. Ich könnte ebenso über die mit meinem Vater gemeinsam gebauten Schneemänner schreiben, denen immer irgendetwas gefehlt hat, ein Auge oder eine Nase oder ganze Gliedmaßen, könnte auf diese Weise vorwegnehmen, dass später auch er fehlen wird. Ich müsste die Episoden nur ohne nostalgisches Pathos erzählen, ganz kühl und wie Pulverschnee müsste die Sprache sein.
Auf keinen Fall will ich mit dem Geruch von Hirschtalgcreme beginnen, mit der Hirschtalgcreme meiner Diabetes-Großmutter, die im selben Haus gewohnt hat. Es wird wichtig sein, relativ bald auf sie zu verweisen, auf ihre Diabeteskrankheit und ihr meine Mutter erdrückendes Übergewicht, aber nicht gleich auf der ersten Seite. Ich will ja keine Klavierspielerin 2.0 schreiben und auch kein noch wunschloseres Unglück.
Um dieses Risiko zu minimieren, könnte ich mit einer Busfahrt in den Kindergarten beginnen, mit einer neben der gleichaltrigen Nachbarstochter verbrachten Kindergartenbusfahrt, und ich könnte das Motiv auf meiner Kindergartentasche beschreiben und das Motiv auf ihrer Kindergartentasche beschreiben, könnte also über meine Garfield-Tasche und ihre Tweety-Tasche schreiben und auf diese Weise geschickt eine sich anbahnende unglückliche, vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad brutale, Liebesgeschichte andeuten.
Was sich natürlich auch anbietet, ist der erste Vollrausch und die Beschreibung der Angst, wenn man nach Mitternacht auf einmal den besten Freund nicht mehr findet, sondern nur sein Fahrrad, und glaubt, er ist vielleicht im Löschteich ersoffen. Dass man also in den Löschteich hineinspringt, um ihn zu retten, was wiederum dazu führt, dass man selbst fast ersäuft, dass man aber zum Glück eine ältere Schwester hat, die besser schwimmen kann. Überhaupt würde es mich reizen, dieses eine Dorffest genauer zu beschreiben. Ich würde gerne über den Geruch der Grillhendln schreiben, über die Wadeln der Kellnerinnen und das Gefühl, wenn dein Kopf nach vorne schnalzt, weil jemand mit voller Wucht beim Autodrom in dich hineingerast ist.
Ich könnte mit dem an Zungenkrebs erkrankten Nachbarn beginnen, damit, dass ich in einer seiner Schubladen das erste Pornoheft meines Lebens gefunden habe und seitdem kein Nutella mehr mag. Oder mit der Erinnerung an Sommerferien und den Tagen am Badeteich. So könnte ich den Geruch von noch nicht ganz aufgeblasenen Luftmatratzen beschreiben, als erstes Anzeichen einer sich später ausformenden Sexsucht. Ich könnte mit lyrischer Prosa poetische Bilder malen: der kleine Fußballplatz im Dorf, aber die Tore haben keine Netze, die Sandkiste hinterm Haus, aber alle Kübel haben Löcher, die überfahrene Nachbarskatze, aber alle glauben, es ist ein Marder.
Dass das erste Lokal, in dem ich mich regelmäßig mit Freunden getroffen habe, ROCK-IN geheißen hat, aber dass dort nur Blues gespielt wurde, das will ich auch unbedingt einbauen, dass dort eine Pizza Margherita mit Schinken und Zwiebeln serviert worden ist, und ein Wieselburger Stammbräu nur 22 Schilling gekostet hat. Das ROCK-IN, in dem ich mein erstes Date gehabt habe, aber sie war Ministrantin, und das machte alles ein wenig kompliziert.
Was soll ich über die erste Liebe schreiben, wenn die erste Liebe ja doch die Frau ist, mit der man das erste Mal Sex hat, weil dann hat man's endlich hinter sich, dann kann man wieder an andere Sachen im Leben denken, zum Beispiel daran, welches Computerspiel man sich als nächstes kauft, oder man kann ein paar zusätzliche Akkorde auf der Gitarre lernen und irgendwann fünf statt nur drei Nirvana-Songs spielen.
