Seine Kunst zu zögern. Elf Versuche zu Robert Walser

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Jürgens

Seine Kunst zu zögern


Essay 12

Martin Jürgens

Seine Kunst zu zögern

Elf Versuche zu Robert Walser


© 2006 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Claudia Rüthschilling

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net

ISBN 978-3-938568-46-0

Inhalt

Vorwort

1 Robert Walser (1975)

2 Die späte Prosa Robert Walsers – ein Krankheitssymptom? (1975)

3 Die Erfahrung der Heteronomie in der späten Prosa Robert Walsers (1978)

4 Ein Lebenslauf als anhaltendes Dementi. Zu einem bodenlosen Kunststück von Robert Walser (1986)

5 »daß man ihn von nun an kenne und grüße« – Zu Robert Walsers »Räuber«-Roman (1987)

6 Anhaltende Zopfzeit. Über meine Großmutter, einen Text von Robert Walser und Lenin (1987)

7 Fern jeder Gattung, nah bei Thun. Über das mimetische Vermögen der Sprache Robert Walsers am Beispiel von »Kleist in Thun« (1991)

8 » so schön beiseit.« Zum Tod des schweizer Schriftstellers Robert Walser (1996)

9 Leichtgewichte, zarte Helden. Zum Erscheinen unbekannter Texte von Robert Walser (2003)

10 Die Aufgabe der Identität. Robert Walsers Helden (2004)

11 »Als ob, als wär‹« – zu einigen Paradiesbildern bei Walser und Kleist (2005)

Bibliographische Hinweise

RÜCKBLICKE. Vorwort

Es war Zufall, wie es scheint. ›Eigentlich‹ hätte es Alfred Döblin werden sollen – mit seinem Roman »Wallenstein« von 1920, kiloschwer, 739 Seiten lang und schon auf den ersten Seiten mit der lebensprallen Schilderung eines gewaltigen Gelages: das Ganze eine Buch gewordene Opulenz, ein ausschweifender Sprachkatarakt, ohne Zweifel mitreißend.

Wer seit der Kindheit eine Scheu vor Kraftakten hat, vor Sport überhaupt, den mußte das abschrecken, trotz des gut gemeinten Wunsches des Doktorvaters. Daß es aber unversehens Robert Walser werden konnte, lag an der kaum bemerkbaren Anwesenheit des weiß eingeschlagenen Bändchens »Prosa« – eine Auswahl von Walter Höllerer – im chronologisch geordneten Bücherregal. Warum schlug ich es auf, irgendwann in einem Sommer gegen Ende der sechziger Jahre? War es die Langeweile der meist verregneten, glockendurchläuteten Sonntagvormittage in Münster? War es eine Erwähnung des Robert Walser seitens der Tante »Zeit«, deren Feuilleton damals zur Pflichtlektüre für Germanisten gehörte? Wenn man sich nicht erinnern kann, sagt man leichthin »Es fiel mir einfach in die Hände«, meint aber nicht ›irgendwie‹. Man zieht sich seine Lieblingsautoren nicht zu wie den Schnupfen oder einen Lebensabschnittsbegleiter. Wenn etwas wichtig war und geblieben ist, glauben wir nicht gern an den Zufall – eher daran, daß uns etwas zugefallen sei, was für uns bestimmt war. Bestimmt: Das ist magisches Denken, aber vielleicht eines der helleren Art. In ihm ist die interne Vernunft unserer Beziehungen angesprochen (zu Menschen, Büchern, Bildern, Landschaften), also das, was uns so anspricht, daß es uns zum Reden bringt.

Das kann lange anhalten, in meinem Falle mittlerweile über dreißig Jahre. Elf Ergebnisse der in jenem Sommer beginnenden Beschäftigung mit Robert Walser finden sich in diesem Buch. Schon die Beiträge aus den siebziger Jahren kreisen immer erneut um das Problem, wie die »Sonderart Walser« zu benennen sei, die – so Robert Musil – nicht geeignet ist, »einer literarischen Gattung vorzustehen« – ein Umstand, der das literaturwissenschaftliche Handwerkszeug so strapazieren kann, daß zunächst nur negative Merkmalsbestimmungen möglich sind: Es ist auf den ersten Blick das völlige Desinteresse, die Welt vor Augen zu stellen, sie abzuschildern, plastisch erzählend hinzulangen. (Die literarischen Preisboxer dieses Genres wegelagern heute zuhauf in den Eingangszonen der Großbuchhandlungen, neben der Esoterik und den Kochbüchern.) Bei Walser dagegen: Nichts, was einen anspringt, mitreißt und nicht mehr losläßt, sondern der sanfte Sog einer fortgesetzten Rede in eigener Sache, eine Prosa, die den Leser bei Atem läßt, ihm Raum bietet, jetzt brüchig, dann mutwillig sprunghaft, oft verwirrt und untröstlich. Der suggestive Satz Walter Benjamins auf der Rückseite des weißen Buchs, den ich in Verdacht habe, mitverantwortlich dafür zu sein, daß es anfing, formuliert es so: »Walsers Figuren kommen aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig.«

