Buch lesen: «P-26»
«Wir sind die, die es gar nicht gibt. Wir sind die, denen niemand dankt.»
Stieg Larsson, Vergebung
DIE ORGANISATION
Vorwort
Bild und Zerrbild
Kalter Krieg und Bedrohungsbild
Die Anfänge
Grundkonzeption
Ausbildung
Mitglieder und ihre Rekrutierung
Ausrüstung
Bewaffnung
Die geheimen Lager
Der KP im «Lochbach»
Finanzierung
Die Gruppe 426
Kooperation mit der Basler Polizei
Kooperation mit den Briten
Die Aktivierung im Ernstfall
Der Ausbau der Organisation im Ernstfall
Die Schweiz unter Besetzung
Eine illegale Organisation?
Das Gespenst der Selbstaktivierung
BEGEGNUNGEN
Hans Lippuner
Henry C. R. Furrer
Paul Gschwend
Bernard Clément
Das Freiburger «Widerstandsnest»
Oscar
Michel
H.
Gertrud B.
Hans-Rudolf Strasser
OUTINGS IN DEN MEDIEN
Susanne Günter
Die Widerstandsregion Schaffhausen
Georg Held
Die Widerstandsregion Chur
Markus Flückiger, Alfred Hebeisen
DIE WIDERSTANDSVORBEREITUNGEN SEIT 1940
Der Zweite Weltkrieg
Der erste «Spezialdienst»
Das «Alte Testament»
Das «Neue Testament» unter Oberst Bachmann
DAS «SKANDALISIERUNGS-CRESCENDO»
Der Weg zur PUK EMD
Der PUK-Bericht
Wer wusste wie viel?
FAZIT
Nachwort
ANHANG
Bibliografie
Abkürzungsverzeichnis
Personenverzeichnis
VORWORT
Die grauhaarigen Herren, die sich an diesem Spätherbsttag 2009 in Chur treffen, fallen in keiner Weise auf. Ehemalige Berufsleute? Kulturinteressierte? Ein Klassentreffen? Nichts weist auf den einmaligen Charakter dieser Zusammenkunft hin. 19 Jahre früher hätte das genau gleiche Treffen, wäre es ruchbar geworden, einen Riesenwirbel verursacht. Denn die rund zwei Dutzend Herren haben ein wohlgehütetes gemeinsames Geheimnis: Sie sind ehemalige Mitglieder der Kaderorganisation P-26. Genauer: Sie gehörten den beiden Zellen oder Widerstandsregionen mit den Nummern 73 (Buchs) und 82 (Chur) an – zwei der rund 80 Widerstandsregionen, aus denen die P-26 bei ihrer Enttarnung im Jahr 1990 bestand und die schachbrettartig über die ganze Schweiz verteilt waren.
Die meisten Ehemaligen, die sich im Churer Grossratssaal treffen, begegnen sich zum ersten Mal. Einzelne kennen sich privat – und kommen jetzt aus dem Staunen nicht heraus. Zwei Jahrzehnte lang haben sie nach Befehl geschwiegen. Jetzt ist es vorbei mit der Geheimhaltung. Im September 2009, fast zwei Jahrzehnte nach der Enttarnung und Liquidierung der P-26, hat der Bundesrat die persönliche Schweigepflicht aufgehoben und den Ehemaligen öffentlich für ihr Engagement in der Widerstandsorganisation gedankt. Die Ehemaligen könnten sich nun «offen, frei und unbefangen über ihre eigenen persönlichen Diensterlebnisse äussern», beschied ihnen Bundesrat Ueli Maurer. Eine vollständige Offenlegung der Widerstandsvorbereitungen bedeutet die Aufhebung der Schweigepflicht allerdings nicht: Die Akten rund um die P-26 bleiben noch bis zum Jahr 2020 unter Verschluss, erst dann läuft die übliche 30-jährige Sperrfrist ab.