Ich habe überlegt, über das Geräusch zu schreiben, das ein 56K-Modem beim Einwählen ins Internet von sich gegeben hat. Oder über den Tag, als meine Mutter mein offenes Tagebuch gelesen und mir gesagt hat, ich soll bitte weniger an meine Cousine und mehr an die nächste Mathematik-Schularbeit denken. Oder über meinen Großvater, der irgendwann den Bieröffner nicht mehr gefunden hat, obwohl der Bieröffner in derselben Schublade gelegen ist wie sonst auch, aber niemand in der Familie hat das Wort »Alzheimer« ausgesprochen. Genauso gut könnte ich sein Begräbnis beschreiben und das Geräusch der regenfeuchten Erde, die wir im 4/4-Takt auf seinen Sarg geschaufelt haben.
Ich könnte mit einer Widmung beginnen, THIS IS NOT FOR YOU könnte ich auf die erste Seite schreiben, oder von einer gemeinsamen Reise erzählen, dass du mir den Unterschied zwischen Topografie und Anatomie erklärt hast, dass du mir erklärt hast, wie ein künstlicher Horizont ausschaut. Ich könnte dir viele Namen geben im Verlauf unserer Geschichte, sie sind so austauschbar, die Namen, fast so austauschbar wie die Orte, an denen wir uns verpasst haben.
Ich könnte mit allem anfangen, aber kein Anfang wäre richtig, kein Anfang würde stimmen. Auch die Reihenfolge ist egal, weil es keine Chronologie gibt. Alles, was wir erleben, ist untertunnelt, und darunter: ein ganzes Höhlensystem. Ich kann nicht über Weihnachten schreiben, ohne über Auffahrunfälle zu schreiben. Ich kann nicht über Ostern schreiben, ohne über den unfreiwilligen Wet-T-Shirt-Contest meiner beiden Tanten zu schreiben. Ich kann nicht über meinen zwölften Geburtstag schreiben, ohne über in Weichselsaft aufgelöste Butterkekse zu schreiben. Alles, was ich kann, ist Schneehöhlen graben. So lange, bis mir der kalte Schnee in die Schalhaube hineinrutscht. Oder sich der Schnee braun färbt von der harten Wintererde.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Seit ich rausgefunden habe, dass man eine eigene Seilbahn-Gondel bekommt, wenn man den Rauriser Literaturwettbewerb gewinnt, schlafe ich schlecht. Ich wache mitten in der Nacht auf und höre den Wind, der talwärts den Hang entlangfegt, alle meine Sätze mitreißt, die Gondel hin- und herwirft und aus den Seilen springen lässt, mich und meine Sprache hinabreißt, ins Tal ohne Schluss.
ZUM FEIERN HABEN WIR NICHTS
Zum Feiern haben wir nichts, aber eine Flasche können wir trotzdem aufmachen. Zum Feiern haben wir wirklich nichts, aber deinen BH können wir trotzdem aufmachen. Zum Feiern haben wir nichts, egal, meine Hose können wir trotzdem, nein: deshalb aufmachen. DACHGESCHOSSSTIMMUNG.
Hör auf in meine Richtung zu äschern, hör auf mit dem Wind. Der Wind auf deiner Zunge, wenn wir uns küssen, der Wind und deine Asche, wenn wir an morgen denken. Ich wollte deine Einsamkeit sein, aber der Winter ist in uns hineingekrochen, und der Winter wird bleiben, unsere Lippen aufreißen, unsere Sprache aufreißen. LAWINENSTIMMUNG.
Pünktlich um Mitternacht verrutschen, kurz nach Mitternacht versagen die Organe. Zum Feiern haben wir nichts, zum Beerdigen genug. Ich wühle in dem, was noch übrig ist von dir am Morgen. Du hast mein Bett verwüstet. LATTENROSTSTIMMUNG.
Ich schreibe dir einen Liebesbrief, du klemmst ihn dir zwischen die Schenkel, da ist Platz, da ist Platz für zwei. Mit jedem Schluck Wein werden meine Sätze glitschiger, meine Blicke schlittern in deine Richtung. Lass uns um die Wette, lass uns. Was hast du mir nur. Was hast du mir nur unter die Zunge. Unter die Zunge und hinein in meine Sprache geschoben, dass ich so hänge, in deinen Ästen hänge und raschle im Fallen, so laut. PLATZREGENSTIMMUNG.