Es hatte bis zum Ende der sechziger Jahre schon genügend Lektionen in Melancholie gegeben, die ich nicht hatte vermeiden können – vom eisernen familiären Beschweigen des deutschen Faschismus bis zur Ohnmacht angesichts des Krieges der USA gegen Vietnam; es reichte jedenfalls, daß ich mir in der Nähe der walserschen Figuren ›ein freundlich Asyl‹ imaginieren mochte – sicher mit weniger Recht als ich damals meinte beanspruchen zu können.

Gleichviel: Die Sache, das Promotionsprojekt, kam auf den Weg, Döblins »Wallenstein« war vergessen, der Doktorvater (Wolfdietrich Rasch) zeigte sich weiterhin von seiner freundlich-großzügigen Seite, und ein DAAD-Stipendium ermöglichte mehrmonatiges Arbeiten an Walsers Nachlaß in Zürich.

Dort lernte ich Jochen Greven, den Herausgeber der Werke Walsers kennen und damit eine mir bisher unbekannte Haltung verbindlichen Arbeitens – eine Mischung aus unbeirrter Freundlichkeit, geduldiger Strenge und wachem Zweifel an der Stimmigkeit und Gültigkeit des Erreichten. Dies zeigte sich eindrucksvoll in den überaus detailfreudigen Diskussionen zur ersten Publikation des »Räuber« – Romans, an dessen Entzifferung Jochen Greven mich beteiligt hatte. (Im fünften Beitrag dieses Buchs findet sich hierzu Näheres.) Für Robert Walsers posthume ›Karriere‹, seinen Aufstieg vom Außenseiter zum Klassiker1, für diese noch in den siebziger Jahren nicht erwartbare Entwicklung kann die Rolle Jochen Grevens kaum überschätzt werden. Hätte es ihn und seine Beharrlichkeit nicht gegeben (wenn dies Gedankenexperiment denn gestattet ist), wäre Robert Walser mit einiger Sicherheit das verwilderte literarische Grab geblieben, dessen letzte dilettantische Pflege Sache des wohlmeinenden Carl Seelig geblieben wäre, bis das Gras des Literaturmarktes darüber gewachsen wäre. Spekulative Erwägungen wie diese führen natürlich zu nichts Handfestem, wohl aber zu einer Ahnung davon, mit welcher Lebensleistung wir es hier zu tun haben.

Es waren jedoch nicht nur die Texte Walsers, die während der und seit den Monaten in Zürich ihre Wirkung entfalteten, sondern auch seine Biographie, sein langer Weg abwärts, vor allem der Vorgang der Einweisung in die Psychiatrie und die Jahre bis zu seinem Tod im Schnee am ersten Weihnachtstag 1956: Diese fürsorgliche Roheit der Ärzte, das Reibungslose der bürokratischen Prozesse, die in das Gleichmaß der Tage in Herisau einmündeten, mit dem Abwaschen der Tische, dem Falzen der Papiersäcke, dem Sortieren von Altpapier. All das war für mich empörend, seit ich in Zürich die damals zugänglichen einschlägigen Materialien einsehen konnte (vgl. den zweiten Beitrag in diesem Buch); diese Empörung hält bis heute an, dies wohl deshalb, weil Walser der stummen gesellschaftlichen Gewalt (fast) nichts entgegensetzte als geduldiges Einverständnis. Die von Urs Widmer schon vor über 20 Jahren gestellte Frage, ob das denn »immer der Preis sein« müsse: »ein schönes Werk, auf Kosten eines schönen Lebens« bleibt unbeantwortbar, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse – von Marx die Vorgeschichte der Menschheit genannt – sich gleich bleiben. Träfe das auch für uns in der Zeit unseres Lebens zu, hätten wir Grund, mit Herrn Keuner zu erbleichen.