Die Verabschiedung der Ehemaligen in Chur ist eingebettet in einen militärischen Stabsanlass der Bündner Führungsunterstützungsbrigade 41. Gemeinsam besuchen die Teilnehmer die Kathedrale, hören einen Vortrag über die Widerstandsvorbereitungen in der Schweiz von 1940 bis 1990 und sehen den Dokumentarfilm «Die Freiheit ist uns nicht geschenkt». Das gewisse Pathos der Veranstaltung ist durchaus gewollt. Danach folgen der offizielle Empfang und die Verabschiedung der Ehemaligen durch die Bündner Regierung. Auch die Bündner Regierungsrätin Barbara Janom Steiner wird am Anlass der Brigade 41 als langjährige Offizierin verabschiedet und lernt dabei die ehemaligen Churer Widerständler kennen. Sie äussert sich nach dem Treffen gegenüber der «Südostschweiz» überrascht, sowohl von der Existenz der Organisation als auch von deren personeller Zusammensetzung. Auch an anderen Orten in der Schweiz kommt jeweils eine Anzahl Ehemaliger an solchen Veranstaltungen zusammen. In der Regel nehmen kantonale Regierungsmitglieder an der Verdankung teil, so etwa im Klostergut Paradies, eingebettet in einen Anlass der früheren Schaffhauser und Zürcher Grenzbrigade 6; die Schaffhauser Regierungspräsidentin Rosmarie Widmer Gysel dankt dort den Schaffhauser Ehemaligen der P-26 mit einer kurzen Ansprache.
Die Ehemaligen können seit der Aufhebung der Schweigepflicht öffentlich zu ihrer Mitgliedschaft stehen. Einige haben dies getan und sind in den Monaten danach in verschiedenen Medien in Erscheinung getreten. Andere outen sich erstmals gegenüber dem Verfasser dieses Buches, einige von ihnen unter Wahrung ihrere Anonymität, wieder andere wünschen dieses Kapitel in ihrem Leben ohne jede öffentliche Erwähnung abgeschlossen zu wissen. Die komplette Namensliste der P-26 mit ihren rund 400 Einträgen bleibt unter Verschluss. Der Bundesrat will den Entscheid über ein allfälliges Outing bewusst jedem einzelnen Mitglied überlassen: «Dass von der Nennung von Personen, welche nicht selbst damit einverstanden sind, aus persönlicher Rücksicht Abstand genommen wird, ist für den Bundesrat eine Selbstverständlichkeit.»
An diesen Treffen kommt es bisweilen zu verblüffenden Begegnungen. Die allermeisten P-26-Leute haben bis anhin nichts voneinander gewusst, denn es gehörte zur Grundkonzeption der Organisation, dass jedes Mitglied aus Sicherheitsgründen höchstens einige wenige andere Mitglieder kennen durfte. Jetzt, nach fast 20 Jahren, treffen sich da und dort Bekannte, die von ihrer gemeinsamen Mitgliedschaft nicht die geringste Ahnung hatten. Einige trauen ihren Augen nicht: In Chur trifft ein Rheintaler Ehemaliger nicht nur auf einen persönlichen Freund, sondern es steht da auch der Präsident eines Vereins vor ihm, in welchem er selbst seit Jahren als Vizepräsident amtet. Die Überraschung ist perfekt.
Alle Ehemaligen haben 19 Jahre lang dichtgehalten und damit ihre Zuverlässigkeit auch nach dem Ende ihres Engagements unter Beweis gestellt. Als die P-26 im Jahr 1990 nach den aufsehenerregenden Enthüllungen der parlamentarischen Untersuchungskommission PUK EMD mit Schimpf und Schande liquidiert wurde, blieben die Ehemaligen dennoch an die Geheimhaltungspflicht gebunden. Über ihr Engagement wusste höchstens der engste Familienkreis oder sogar ausschliesslich die Lebenspartnerin oder der Lebenspartner Bescheid. Bisweilen nicht einmal diese.
Ein wenig zu bröckeln begonnen hatte die Mauer des Schweigens immerhin schon im Jahr 2008, als an der militärischen Schau «Comm08» in Frauenfeld ein unscheinbares Zelt dem Thema Widerstand gewidmet war und sich in einem dort gezeigten Film erstmals etwa zwei Dutzend ehemalige P-26-Angehörige outeten. Auch an diesem Stand trafen die eingeladenen Ehemaligen da und dort überraschend auf Bekannte. Einer berichtete gegenüber einem Journalisten des «Tages-Anzeigers» sogar kurz über seine Erlebnisse, natürlich ohne Namensnennung. Das war heikel, denn noch galt zu diesem Zeitpunkt die Geheimhaltung. Die Sache blieb ohne jegliche Folgen – ein Indiz dafür, dass die Zeit reif war für die Aufhebung der Schweigepflicht.