Ein Koordinatenursprung, wo du aufhörst und ich beginne. Zum Feiern haben wir nichts. Dein Lippenstift bröckelt in meine Grammatik hinein. Mir sind die Possessivpronomen ausgegangen. Alles, was du sagst, kann und wird, alles, was du sagst, ist eine Startrampe. Mein Körper ist kein Tempel. Mein Körper ist ein Raumschiff. Du bist mein Houston. Wir haben ein Problem. ERDROTATIONSSTIMMUNG.
Ich schenke ein. Da ist ein Loch. Ich trinke. Da ist ein Loch. Ich trinke aus. Da ist ein Loch. Der Wein versickert in meinen Nebensätzen. Wenn ich dich jetzt am Hals berühre, zerspringst du mir in zwei Teile, und ich weiß nicht, will ich deinen Kopf oder will ich den Rest. KLEBSTOFFSTIMMUNG.
Zum Feiern haben wir nichts, aber eine Flasche zwischen Nicht-schlafen-Wollen und Nicht-schlafen-Können geht sich noch aus. Ich erzähle von dir, mit meinen Fingerspitzen, dein Blues ist mein Rhythmus, ich erzähle von dir, ganz langsam nimmst du meine harte Prosa in den Mund. Schon lange widme ich dir alle meine Hangover. Dein Herz schickt mich zum Friseur. LUNGENZUGSTIMMUNG.
Wir schenken uns ein halbes Leben, schenken uns ein halbes Leben nach. Ich will, dass du mich verwechselst, aus Versehen mit Liebe verwechselst, aber mein Eintrittswinkel ist zu spitz, mein Eintrittswinkel ist zu stumpf, wir haben uns verrechnet. In meinen Sätzen treiben, in deinen Sätzen schmelzen Eisberge. Zum Feiern haben wir nichts. COUNTDOWNSTIMMUNG.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Wir sind Mitte dreißig und haben noch nie etwas repariert.
SEEUNGEHEUER
Aus den Augen verloren, dich,
in ein Taschentuch gewischt, dich,
auf einer ungefähren Landkarte eingezeichnet, dich,
wo früher Seeungeheuer gewartet haben: ich.
Seit Wochen schon reden wir kein Wort. Wir sehen uns regelmäßig, es lässt sich nicht vermeiden, zu klein die Stadt, zu klein der Bezirk, wir schauen aneinander vorbei, schauen durch uns durch, manchmal passiert es auch, dass wir reinschauen, ich in dich und du in mich, dann bekommen wir Angst, weil da so viel ist, was wir nicht kennen, so viel ist, was wir nicht verstehen, so viel ist, was wir noch immer wollen, weil wir so nackt sind da drinnen.
In einem schwachen Moment Eichendorff zitiert, schon wieder, ich,
wieder einmal ohne Rhythmus und Reim geküsst, dich,
deine Augen verdreht bis zum Horizont und weiter,
als hätt der Mond die Erde, im falschen Film, schon wieder, ich.
Irgendwann passiert es dann wieder, wahrscheinlich, weil drei Monate vergangen sind und wir einmal pro Quartal zusammenstoßen müssen, einmal pro Quartal kommt es zur Kollision, es beginnt immer ganz harmlos, wir nehmen dieselbe U-Bahn, wir wechseln ein paar Worte, alles noch relativ harmlos, du lachst über mich und meine Halbsätze, nicht mehr ganz so harmlos, dann kommt meine Station und ich frage dich, ab jetzt ist nichts mehr harmlos, ob du schon genug hast von mir, also steigst du auch aus, weil du hast noch nicht genug von mir oder willst zumindest wissen, was ich mit dieser Frage meine, du willst zumindest wissen, wie sehr ich dich will und warum.
Dein Herz: eine Sommerrodelbahn im Winter, und schau,
deine Sprache: ein Getränkemarkt zu Silvester, und schau,
deine Küsse: Reservierungsbestätigungen per E-Mail, und schau,
LIEBEN HEISST, DAS EIGENE ICH RISKIEREN.
Keines unserer üblichen Lokale hat um diese Uhrzeit offen, also nehmen wir das nächstbeste, und du bestellst einen weißen Spritzer nach dem anderen und für mich immer ein großes Bier dazu, weil du mich nur aushältst, wenn du dich gleichzeitig betrinken kannst, nüchtern hältst du mich nicht aus, also betrinkst du dich, und nach dem fünften weißen Spritzer schiebst du deine Hand unter den Tisch, und du öffnest meinen Reißverschluss, ganz langsam, nach dem fünften weißen Spritzer unterstellst du mir, nur Sex zu wollen von dir, immer nur Sex, aber nicht deine Liebe. Was auch immer deine Liebe ist, wie auch immer deine Liebe funktioniert.