In jedem Fall ist es eine Erfahrung sehr eigener Art, eigene Texte nach langer Zeit wieder zu lesen. Je näher man hinsieht, um so fremder blickt das geschriebene Eigene über die zeitliche Distanz hinweg zurück. So geht es mir mit den Buch- und Zeitschriftenbeiträgen aus dem Umkreis der 1973 erschienenen Dissertation (»Robert Walser. Die Krise der Darstellbarkeit. Untersuchungen zur Prosa«). Resümierend heißt es da zum Beispiel: »Dieses auf Grund seines in sich antagonistischen Charakters immer gefährdete Selbstverständnis versucht die walsersche Spätprosa in immer neuen fragmenthaften Entwürfen zur Rekonstruktion einer auf Subjektivität bestehenden künstlerisch-literarischen Identität zu behaupten. Dem Ich, das sich in ihr artikuliert, geht es noch im illusionslosen Aufweis seiner eigenen Entfremdung um deren Aufhebung im Prozeß ästhetischer, literarischer Arbeit.«

 

Das war und ist nicht falsch (wenn auch nicht genau genug wahr), hat aber teil am Jargon literaturwissenschaftlicher Eigennützigkeit: Verbales Radschlagen in Beeindruckungsabsicht, zivilisiertes Wüten leicht angestrengter Begrifflichkeit, bisweilen unterbrochen von den Signalements der Selbstreflexivität, kurz alle Male des (damaligen) Germanistischen finden sich auf engem Raum beieinander. Dabei hätte man schon damals die schöne Forderung Hans Magnus Enzensbergers, das Germanistische ins Deutsche zu übersetzen, zumindest in Erwägung ziehen können. Einiges allerdings scheint mir im Laufe der achtziger Jahre klarer geworden zu sein; der in den geisteswissenschaftlichen Sektoren des akademischen Betriebs favorisierte Durchschnittstypus erschien mir immer mehr als ein artikulationsschwaches humanoides Amalgam aus Anmaßung und Borniertheit. Nie werde ich die Auslassung eines sehr zu Unrecht im Aufstieg befindlichen Germanisten vergessen, der sich während des Walser-Kolloquiums in Rom (1985) erhob und aufgeregt seine Pikiertheit zur Schau stellte. Er bezog sich auf die Schlußpassage meines Referats zum »Räuber«-Roman, in der es um die Aussichten des walserschen Helden, des ›Trappis‹, des ›Herzkäfers, erzdumm‹, des ›Schnori‹ in der gesellschaftlichen Kälte des ausgehenden 20. Jahrhunderts ging:

Unabsehbar ist, wann er das »Gewissen aller Völker« sein wird; bis dahin wird er die »allgemeine Nonchalance« bleiben; vor deren radikaler Sanftheit hätte sich die Wissenschaft – wie Canetti angeregt hat – zu schämen, statt sie mit vergleichenden Kraftakten zu den Höhenzügen der literarischen Moderne emporzuwuchten.

Eben weil und seit – so der Fachvertreter – die Literaturwissenschaft festgestellt habe, von welchem Rang Walser sei, habe man ihn (er sprach von »wir«) ›in den Olymp‹ der Moderne ›aufnehmen‹ können. Der beamtete Schnösel, sitzend zur Rechten der Olympier, den armen Walser zur eigenen Höhe emporhebend: Solch ungerührte Schamlosigkeit muß Elias Canetti vor Augen gestanden haben, als er in seinen »Aufzeichnungen zu Robert Walser« schrieb:

»Ich kann nur in den untern Regionen atmen.« Dieser Satz von Robert Walser wäre das Losungswort der Dichter. Aber die Höflinge sagen ihn nicht und die Ruhm gewonnen haben, wagen es nicht mehr, ihn zu denken. »Könnten Sie nicht ein wenig vergessen, berühmt zu sein?« sagte er zu Hofmannsthal, und niemand hat das Peinliche an den Oberen kraftvoller bezeichnet.

Ich frage mich, ob es unter denen, die ihr gemächliches, sicheres, schnurgerades akademisches Leben auf das eines Dichters bauen, der in Elend und Verzweiflung gelebt hat, einen gibt, der sich schämt.