Die Ehemaligen sind heute pensionierte Berufsleute aller möglichen Gattungen, nicht selten hatten sie zur Zeit ihrer P-26-Mitgliedschaft Kaderpositionen oder öffentliche Ämter inne. Sie engagierten sich damals in der Zeit des Kalten Kriegs und der als Bedrohung empfundenen sowjetischen Politik, um im Fall einer sowjetischen Besetzung der Schweiz vom Untergrund aus den Widerstandswillen der Bevölkerung zu stärken und den Besatzern das Leben so schwer wie möglich zu machen – mit Propagandaaktionen aller Art und später auch mit gezielten Sabotageakten. Diese Hintergründe der Organisation zu beleuchten, ist das Ziel dieses Buches. Seine Kernteile beruhen auf Gesprächen mit Ehemaligen. Die «Oral History», also die systematische mündliche Befragung von Zeitzeugen, tritt hier vorerst an die Stelle der Analyse der schriftlichen Quellen, die erst nach 2020 möglich sein wird. Der Verfasser hat insbesondere mit dem ehemaligen P-26-Chef Efrem Cattelan alias Rico gesprochen und danach einer Reihe von Ehemaligen jeweils denselben Fragenkatalog vorgelegt. Weiter hat er die Aussagen von Ehemaligen in verschiedenen Medien ausgewertet.
Gesprächsbereite ehemalige Mitglieder zu finden, war keine einfache Sache, da die Namensliste der Ehemaligen nicht zugänglich ist und dem Verfasser aus einem Kreis von Ehemaligen überraschenderweise sogar Widerstand erwuchs (siehe Seite 304). So ging es darum, sich vom einen Mitglied zum nächsten zu tasten. Auf diese Weise kam eine zahlenmässig zwar überschaubare, aber aussagekräftige Reihe von Gesprächspartnern zusammen. Das Bild, das sie von der P-26 zeichnen, hat wenig gemein mit der aufgeregten Wahrnehmung der «illegalen Geheimarmee» von damals, als die Existenz der Organisation öffentlich wurde.
BILD UND ZERRBILD
Der Mann wartet auf einem Perron im Bahnhof Gstaad. Er wirkt ganz und gar nicht konspirativ. Darf er auch nicht, denn Unauffälligkeit ist das A und das O als Mitglied der P-26. In der linken Hand trägt der Wartende eine Mappe, in der rechten den «Bund». Diese Anordnung signalisiert, dass die Luft rein ist. Wäre sie es nicht, müsste er Mappe und Zeitung andersrum tragen. Der Mann ist Berufs-Unteroffizier der Armee. Gegenwärtig arbeitet er indessen im streng geheimen Spezialauftrag: Als Instruktor ist er abkommandiert zum Führungsstab des Projekts 26, der in einem alten Bauernhaus in der Nähe von Burgdorf untergebracht ist. Heute erwartet er einmal mehr einen Kursteilnehmer zur Ausbildung. Die Kurse finden häufig im «Schweizerhof» oben statt: Die gut getarnte Festungsanlage liegt knapp oberhalb der Gstaader VIP-Ferienchalets. Er kennt den Ankömmling nicht, nur dessen Deckname ist ihm bekannt. Der Kursteilnehmer seinerseits ist neu in der P-26 und reist zum ersten Mal nach Gstaad. Er kennt den Mann, der ihn erwartet, ebenfalls nicht; noch viel weniger weiss er, wohin der Instruktor ihn bringen wird. Sehr genau im Kopf hat er hingegen die Erkennungsregeln.
Was jetzt folgt, ist Routine, aber wichtig und typisch für konspiratives Verhalten: Die beiden Männer müssen sich einander auf eindeutige Art zu erkennen geben. Der ankommende Kursteilnehmer, von Beruf Lehrer, schlendert ruhig auf den Mann mit der richtigen Anordnung von Mappe und Zeitung zu. Der Wartende spricht als Erster: «Guten Tag, sind Sie der Herr Vorburger von den Bally Schuhfabriken?» Der Ankommende antwortet: «Nein, Herr Vorburger hat leider die Grippe, ich bin an seiner Stelle da.» Kurzes Kopfnicken, kurzer Händedruck, unauffällig, banal. Es hat vorschriftsmässig geklappt mit den Erkennungssätzen. Diese sind im Voraus ebenso festgelegt worden wie die Anordnungen von Mappe und Zeitung. Die Satzkombinationen müssen unverwechselbar sein und Formulierungen enthalten, die einem zufällig Mithörenden in keiner Weise auffallen, die aber niemand ausser den beiden Beteiligten kennen kann. Solche Dinge werden in der Ausbildung innerhalb der P-26 immer wieder geübt. Der Kursteilnehmer hat seine Erkennungssätze zusammen mit dem Aufgebot von seinem Vorgesetzten, dem sogenannten Regionschef, auf einem vorbereiteten Formular erhalten; er hat die Sätze sorgfältig auswendig gelernt und den Zettel danach vernichtet.