Ein paar Tage am Meer, ein paar Tage am See, wir,
der Hotelpianist spielt nur für uns, er trinkt:
kleine Bier und zwischendurch Likör, er spielt:
ein Lied, zu dem wir uns gerne verliebt hätten, einmal.
Dann muss ich weg, ich habe einem Freund versprochen, noch auf seiner Geburtsparty vorbeizuschauen. In der Straßenbahn schreibe ich einen Text, eine lange Liste mit Gründen, warum wir es noch einmal probieren sollten miteinander. Und ich stelle mir vor, wie ich später zu dir komme, dir die Liste vorlese und du mich vielleicht umarmst oder zumindest mich nicht mehr ganz so schrecklich und unmöglich findest, nur, weil ich ein Trottel bin, der sich nicht entscheiden kann, sich schon jahrelang nicht für dich entscheiden kann, obwohl er immer wieder zurückkommt zu dir, nicht loskommt von dir. Und ich stelle mir vor, dass du vielleicht sagst: Komm her, du Trottel, bleib heute Nacht bei mir.
REALITY CHECK, sagst du, ich erhöhe, ALL-IN, sage ich, kein Umtauschrecht, sagst du, keine Garantie, und ob wir eine gute Idee sind, weil die Wirklichkeit taucht alles in ein schwindeliges Licht, taucht uns unter.
In der Zwischenzeit bestellst du noch einen sechsten weißen Spritzer und dann vielleicht einen siebten, lernst den Typen vom Nebentisch kennen, er wohnt bei mir im Haus. Und während ich an meiner Liste schreibe, während ich schon auf der Rückseite weiterschreibe, weil mir immer mehr Gründe einfallen, gehst du mit zu ihm. Und während ich mir überlege, wer du bist für mich, ziehst du dich ein Stockwerk unter meiner Wohnung aus. Und während ich an deine Haut denke und wie sehr ich will, dass sie nur mir gehört, drückt sich dein nackter Rücken hinein, immer fester hinein in die Matratze meines Nachbarn.
In Bauchnabeln angesammelt deine Zweifel, restfeucht, ein fremdes Haar, an dem du baumelst, das Revier markiert, der Wind beschädigt, dein Blick schreit Mord, meiner Totschlag.
Auf das Ergebnis des Schwangerschaftstests warten wir dann gemeinsam. Ich weiß nicht, warum ich hier bin, in deiner Wohnung, ich weiß nicht, warum ich jetzt deine Hand halte, während wir auf das Ergebnis des Schwangerschaftstests warten, ich weiß nur, dass ich hier bin, dass ich in diesem Moment deine Hand halte, in deinem Bauch vielleicht ein Seeungeheuer, und ich halte deine Hand. Vielleicht zum letzten Mal. Wahrscheinlich nicht zum letzten Mal.
Aus den Augen verloren, dich, in ein Taschentuch gewischt, mich, auf einer ungenauen Landkarte eingezeichnet, uns, wo früher wir gewartet haben: ein weißer Fleck.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Am Wochenende trinkst du meine fragile Männlichkeit wie Schnaps.
WIE KREBS FUNKTIONIERT
Als Kind wusste ich nicht, wie Krebs funktioniert. In meiner Erinnerung stehe ich im Haus der Nachbarn, in meiner Erinnerung stehe ich in ihrem Schlafzimmer. Es muss ein Sommertag gewesen sein, denn ich erinnere mich an kurze Hosen, an den Geruch von Sonnencreme und an mit Wassereis verklebte Mundwinkel. Der Nachbar war an Zungenkrebs erkrankt und lag schon seit Wochen im Sterben, konnte nicht mehr sprechen und sich nur mit Stift und Papier mitteilen.