Läßt man diese Frage im Ernst an sich heran, ist es mit dem Gemächlichen, Sicheren, Schnurgeraden des Arbeitens und Schreibens irgendwann vorbei: Die fortgesetzte Subsumtion der Gegenstände unter das zuhandene begriffliche Instrumentarium wird zum peinlichen Problem – erst recht dann, wenn ein Autor sich so provokativ, ja destruktiv gegenüber Begriffen und Gattungsnamen verhält, wie es Robert Walser tut. Beobachtungen hierzu standen am Anfang eines 1991 unternommenen Versuchs, eine andere Haltung zu erproben, im Anschluß an den Begriff von Mimesis, wie er sich in der »Dialektik der Aufklärung« findet:

Alles käme darauf an, eine Haltung zu versuchen, die definitorische Kraftakte vermeidet und doch an Theorie, also an der Bewegung des Denkens, interessiert bleibt. Eine solche Haltung und ein solches Denken hätten Perspektiven herzustellen – so eine anspruchsvolle Formulierung Adornos – ohne »Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus«. Für eine solche Praxis gibt es in Adornos und Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« einen emphatischen Begriff, den der Mimesis – jenseits nachschlagbarer Wortbedeutungen und auch jenseits von mehr oder minder parteilichen Abbild – und / oder Realismustheorien.

Ich schlage vor, den höchst diskontinuierlichen und richtungsinkonstanten Bewegungsmodus der walserschen Prosa als den eines solchen mimetischen Verhaltens aufzufassen. Das Verhältnis, das man so zu Walsers Texten unterhalten könnte, hätte – wenn es denn möglich ist – von diesem Verhalten sich anleiten zu lassen.

Ob und inwieweit und mit welchen Folgen und Nebenwirkungen das ge- oder mißlungen ist, ist – so hoffe ich – den Texten abzulesen, die in den neunziger Jahren und danach geschrieben wurden. So wie in ihnen die vor Jahrzehnten erworbene germanistische Identität hoffentlich verabschiedet ist, ist auch die Vorstellung aufgegeben, die Entwicklung von Identität sei ein Ziel, das das Ich der walserschen Prosa verfolge. Wenn es (wie zitiert) im ersten Text dieses Buches heißt, es gehe ›um die ›Rekonstruktion einer künstlerisch-literarischen Identität‹, Identität damit als eine Aufgabe gefaßt ist, die ansteht, behauptet der Aufsatz von 2004, Walsers Helden sei »die Identität nicht aufgegeben wie ein Pensum« und »im Aufgeben von Identität« seien sie vorbildlich. In der Tat: Solche Radikalität sucht ihresgleichen damals wie heute vergebens. Behende führen Walsers ›Helden‹ uns weg von jeder festgefügten Identität, von Ich-Botschaften, von Botschaften überhaupt und hin zum Entzücken vor der flüchtigen Einzelheit. Sie wissen nicht, wo es lang geht, bauen kann man auf sie nicht; erst recht ist mit ihnen kein Staat zu machen. Das macht ihre Größe aus und unser Glück beim Lesen von Sätzen wie: »Sein Lächeln glich einer Blume, die nach dem Bedürfnis und der Kunst zu zögern, duftete.« Diesem Satz verdankt sich der Titel des Buches: Seine Kunst zu zögern.

Abschließend ohne zu zögern einige nüchterne Mitteilungen zu den nachfolgenden Texten aus 30 Jahren und einige natürlich nicht nüchterne Danksagungen: Die Reihenfolge der Texte entspricht der Chronologie ihrer Publikation bzw. Entstehung (beim vierten und elften Text, die unveröffentlicht sind). Einige wenige Passagen wurden leicht überarbeitet. Textüberschneidungen wurden in Kauf genommen; Aufsatz und Essay-Sammlungen werden meist selektiv und diskontinuierlich gelesen, so daß Überschneidungen erträglich sein sollten.

Bei der Herstellung des Gesamtmanuskripts und bei den Korrekturen haben Petra Moser und Michael Billmann sehr geholfen: Herzlichen Dank! Für einen guten Rat ebenso herzlichen Dank an Hermann Kinder! Dank dem Verlag für kompetente und zügige Arbeit!

1 s. Jochen Greven: Robert Walser – ein Außenseiter wird zum Klassiker. Abenteuer einer Wiederentdeckung. Lengwil: Libelle 2003.