Die beiden Männer besteigen einen Wagen und fahren zum geheimen Festungswerk Schweizerhof hinauf, das eine der zentralen Ausbildungsanlagen der Organisation ist. Der Neue ist nicht der einzige Kursteilnehmer, aber er bezieht zuerst ein Einzelzimmer. Dort wird er, wie jeder Neue, per Videobotschaft vom amtierenden Generalstabschefs begrüsst, der ihm für sein Engagement dankt und betont, dass die Organisation zwar strikt geheim, aber Teil der Gesamtverteidigung der Schweiz sei.
Die Kurse im Schweizerhof finden in der Regel in kleinen Gruppen statt. Die Leute (weitgehend Männer, einige wenige Frauen) kennen sich nicht und wissen ausser ihren Decknamen nichts voneinander. Beim gemeinsamen Essen in der Anlage oder auch mal auswärts in einer Beiz spricht man über alles, nur nicht über sich selbst – das ist tabu. Nach drei oder vier Tagen gehen sie auseinander und sehen sich nie wieder.
Jeder P-26-Angehörige kannte damals nur einige wenige andere mit vollem Namen. Die Abschottung der Mitglieder in sogenannten Widerstandsregionen, und innerhalb dieser wiederum in speziellen Kleingruppen, war ein zentraler Punkt der Grundkonzeption der Geheimorganisation. Alles spielte sich innerhalb der einzelnen Region ab. Das wäre auch im Ernstfalleinsatz gegen eine Besatzungsmacht so gewesen. Jede Region oder Gruppe hätte für sich agiert, koordiniert per Kurzwellenfunk von einem öffentlich bekannten, vom Bundesrat gewählten Chef und dem Führungsstab, der sich wahrscheinlich im Ausland eingerichtet hätte. Die rund 400 Leute, die zur Zeit der Aufdeckung im Jahr 1990 als Aktive in der P-26 eingeteilt waren, hätten auch im Ernstfall nie zu einem Ganzen zusammengefunden, schon gar nicht für Kampfeinsätze. Die Widerstandsregionen hätten an geeigneten Orten innerhalb ihres Rayons versucht, der Besatzungsmacht mit «Nadelstichen» und spektakulären Aktionen, vom Flugblattregen bis zum gezielten Sabotageakt, landauf, landab klarzumachen: Die Schweiz gibt auch nach der Kapitulation der Armee und der erzwungenen Abdankung des Bundesrats nicht auf; es gibt Leute im ganzen Land, die den Widerstand mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln weiterführen. Diese Botschaft wäre vor allem auch an die eigene Bevölkerung gerichtet gewesen, um ihren Durchhaltewillen zu stärken. Man nennt das psychologische Kriegführung. Bewaffnete Aktionen in grösseren Gruppen, wie sie die französische Résistance durchführte, gehörten hingegen nie zum Konzept; dafür waren die P-26-Leute weder ausgebildet noch ausgerüstet. Die Widerstandsorganisation wäre im Besetzungsfall das letzte Mittel und der einzige noch aktive Informationskanal des wahrscheinlich im Exil weilenden Bundesrats gewesen.
DIE FICHEN-SCHWEIZ
In einer ruhigeren Zeit wäre die P-26 vielleicht so wahrgenommen worden, wie sie gemeint war. In der erhitzten Atmosphäre der Schweiz von 1990 indessen gewann ein ganz anderes Bild die Oberhand:
«Eine Geheimarmee im gesetzlosen Zustand, bar jeder politischen Kontrolle, hinter dem Rücken […] eines unwissenden und ahnungslosen Bundesrates. Eine Privatorganisation, finanziert aus öffentlichen Mitteln, mit zweckentfremdeten Geldern, mit missbrauchten Krediten, am Parlament vorbeigemogelt, mit einem Auftrag, der eben nicht allein – wie man uns jetzt weismachen will – dem noblen Widerstandsgedanken gegen einen Aggressor von aussen verpflichtet, sondern auch gegen den inneren Feind gerichtet war.»