Meine Mutter hatte mich mitgenommen, meine Mutter hatte auf den paar Metern zwischen unserem Haus und dem Haus der Nachbarn zu mir gesagt: Der Nachbar hat Krebs. Das war alles. Nur dieser eine Satz. Der Nachbar hat Krebs. Und ich habe mir vorgestellt, wie da ein Flusskrebs in seinem Hals lebt und ihm die Zunge wegzwickt, habe mir vorgestellt, dass der Krebs seine Stimmbänder abgezwickt hat und er deshalb nicht mehr reden kann, und habe mich natürlich gefragt, warum niemand seinen Hals aufschneidet und den Krebs rausholt, habe mich zwischendurch sicher auch gefragt, wovon der Krebs sich ernährt und ob er zum Beispiel Nudelsuppe mag. Überhaupt, glaube ich, war damals mein Gehirn ein Malkasten und ich wusste noch nicht, welche Farben man besser nicht mischen sollte.
Die Frau unseres Nachbarn rauchte viel, auch im Schlafzimmer neben dem Krankenbett rauchte sie ständig, und ihre Stimme war tief und kratzte in meinen Ohren. Vielleicht sitzt auch in ihrem Hals ein Krebs, dachte ich, aber ihr Krebs kommt nicht zum Zwicken, der findet vor lauter Rauch die Stimmbänder nicht.
An diesem Nachmittag oder Vormittag jedenfalls, ich weiß nicht mehr wieso, war ich auf einmal alleine mit dem Nachbarn und seinem Krebs in seinem Schlafzimmer. Er war offensichtlich eingeschlafen, denn der Block war ihm aus der Hand geglitten und der Stift zu Boden gefallen. Meine Mutter und die Nachbarin waren in die Küche gegangen, wahrscheinlich um Kaffee zu kochen. Ich sah, dass die Schublade des Nachtkästchens ein Stück weit offen war, entdeckte ein buntes Magazin, und hoffte, dass meine Nachbarn, so wie mein Cousin, vielleicht Comics sammelten. Also ging ich ganz leise zur Schublade und öffnete sie.
Im nächsten Moment hielt ich das erste Pornoheft meines Lebens in der Hand. Ich hatte nicht viel Zeit, ich hörte die Stimme meiner Mutter und die Stimme der Nachbarin zwei Zimmer weiter, sie kamen mir jetzt näher vor, außerdem konnte der Nachbar jederzeit wachgezwickt werden von seinem Krebs, also schlug ich nur eine einzige Doppelseite auf, und ich glaube, seit diesem Tag ist meine Lieblingsstellung die 69.
Wie Krebs funktioniert, weiß ich immer noch nicht.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Ich habe die leeren Bierflaschen in meiner Wohnung gezählt. Da stehen 78 leere Bierflaschen in meiner Wohnung, zum Teil im Vorzimmer, zum Teil in der Küche. 78 leere Bierflaschen.
PACKEIS IN DEN AUGEN
Glaubt man den Fotos, die man im Internet findet, dann hatte niemand einen schöneren Mittelscheitel als Ernest Shackleton.
Es gibt keine Berichte über die Verfassung von Shackletons Mittelscheitel, als sein Schiff, die Endurance, 1915 fast ein ganzes Jahr von Packeis eingeschlossen war. 281 Tage umgeben von Eis, und am 21. November schließlich wurde das Schiff von den Eismassen zerdrückt.
Es gibt ein Foto, das die sinkende Endurance zeigt. Im Vordergrund sechs Schlittenhunde, ihre Blicke auf das Schiff gerichtet. Die Endurance, ganz schwarz, geht unter im Weiß des Eismeeres.
Wenn wir an Shackleton denken, dann an diese Expedition. Auf drei Rettungsboote verteilt konnte er seine gesamte Mannschaft retten. Manche sprechen in diesem Zusammenhang von einem Wunder. Wenn wir an Shackleton denken, dann an sein Scheitern und die anschließende Rettungsaktion. Sogar einen Krater auf dem Mars haben sie nach der Endurance benannt. Niemand denkt an Shackletons Mittelscheitel.
Einmal hast du zu mir gesagt: Im richtigen Licht schaust du fast aus wie Shackleton. Das war das schönste Kompliment, das du mir je gemacht hast. Aber damals warst du noch verliebt, und ich hatte noch mehr Haare und einen Deckenfluter, der funktionierte.
Es gibt auch Fotos von Shackleton mit Vollbart und Seitenscheitel. Diese Aufnahmen sind lange nach der Endurance-Expedition entstanden. Wenn man genau hinschaut, sieht man die Eisbrocken, die in seinem Bart hängen. Wenn man genau hinschaut, sieht man das Packeis in seinen Augen.