ROBERT WALSER

1

Es empfiehlt sich kaum, so zu tun, als wisse man über ihn Bescheid: »Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.« (III, 406) Mit dieser Absage an das Verständnis der anderen ist die Rolle genannt, in der Robert Walser sich sah – genauer: sich zu sehen veranlaßt war. Es ist die Rolle des Unbekannten, dem und dessen Texten gegenüber nicht zuletzt die Selbstsicherheit des interpretierenden Zugriffs zweifelhaft erscheint. Diese Feststellung eröffnet jedoch nicht den Weg, Walser und sein Werk ohne Umstände jenem Begriff der literarischen Moderne zu subsumieren, der seine Legitimität immer erneut aus der Apologie des autonomen Status der jeweils zur Rede stehenden literarischen Struktur herzuleiten sucht.1 Das Dunkle, Nicht-Kommensurable, das sich dem Anspruch der Normalität und dem von ihr bestimmten Verstehenshorizont Entziehende – diese Formeln, die zur Benennung der Strukturmerkmale der literarischen Modeme immer noch Verwendung finden, lassen sich mit Hilfe der Texte Robert Walsers nicht zu positiven Kategorien erheben. Der sich jede allgemein verbindliche Perspektive versagenden Negativität der Moderne läßt sich hier so wenig an avantgardehafter Suggestivität ablesen, wie diesem Autor selbst sein Außenseitertum als Qualitätsausweis zugute kam.

Sein Autismus fand nicht zur Extravaganz; in literarischen Salons war er schlecht vorzuzeigen. Seine im Laufe seines Lebens zunehmende gesellschaftliche Isolierung geriet nie in eine Form, die sie gesellschaftlich interessant und verfügbar gemacht hätte. Nicht einmal auf den Achtungserfolg hat er sich verstanden, nicht als Schriftsteller, nicht als bürgerliches Individuum, als das er sich zu geben suchte, solange es ihm erlaubt wurde, d. h. bis zu seiner endgültigen Internierung in einer Appenzeller Nervenheilanstalt (1933). Die zum Teil enthusiastische Anerkennung, die seinem Werk von Autoren wie Musil, Benjamin, Morgenstern, Hesse, Kafka gezollt wurde, münzte sich nicht in öffentliche Wirkung und in Auflagenzahlen um; er blieb der Anonymus unter den Schriftstellern seiner Zeit.

Daran hat sich bis heute [1975!] wenig geändert. Obwohl der Nachruhm, der vor einigen Jahren einsetzte, nicht mehr einem ›Literaturgerücht‹, einem ›verwilderten literarischen Grab‹ gilt, wie Martin Walser noch 1964 mit Recht schreiben konnte2, ist Robert Walser doch ein literarischer Geheimtip geblieben – für eine kleine Lesergemeinde und für Promovierende im Fach Germanistik. Seine Aufnahme in einen Kreis mit dem Namen »Deutsche Dichter der Moderne« entspricht der Bedeutung, nicht einer breiten Wirkung seiner Texte. Für einen solchen Vorgang hätte er im übrigen seine Ironie parat gehabt; sie hätte nicht zuletzt dem Glauben an die Wichtigkeit von Literatur gegolten.

2

Robert Walser wird als zweitjüngstes von acht Kindern in Biel im Kanton Bern geboren, am 15. April 1878. Im selben Jahr verlegt der Vater sein Papeterie- und Spielwarengeschäft aus der Nidaugasse im Zentrum der Stadt ins Neuquartier; der soziale Abstieg der Familie Walser kündigt sich an. Biel befindet sich – auf der ökonomischen Basis einer entstehenden Uhrenindustrie – in einer Phase rascher Prosperität und Expansion, der der gelernte Buchbinder und kleine Ladenbesitzer Walser wirtschaftlich nicht gewachsen ist. Auch das neueröffnete Geschäft muß schließlich aufgegeben werden; der Vater fängt einen bescheidenen Handel mit Wein und Olivenöl an; die Familie hat gerade ihr Auskommen. An eine Gymnasialausbildung für den jüngsten Sohn ist unter solchen Umständen nicht zu denken. Robert Walser verläßt vierzehnjährig das Progymnasium und fängt eine Lehre bei der Bieler Kantonalbank an. Zum ersten Mal ist er der Subalterne, der kleine Commis, der Gehilfe; zum ersten Mal macht er die Erfahrung, die später das Bewußtsein seiner kleinbürgerlichen Protagonisten in hohem Maße bestimmen wird: die einer immergleichen, fremdbestimmten und entfremdenden Arbeit.