So schilderte der damalige Thurgauer SP-Ständerat Thomas Onken seine weitherum geteilte Sicht der Dinge. So tönte es auch in vielen Medien. Der «Tages-Anzeiger» fasste den PUK-Bericht unmittelbar nach der Pressekonferenz zu seiner Veröffentlichung unter dem Titel «Geheim, gesetzlos, gefährlich» mit diesen Worten zusammen:
«Mehrere hundert Mann, fast zwei Bataillone stark, ausgerüstet mit Schnellfeuerwaffen, Zielfernrohrgewehren, Sprengstoff und Antitankraketen, übten jahrzehntelang in unserem Land heimlich den Widerstand, den Guerillakrieg, sogar den Staatsstreich.»
Wie kam es zu solchen Wahrnehmungen? Der Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK EMD) platzte im Herbst 1990 mitten in eine Zeit, in der die Schweizer Öffentlichkeit sich noch nicht erholt hatte vom Schock des Fichenskandals: Nach einer Geheimdienstaffäre und dem skandalumwitterten Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp war 1989 herausgekommen, dass rund 900 000 Schweizer und Ausländer in der Schweiz direkt oder indirekt von der Politischen Polizei des Bundes fichiert worden waren – ein unerhörter Vorgang, den eine erste parlamentarische Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des späteren Bundesrats Moritz Leuenberger ans Licht brachte. Bloss ein Jahr später berichtete eine zweite Parlamentarische Untersuchungskommission unter der Führung des Appenzeller CVP-Ständerats Carlo Schmid von der 400-köpfigen Geheimtruppe mit der Bezeichnung P-26 und überdies von einem nicht minder geheimen Nachrichtendienst namens P-27. Eine neue Schockwelle ging durch das Land. Viele Menschen rieben sich die Augen und verstanden ihre Schweiz nicht mehr: eine bewaffnete illegale Guerilla-Armee, die, so die PUK EMD, keiner politischen Kontrolle unterlag, in ihren Szenarien sogar das Wort «Umsturz» führte und die die verfassungsmässige Ordnung gefährdete? Unglaublich. Was mochten das nur für Leute sein, die sich freiwillig für so etwas hergaben? Forderungen wurden laut, die Mitgliederliste der P-26 zu veröffentlichen. Kurz nach der Aufdeckung schrieben einige Ostschweizer P-26-Angehörige an EMD-Chef Kaspar Villiger und forderten ihn auf, die Namen der Mitglieder keinesfalls zu veröffentlichen. Sie hatten Angst um ihr Ansehen und fürchteten sich vor beruflichen Nachteilen. Ihr Brief hat wohl die Gefühlslage vieler Ehemaliger ausgedrückt: «Nicht wenige von uns haben sowohl geschäftliche wie auch gesellschaftliche und politische Spitzenfunktionen inne», schrieben sie. «Es liegt nun auf der Hand, sollten unsere Namen bekannt werden, dass wir zum Teil existenziell gefährdet sind – und dies alles, weil wir über Jahre hinweg in unserer karg bemessenen Freizeit dem Vaterland einen Dienst erweisen wollten. Das darf doch nicht sein!» Vielleicht wären viele Zeitgenossen nachdenklich geworden, hätten sie damals um diesen Brief und die Identität der Briefschreiber gewusst: Der Brief war unterzeichnet von einem Geschäftsleitungsmitglied eines Chemieunternehmens, einem Schulratspräsidenten, einem Spitalverwalter und dem Direktor eines Stahlunternehmens – alle aus der Widerstandsregion Buchs. Villiger, der unter starkem politischem Druck stand und sich eine Veröffentlichung offenbar für einen Moment überlegt hatte, entschied zugunsten der Geheimhaltung. Er dankte den Ostschweizern für ihr Engagement und äusserte die Hoffnung, dass die «Kopfjagd» bald ein Ende finden möge.
