Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat?

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Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat?
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Martin H. Geyer

Kapitalismus und
politische Moral in der
Zwischenkriegszeit

Oder: Wer war

Julius Barmat?


Für Dona

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2018 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-936-2

© 2018 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-319-3

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras, unter Verwendung von

Ausschnitten aus einer Flugschrift der KPD von 1925. Landesarchiv Berlin, A Rep. 358 01 Nr. 245 B1 1 (Titelbild)

Inhalt

Einleitung Julius Barmat – ein bekannter Unbekannter

Kapitel 1 Grenzüberschreitung: Der Ostjude, der aus dem Westen kam

Einwanderer mit wirtschaftlichen und politischen Ambitionen

Umstrittener Großlieferant von Lebensmitteln ins hungernde Deutschland

Korruptionsdebatten im Übergang vom Kaiserreich zur Republik

Kapitel 2 Grenzgänger des Kapitalismus in der Zeit von Hyperinflation und Währungsstabilisierung 1923/24

Ein charismatisches »Konzern-Genie«? Die Expansion des Barmat-Konzerns 1923/24

Ein spekulationsbereiter Partner: Die Preußische Staatsbank

Reichspostminister Höfle auf Abwegen

»Zins- und Kreditwucher«: Der Fall Jakob Michael

»Luftgeschäfte«: Der Fall des Waffenhändlers Iwan Kutisker

Zwei Interpretationen des wirtschaftlichen Grenzgängertums

Kapitel 3 Grenzen der politischen Moral: Korruption und Koalitionspolitik 1925

Empörung

Politische Systemfrage: Bürger- vs. »Barmatblock«

Die Skandalisierung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert

Kleine Geschenke und große Politik: Die »Korruption der SPD«

Kapitel 4 Das System schlägt zurück: Die Grenzen des republikanischen Rechtsstaates 1926–1929

Republikanische Empörungen und Gegenskandalisierungen

Die Disziplinierung der Staatsanwälte: Eine Kriminalgeschichte der besonderen Art

Vertrauenskrise der Justiz?

Bemühungen um politische Friedensschlüsse: Das Barmat-Urteil 1928

Kapitel 5 Grenzen der Repräsentation: Politisches Theater 1926–1930

»Unpleasant play«: Der Kaufmann von Berlin

»Politische Zeitstücke« und Kapitalismus

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Verfremdetes Berlin: Mahagonny und Panama

Kapitel 6 Grenzgänger der Vernunft: Die Aporien des politischen Aufklärungsradikalismus

»Der Michael Kohlhaas-Kampf des Bücherrevisors Lachmann«

Nationale Mobilisierungsstrategien des alldeutschen Verlegers Julius F. Lehmann

Gottfried Zarnow: Ein deutscher Émile Zola?

Das bittere Ende des Aufklärungsradikalismus

Kapitel 7 Schließungen: Krise des Kapitalismus, Maßnahmenstaat und Ausgrenzungen 1930–1939

Völkische Dialektik: »Enteignet die Fürsten. Barmat braucht Geld!«

Weltwirtschaftskrise: Misere des Kapitalismus und des Staates

Kampf gegen »Korruption« und »Volksschädlinge«

Radikalisierung des Maßnahmenstaates: Vermögenskonfiskation und Ausbürgerung

Kapitel 8 Ein grenzenloser Betrüger? Eine transnationale Geschichte 1929–1934

Börsengeschäft mit großen Folgen: Die Schweizer »Affaire Appenzell«

Der Betrug an der Belgischen Nationalbank

Französische Verschwörungsfantasien: »Les deux heimatlos« Serge Alexandre Stavisky und Julius Barmat

Die belgisch-holländische Ausweisungsdebatte

Die Grenzen der sozial-moralischen Ordnung. Ein flämischer Barmat-Roman

Kapitel 9 Der Aufstieg der Rexisten und die belgische »Affaire Barmat« 1934–1938

Léon Degrelles Kampf gegen den »Hyperkapitalismus« und das System politico-financier

Die Anatomie eines Skandals

Ein kurzer Prozess

Kapitel 10 Radikalisierung und Grenzüberschreitungen 1933–1945

Ausmerzung des »Barmat-Geistes«

Jud Süß und Der ewige Jude

Gewalt und Vernichtung

Nachbetrachtungen Über das Verschwinden von Julius Barmat

Anmerkungen

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Archive

Zeitungen

Literaturverzeichnis

Personen- und Sachregister

Dank

Zum Autor

Einleitung
Julius Barmat – ein bekannter Unbekannter

Wer war Julius Barmat? Diese Frage stellte sich nicht nur das Berliner Publikum, als am Silvestertag des Jahres 1924 erste Pressemeldungen über die Verhaftung des Unternehmers erschienen und in den folgenden Tagen dann auch noch die jüngeren Brüder Herschel (Henry) und Salomon Barmat sowie Manager des Barmat-Konzerns und Beamte der Preußischen Staatsbank festgenommen wurden. Ort des polizeilichen Großeinsatzes war nicht etwa ein anrüchiger Stadtteil Berlins, sondern die im Westen der Hauptstadt idyllisch gelegene Havelhalbinsel Schwanenwerder mit ihrer Villenkolonie. Neben der Villa, in der Julius Barmat zusammen mit seiner Frau Rosa und seinem minderjährigen Sohn Louis Izaak lebte, durchsuchte die Polizei die Zentrale und verschiedene Betriebe des Barmat-Konzerns sowie die Berliner Wohnungen seiner Brüder. Die Wasserschutzpolizei und die Grenzpolizei waren ebenfalls alarmiert worden, denn es bestand der Verdacht, dass die staatenlosen Barmats, die man als ukrainische Russen mit Wohnsitz in Amsterdam, Berlin und Wien identifizierte, sich durch eine Flucht ins Ausland der Verhaftung entziehen könnten.1