Ihrer Wirkung hat sich Walser in seiner Jugend durch immer erneuten Wechsel des Arbeitsplatzes zu entziehen versucht. Noch vor dem Ende seiner Lehrzeit geht er nach Basel (1895) und nimmt eine Stellung als Bankangestellter an. Es folgen in den nächsten Jahren in raschem Wechsel Anstellungen zunächst in Stuttgart (1895/96), dann in Zürich (1896-1904). Als Bildungsweg eines angehenden Dichters, der die Welt (im Wortsinne) erfährt, sie sich nach und nach aneignet, sind diese Lehr- und Wanderjahre nicht zu schildern. Ihre Stationen tragen die Namen von Banken und Versicherungsgesellschaften, von Verlagen, von Industrieunternehmen: Bank- und Speditionsgesellschaft Speyr & Co in Basel, Deutsche Verlagsanstalt und Verlag Cotta in Stuttgart, Maschinenfabrik Oerlikon, Schweizerische Kreditanstalt, Zürcher Kantonalbank, Maschinenfabrik Escher-Wyss in Zürich. Gegen diese Namen und den »Kommerzialisiertheitsinbegriff« (X, 432), den sie insgesamt ausmachen, kommt die Evokation der Natur als Ort befriedeten Daseins und gelungener Identität nicht an. Diese Erfahrung findet sich in den frühen Gedichten Robert Walsers, der in Zürich zu schreiben beginnt, artikuliert. Der Mond scheint in ihnen nicht mehr auf den einsamen Poeten; er blickt hinein ins Kontor einer Zürcher Bank oder einer Zürcher Fabrik und sieht neben anderen kleinen Angestellten den, der ein Dichter werden will – sieht ihn »als armen Kommis / schmachten unter dem strengen Blick / meines Prinzipals. / Ich kratze verlegen am Hals«. (XI, 7) – Dieser verlegenen Geste »unter dem strengen Blick« entspricht die Verlegenheit, die der Reim in den zitierten Zeilen auslöst. Was auf den ersten strengen Blick als ein Zeichen der Ungeschicklichkeit des noch Ungeübten erscheinen mag, erweist sich als Signal dafür, daß der poetischen Subjektivität der Zugang zu einem ihrer vormals geliebten Gegenstände versagt ist. Fremdbestimmte Arbeit, das Realitätsprinzip der Kontore und ihrer Prinzipale und Poetenexistenz schließen sich aus. Mehr noch: Die aus der Heteronomie des Arbeitsprozesses resultierende Entfremdung geht in die Struktur der ästhetischen Wahrnehmung selbst ein. So tritt z. B. in dem frühen Gedicht »Ein Landschäftchen« (wahrscheinlich das erste von Walser geschriebene Gedicht überhaupt)3 an die Stelle einer Vergegenwärtigung naturhafter Totalität die Aufreihung voneinander isolierter Gegenstände und Gegenstandsfragmente; die Verfahrensweise der Buchhaltung und der Registratur wird zur Demonstration des Verlusts eines Sinn-, ja sogar eines sinnlichen Zusammenhangs:

 

Ein Landschäftchen

Dort steht ein Bäumlein im Wiesengrund

und noch viele artige Bäumlein dazu.

Ein Blättlein friert im frostigen Wind

und noch viele einzelne Blättlein dazu.

Ein Häuflein Schnee schimmert an Baches Rand

und noch viele weiße Häuflein dazu.

Ein Spitzlein Berg lacht in den Grund hinein

und noch viele schuftige Spitze dazu.

Und in dem allen der Teufel steht

und noch viele arme Teufel dazu.

Ein Englein kehrt ab sein weinend Gesicht

und alle Engel des Himmels dazu. (XI, 20)

Was der Titel als ein lyrisch-idyllisches Landschaftsbild ankündigt, erweist der Text als nicht mehr herstellbar. Die asyndetische Aufreihung von Teilaspekten bringt Natur nicht mehr als ein Paradigma gegebener und dem ästhetischen Bewußtsein zuhandener Ordnung zur Anschauung; sie stellt sie vielmehr unter das Zeichen des im wörtlichen Sinne Asyndetischen, des Unverbundenen. Nach dem – wie es Lothar Baier genannt hat – »Kehraus der als ›beseelt‹ gedeuteten Natur«4 ist eine einheitliche, sinnstiftende Perspektive unmöglich geworden. Die Rede von »Bäumlein« und »Blättlein« gibt den Vorwurf der Naivität, der sie treffen könnte, ironisch an den Anspruch des Idyllischen weiter, an dessen Möglichkeit sie nicht mehr glaubt, jedoch ohne – wie die vier letzten Zeilen des Textes zeigen – den Verlust von sinnhafter Unmittelbarkeit zu qualifizieren. Indem sie die Evozierung der Außenwelt als fraglos gegebene Objektivität unmöglich macht, gerät die Krise des ästhetischen Objektbezugs zum geheimen Thema des Textes.