Dass die im Brief der ehemaligen Mitglieder geäusserten Sorgen nicht unbegründet waren, zeigte die Debatte in der Öffentlichkeit. Äusserst harte Politiker- und Journalistenworte fielen damals. Dem SP-Präsidenten Helmut Hubacher entfuhr in der Hitze des parlamentarischen Gefechts das Wort vom «potenziellen Putschgeneral»: Gemeint war der ehemalige Generalstabschef Jörg Zumstein. Der als Beirat des ebenfalls streng geheimen Nachrichtendienstes P-27 enttarnte Baselbieter SP-Regierungsrat, Bankrat der Nationalbank und Oberst Edi Belser musste sich von einem Parlamentarier der Grünen «terroristische Unterwanderung unseres Staatswesens» vorwerfen lassen. Der Zürcher Sozialdemokrat Sepp Stappung, enttarnt als Beirat der P-26, wurde von seiner Partei im ersten Moment ebenfalls massiv kritisiert. Auch in bürgerlichen Kreisen herrschten zumindest Verunsicherung und Unzufriedenheit über die fehlende politische Kontrolle, auch wenn etliche Exponenten die geheimen Vorbereitungen als sinnvoll und legitim verteidigten. Die Medien transportierten die Empörung über die Schlussfolgerungen der PUK EMD mindestens im ersten Durchgang fast unisono, denn die Darstellungen der Kommission erschienen im Lichte der damaligen Ereignisse als durchaus plausibel.
Die P-26 wurde angesichts des PUK-Berichts vom Bundesrat unter dem Applaus aller politischen Lager sofort aufgelöst. Der Brief einiger Ehemaliger aus dem St. Galler Rheintal bildete die einzige schriftliche Reaktion aus den Reihen der P-26-Mitglieder. Die anderen schwiegen. Einige von ihnen liessen sich aufgrund der vielen negativen Veröffentlichungen verunsichern und begannen nachträglich zu zweifeln, ob ihr Engagement richtig gewesen war – sie hatten schliesslich nicht alles über die Widerstandsorganisation gewusst, sondern jeweils immer nur das, was sie für ihren individuellen Auftrag wissen mussten. Und das war in der Regel ganz wenig. Auch dies gehörte zum Konzept und zur Sicherheit.
Die beiden einzigen P-26-Köpfe, die damals von findigen Journalisten enttarnt worden waren, mussten den Mund halten: Efrem Cattelan alias Rico und Propagandachef Hans-Rudolf Strasser alias Franz. Strasser war im Zivilberuf Informationschef des Eidgenössischen Militärdepartements EMD unter Kaspar Villiger, welcher, überrumpelt und konsterniert, seinen engsten Mitarbeiter nach der Enttarnung auf der Stelle feuerte. Cattelan trat zwar nach der Enttarnung zusammen mit dem früheren Generalstabschef Hans Senn und dem früheren Chef der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA) des Eidgenössischen Militärdepartements, Richard Ochsner, an einer Pressekonferenz auf, aber seine Botschaft fand in der fiebrigen politischen Atmosphäre von 1990 wenig Gehör – übrigens auch beim Verfasser dieses Buches nicht. Das ist Geschichte. Seither ist es still geworden um die «Geheimarmee». Die Zeit ist reif, die wirkliche P-26 darzustellen.
KALTER KRIEG UND BEDROHUNGSBILD
In der Atmosphäre von 1990 ging noch etwas anderes fast gänzlich unter: die historischen Voraussetzungen der schweizerischen Widerstandsvorbereitungen. Vom Kalten Krieg mochte man schon 1990 am liebsten gar nichts mehr hören:
«Es fällt uns allgemein schwer, uns heute, erst ein paar Jahre nach Beendigung des Kalten Krieges, vorzustellen, dass der Kommunismus bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrzehnts immer noch die Weltherrschaft anstrebte. Die im Osten immer grösseren und weiter reichenden Raketen, Flugzeuge und Panzer liessen noch vor ein paar Jahren vielen Westeuropäern einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagen.»
Diese Worte äusserte im November 1990 ein bürgerlicher Sprecher im Ständerat, als es um den Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission PUK EMD zur P-26 ging und die Kritik auf die Organisation niederprasselte. Was er damit sagen wollte: Der Kalte Krieg als historischer Hintergrund der Widerstandsvorbereitungen und damit auch der P-26-Entstehung wurde damals bei der Beurteilung der Widerstandsorganisation fast gar nicht thematisiert. Der Kalte Krieg war vorbei.