3

Krise des ästhetischen Objektbezugs: unter ihrem Zeichen steht ein großer Teil der Literatur des 20. Jahrhunderts – von Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief bis Uwe Johnsons »Mutmaßungen über Jakob«. Die sich immer neu entzündenden Zweifel an jeder Möglichkeit der Darstellung von Welt illuminieren seit der Jahrhundertwende das Panorama eines unglücklichen bürgerlichen Bewußtseins, das sich als Instanz adäquater Widerspiegelung und Aneignung von Realität nicht mehr traut. Behielt die Literatur der Romantiker die Wirklichkeit – obwohl fern von ihr – noch im Auge, bezog sie sich auf den Ort imaginierter Idealität, »eben um dieser Wirklichkeit willen« (F. Tomberg)5, so begreift sich die literarische Moderne mit zunehmender Radikalität als Negation des außerästhetisch Wirklichen selbst.

Ohne sie in Form eines theoretischen Selbstverständnisses explizit auf den Begriff zu bringen, hat das Werk Robert Walsers an dieser Tendenz teil. Deutlicher als andere zeigt es jedoch die Spuren der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Moderne zum »Wegstreben aus Wirklichkeit und Normalität« (H. Friedrich)6 veranlassen. Vor dem Mißverständnis ist es gleichwohl von Anfang an nicht sicher gewesen.

Als 1898 zum ersten Mal Texte Robert Walsers veröffentlicht werden – sechs Gedichte Im Sonntagsblatt der Berner Zeitung »Der Bund« (darunter »Ein Landschäftchen«) – apostrophiert sie der Feuilletonredakteur, der angesehene Kritiker Josef Viktor Widmann, als frühe Produkte einer »Naturbegabung«, denen »etwas Urwüchsiges, Echtes und dabei etwas sehr Feines in den Stimmungen«7 eigen sei. Der Name ihres Autors wird nicht genannt; es ist lediglich die Rede von einem ›zwanzigjährigen Handelsbeflissenen in Zürich, R. W.‹8 Durch diese Veröffentlichung wird der damals in Zürich wohnende Franz Blei auf die ›Naturbegabung‹ Walser aufmerksam. Er vermittelt den Kontakt zu Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder, den Herausgebern der in München erscheinenden Zeitschrift »Die Insel«. Walser wird als Mitarbeiter dieser Zeitschrift akzeptiert; ab 1899 erscheinen hier neben Gedichten und Prosastücken seine Dramolette »Dichter«, »Aschenbrödel«, »Schneewittchen« und »Die Knaben«. Obwohl einige Zeitungen – wie Robert Mächler in seiner Walser-Biographie schreibt – Verse des Dichters »als Proben des ›Irrsinns‹ ab[drucken], den die ›Insel‹ für Dichtung ausgebe«9, scheint eine literarische Karriere ihren Anfang zu nehmen.

Bei seinen Besuchen in München – er trifft hier u.a. mit Richard Dehmel, Max Dauthendey, Frank Wedekind zusammen – hält Walser jedoch auf Distanz. Für eine Existenz auf der ›Insel‹ literarischer Assembleen taugt er nicht; es treibt ihn »aus allen Salons, wo Feinheiten und Exküsen herrschen« (III, 36). Die »Luft der vornehmen Abgeklärtheit« (III, 36) meidet er wie die der staubigen Kontore; das »tadellose, schnurgerade, tipptoppe, elegante Benehmen« (III, 36) ist seine Sache so wenig wie die subalterne Verlegenheit des Commis.

Robert Walser schlägt sich auf keine Seite – weder auf die des Irrealitätsprinzips der Literatenkreise noch auf die des Realitätsprinzips der Lohnabhängigkeit. Seine Existenz bleibt – wie es in seinem Roman »Der Gehülfe« heißt – »ein provisorischer Rock, ein nicht recht passender Anzug« (V, 21). Angesichts der sich ihm bietenden Alternativen sieht er sich auf sich selbst als Instanz der Formulierung einer möglichen Identität verwiesen. Zur Maxime seiner literarischen Arbeit wird die permanente, experimentell verfahrende Selbstreflexion, motiviert durch die Hoffnung auf eine unbekannte Potenz, die in der Sprache als dem Material mit dem er umgeht, verborgen liegt. Der seinen Texten eigenen ›Sprachverwilderung‹, von der Walter Benjamin in seinem Essay über Walser schreibt, liegt diese Hoffnung zugrunde:

Wenn ich gelegentlich spontan drauflosschriftstellerte, so sah das vielleicht für Erzernsthafte ein wenig komisch aus; doch ich experimentierte auf sprachlichem Gebiet in der Hoffnung, in der Sprache sei irgendwelche unbekannte Lebendigkeit vorhanden, die es eine Freude sei zu wecken. (X, 431 f.)

Dieser ›Lebendigkeit‹ ist Walser vor allem mit seiner frühen und mittleren Kurzprosa auf der Spur. In ihr erscheint die Realität des Dargestellten zunehmend als a priori durch Sprache konstituiert. Mehr noch: An die Stelle darzustellender objektiver Welt tritt mehr und mehr das Medium ihrer Vermittlung; das Mittel der Darstellung gerät zum literarischen Gegenstand. Aus dem Blickwinkel kritischer Distanziertheit heraus organisiert Walser seine Arrangements von sprachlichen und motivischen Versatzstücken, treibt er sein ironisches, hoch formalisiertes Spiel mit den literarischen Beständen, das sich selbst in seinem Vollzug immer wieder unterbricht und kommentiert. In dem Maße, wie sich auf diese Weise der Konstitutionsprozeß der walserschen Prosa immer schon auf der Basis seiner Reflexion vollzieht, der jeweilige Text als Produkt ästhetischer Arbeit sich als Reflexionsform seiner Konstitution offenbart, erscheint die ästhetische Subjektivität des schreibenden Ichs als immer neu zu problematisierender Gegenstand. Dem gegenüber geraten die Dinge der objektiven, außerliterarischen Wirklichkeit immer mehr zu Anlässen, werden sie gleichsam zu Kristallisationspunkten des Schreibens selbst.

Robert Musil hat diese Tendenz der walserschen Prosa 1914 in einer in der »Neuen Rundschau« erschienenen Rezension des Sammelbandes »Geschichten« als fortwährende Versündigung »gegen den unveräußerlichen Anspruch der Welt- und Innendinge: von uns als real genommen zu werden«10 bezeichnet. Damit ist keineswegs ein literarisch-ethisches Defizit der walserschen Texte in Hinblick auf den Realitätswert der Dinge behauptet. Im Gegenteil: Musil erkennt damit die spezifische Ironie Walsers an, der es um eine Bestimmung des problematisch gewordenen Verhältnisses der Realität des Textes zur Realität des durch ihn Dargestellten geht: »Eine Wiese ist bei ihm bald ein wirklicher Gegenstand, bald jedoch nur etwas auf dem Papier. Wenn er schwärmt oder sich entrüstet, läßt er nie aus dem Bewußtsein, daß er es schreibend tut und daß seine Gefühle auf Draht stecken. Er läßt plötzlich seine Figuren schweigen und die Geschichte reden als wäre sie eine Figur.«11

Es wäre eine weitere Form des Mißverstehens, würde man die in der Struktur der walserschen Prosa angelegte Reflexivität als Ausdruck einer Lust am sprachlichen Experiment ohne weitere Intention einschätzen. Walsers Texte sind weder als die eines naturseligen, den kleinen Dingen zugewandten, liebenswerten Spaziergängers zu begreifen, noch als die eines die Immanenz feiernden Sprachartisten. Das Interesse am Experiment, das in ihnen am Werk ist, hat vielmehr den Entwurf möglicher Identität zum Ziel. Es bleibt zudem keineswegs auf den Bereich des Ästhetischen beschränkt. Mehrfach hat Robert Walser das Prinzip des Experimentierens aus der Sphäre seiner literarischen Arbeit in die seiner Lebenspraxis zu übertragen versucht. Diese Feststellung scheint als einzige die Möglichkeit zu eröffnen, Details wie folgende aus der Lebensgeschichte Walsers anders zu interpretieren als unter dem Aspekt einer mehr oder minder deutlich diagnostizierbaren psychischen Abweichung. Während eines Aufenthalts in München im Jahr 1901 bewirbt sich Robert Walser bei Alfred Walter Heymel um den Posten eines Dieners. 1905 besucht er kurz nach seiner Übersiedlung nach Berlin einen einmonatigen Kurs in einer Schule für Diener und Pagen – die Erfahrungen, die er hier macht, sind in seinen Roman »Jakob von Gunten« eingegangen – und arbeitet danach als Diener auf Schloß Dambrau in Oberschlesien.