Heute fällt es erst recht schwer, sich zurückzuversetzen in die Atmosphäre des Ost-West-Konflikts, der auch die innenpolitischen Auseinandersetzungen in unserem Land prägte; weit entfernt scheint die Zeit des Eisernen Vorhangs mitten durch Europa, die Epoche der beängstigenden Rüstungsspirale in der Welt, die Emotionen des Antikommunismus und der Subversionsangst in der Schweiz. Kalter Krieg: Das bedeutete in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die ideologische Konfrontation der beiden weltumspannenden Machtblöcke in einer «bipolaren Welt», die nach landläufiger Wahrnehmung sauber eingeteilt war in Gut und Böse: Gut war der von den USA angeführte Westen, böse der von der Sowjetunion mit eiserner Hand dirigierte Ostblock. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig aggressiver Absichten. Die Konfrontation artete in einen alle Lebensbereiche umfassenden Wettkampf der Systeme aus – politisch, wirtschaftlich, technisch, militärisch, wissenschaftlich, kulturell. Auch in besonders prestigeträchtigen Bereichen wie dem Sport oder der Raumfahrt versuchten die Parteien zu glänzen. Beide Blöcke rüsteten massiv auf, vor allem nuklear: Riesige atomare Arsenale auf beiden Seiten hielten das «Gleichgewicht des Schreckens» aufrecht, das gegenseitige In-Schach-Halten galt am ehesten als Schutz vor dem Untergang der Welt. Mehr als einmal drohte dieses «Gleichgewicht» zu kippen, vor allem in der Kubakrise von 1963. Über die «heissen» Kriege – Korea, Vietnam, Afghanistan – hinaus kam es in vielen Ländern der Dritten Welt immer wieder zu «Stellvertreterkriegen», in welchen die beiden Grossmächte versuchten, machtpolitischen und strategischen Einfluss in einer bestimmten Gegend zu erringen oder zu erhalten. Es war die Zeit, als der Kreml überall in der Welt marxistisch orientierte Regimes und Bewegungen unterstützte und die USA zum Teil auch anrüchigsten Regimes unter die Arme griffen – Hauptsache, sie traten der Verbreitung des Kommunismus entgegen.
Die Schweiz war zwar politisch neutral, kulturell, wirtschaftlich und ideologisch jedoch klar in den westlichen Block eingebunden. Die Ansicht, dass der Westen sich gegen sowjetische Eroberungsabsichten verteidigen müsse, war lange Zeit unbestritten. Dem Grossteil der Bevölkerung war eine grundsätzlich antikommunistische Haltung eigen. «Die Russen» waren das Feindbild schlechthin, die «rote Gefahr» war in sehr vielen Köpfen latent präsent. Deshalb stand die politische Linke in der Schweiz nicht selten unter dem Verdacht, der Diktatur in der Sowjetunion, deren aggressiven Äusserungen und den Waffenarsenalen der Warschauer-Pakt-Staaten allzu wohlwollend gegenüberzustehen oder, noch viel schlimmer, dem Feind indirekt oder direkt in die Hände zu arbeiten. Der kommunistischen Partei der Arbeit und ihren Unterstützern traute man in Sachen Subversion alles zu. Mit grossem Misstrauen wurde verfolgt, wie etwa Schweizer Sozialdemokraten in Moskau auftraten oder eine Grussadresse an die DDR-Führung abgaben. Kritikern von Zuständen im eigenen Land schallte reflexartig der Ruf entgegen: «Geh doch nach Moskau!» Bundesrat Rudolf Gnägi sprach einmal von den «Kräften der Verneinung» und meinte damit neben den Linken vor allem kritische Intellektuelle, Pazifisten, Zivildienst-Befürworter, kurz: die Achtundsechziger. Wenn Kritiker der schweizerischen Aufrüstung oder der amerikanischen Vietnampolitik den Spruch «lieber rot als tot» erwähnten, galt dies wehrhaften Schweizern als Inbegriff des Defaitismus.
Diffamierende Pauschalisierungen fehlten natürlich auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums nicht. Wer sich klar gegen die Sowjets und ihre Ideologie aussprach und einer glaubwürdigen militärischen Landesverteidigung das Wort redete, sah sich rasch einmal als «Kalter Krieger» in die Ecke gestellt, als «Betonkopf» und «Sozialistenfresser» verhöhnt. Diese Leute würden die Gefahr aus dem Osten herbeireden, um von Missständen im eigenen Land abzulenken und ihre eigene Vorherrschaft zu sichern, lautete oftmals der Tenor von links. Die Gefahren aus dem Osten wurden relativiert oder als Angstmacherei kleingeredet. Das erschwerte auch die Diskussionen um Armeeleitbilder und Rüstungsprogramme im eigenen Land. Der ideologische Graben zwischen bürgerlich-konservativen und eher linken und progressiven Kreisen hat die politische Atmosphäre des Landes während Jahrzehnten geprägt und ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und Missverstehens gefördert. «Es gibt Leute, die in einer harmlosen Konsumgenossenschaft ein bolschewistisches Verschwörernest wittern», schrieb Jean Rudolf von Salis im Jahr 1968. Auf beiden Seiten haben die Auswüchse dieses Misstrauens Spuren hinterlassen. Das jeweilige Feindbild, durch die Blöcke des «aggressiven Sowjetkommunismus» und des «imperialistisch-kapitalistischen» Westens scheinbar in Stein gemeisselt, blieb bis in die 1980er-Jahre bestimmend. Dem jeweiligen Gegner traute man stets nur üble Absichten zu. Die in den 1980er-Jahren beginnende internationale Entspannungspolitik wurde in der Schweiz oft mit Misstrauen verfolgt, denn viele hielten die «Friedens-Schalmeien» der Russen für blosse Ablenkungsmanöver.
Dies alles heisst nicht, dass die Schweizerinnen und Schweizer in jenen Jahrzehnten konkrete Angst vor einem baldigen sowjetischen Angriff auf Westeuropa und damit wohl auch auf die Schweiz gehabt hätten – aber ausschliessen wollte man diesen keinesfalls. Dinge wie der regelmässige behördliche Aufruf an die Bevölkerung, für den Fall der Fälle stets einen Notvorrat an Grundnahrungsmitteln bereitzuhalten, nährten das latente Gefühl der Bedrohung und sorgten gleichzeitig immer wieder für Gelächter. Dagegen bestand kein Zweifel daran, dass die östliche Spionage auch in der Schweiz sehr aktiv war: Die Statistik der schweizerischen Spionageabwehr verzeichnete in der Zeit zwischen 1948 und 1989 insgesamt 205 aufgedeckte Fälle von östlicher Spionage, zugleich deren 97 mit Agenten aus westlichen, das heisst befreundeten Ländern.
Vor allem die Niederschlagung des Ungarnaufstandes von 1956 und des Prager Frühlings von 1968 durch die sowjetischen Panzer verstärkte das Bild von der aggressiven Machtpolitik des Kremls als Hauptgefahr für den Weltfrieden. In beiden Fällen ging eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft durch die Schweiz. 1968 wehten wochenlang tschechoslowakische Fahnen auf öffentlichen Gebäuden. Auch gegenüber den Flüchtlingen aus Vietnam, den «Boat People», und den Flüchtlingen aus Tibet nach der Besetzung durch China erwies sich die Schweiz als hilfsbereit, nach dem Motto «der Feind meines Feindes ist mein Freund». Die Schweizer Bevölkerung zeigte Flagge: Man war keineswegs «gesinnungsneutral».
Die Überlegungen der schweizerischen Armeeführung im Hinblick auf einen möglichen Angriff aus dem Osten fanden deshalb nicht im luftleeren Raum statt, sondern stimmten mit dem Empfinden weiter Bevölkerungsteile überein. Man durfte es in der neutralen Schweiz zwar nicht zu laut und offiziell sagen, aber in den taktischen Lagen der Armeemanöver zur Zeit des Kalten Kriegs waren «der Kommunismus», das heisst die Sowjetunion und der Warschauer Pakt, allgegenwärtig, und zwar in Form der «roten Pfeile» auf den Lagekarten, die immer aus dem Osten kamen. Bisweilen erfolgten die hypothetischen Angriffe auch von Süden oder Westen, dann aber immer unter Annahme eines kommunistisch inspirierten Umsturzes oder von Unruhen in einem Nachbarland. Gelangten Details einer solchen Übungsannahme an die Öffentlichkeit, was nicht selten geschah, kam es zu diplomatischen Verstimmungen und Auseinandersetzungen mit namentlich genannten Nachbarländern.