 

In der Presse zirkulierte bald der Vorwurf des Betrugs und der Bestechung, ja der Korruption im großen Stil, in die nicht nur Banker und andere Unternehmer, sondern auch Politiker verwickelt sein sollten. Letzteres hatte die erstaunlich gut informierte radikale Opposition, namentlich die kommunistische Rote Fahne und Zeitungen wie der völkisch-konservative Fridericus, schon seit Längerem kolportiert. Verkehrten nicht der Berliner Polizeipräsident Wilhelm Richter und viele einflussreiche Sozialdemokraten in den »Gemächern« des Unternehmers? Stand etwa »Ebert junior« als Privatsekretär in den Diensten Julius Barmats, oder war gar der Reichspräsident Friedrich Ebert selbst in die ganze Affäre verwickelt? Darüber hinaus gerieten die am Gendarmenmarkt gelegene Preußische Staatsbank sowie die Reichspost in den Verdacht, der »Groß-Schieberfirma Barmat« unbesehen hohe Kredite in Millionenhöhe zu »Wucher und Spekulationszwecken« gegeben zu haben.2 Neben Korruption und aktiver sowie passiver Bestechung war von einem Kreditbetrug großen Ausmaßes die Rede. Und nicht zuletzt: In all die umstrittenen Geschäfte sollten ganz maßgeblich sogenannte Ostjuden involviert sein.3

Die Verhaftung der Barmats war das Resultat einer merkwürdigen, fast schon abenteuerlich zu nennenden Verkettung von Ereignissen, an denen diverse Akteure beteiligt waren. Auf die Barmats stieß die Staatsanwaltschaft erst über den Umweg anderer Ermittlungen, die auch in die Amtsstuben der Berliner Fremdenpolizei führten. Deren Leiter hatte den aus Litauen stammenden Geschäftsmann Iwan Kutisker, der auf die Verwertung von Militärbeständen aus dem Ersten Weltkrieg spezialisiert war, erpresst. Hierfür hatte der Beamte Informationen genutzt, die ihm wiederum Michael Holzmann, ein zweifelhafter russischer Unternehmer, zugespielt hatte. Dieser war Kutiskers früherer Geschäftspartner, stand bei ihm mit hohen Summen in der Kreide und versuchte ihn ebenfalls zu erpressen. Kutisker zeigte Holzmann jedoch an, worauf dieser seine Haut retten wollte, indem er seinerseits schwere Vorwürfe vorbrachte: Der litauische Unternehmer und Jude Kutisker habe die Preußische Staatsbank systematisch um Millionen betrogen. Nachforschungen bestätigten, dass in der Tat höchst dubiose Geschäfte getätigt worden waren. Das führte noch vor der Verhaftung der Barmats zur Festnahme Iwan Kutiskers sowie seiner beiden Söhne und mehrerer Komplizen. Nicht zu Unrecht witterte die Presse einen Skandal rund um die Staatsbank. »Wie muß es da stinken?«, mutmaßte Die Rote Fahne.4

Die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen waren jedoch weder in der Sache Kutisker noch in der Barmats durch eine Anzeige der Preußischen Staatsbank ins Rollen gekommen. Im Gegenteil: Die Leitung der Bank spielte von Anfang an eine passive Rolle, womit sie Verdächtigungen und Mutmaßungen befeuerte, die konservativen Beamten des altehrwürdigen Instituts seien in die Sache verstrickt. Zentrale Akteure bei der Aufklärung waren die Berliner Presse sowie die Wirtschaftsabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft, die sich mit Rückendeckung des preußischen Justizministeriums in Form eines »Sonderauftrags« der Sache annahm, wohl wissend, dass es sich um eine politisch brisante Angelegenheit handelte.5 Empörte und dementsprechend auskunftsfreudige Bankbeamte aus dem mittleren Dienst äußerten den alarmierenden Verdacht, dass es sich bei dem »Betrug« Kutiskers nur um die Spitze des Eisbergs handle: Millionenkredite seien unwiederbringlich verloren, die Bank sei unter Umständen sogar »pleite«, mit unübersehbaren Folgen für die Finanzen des Freistaats Preußen. Und nicht nur das: Der Staatsanwaltschaft wurde schnell klar, dass »auch noch andere Ostjuden die Preußische Staatsbank in unerhörter Weise betrügerisch geschädigt hatten«.6 Aus diesem Grund dehnte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auf Julius Barmat und seinen Konzern sowie auf weitere, ähnlich gelagerte Fälle aus, wie den des erfolgreichen Frankfurter Finanziers und Unternehmers Jakob Michael.

Skandal und Skandalisierung

Die Verhaftungen elektrisierten die politische Öffentlichkeit, die nun über Tage und Wochen mit Zeitungsartikeln und Balkenüberschriften auf der ersten Seite in Atem gehalten wurde.7 Bald spießten auch satirische Blätter wie der Simplicissimus und der Kladderadatsch das Thema auf. Über Nacht rückten die Namen Barmat, Kutisker und Michael ins Rampenlicht. Die Staatsanwaltschaft hatte, so der verbreitete Eindruck, die Büchse der Pandora geöffnet und gab Spekulationen und Verschwörungstheorien reichlich Nahrung. Ihre Verlautbarungen legten nahe, einem der größten Betrugsfälle der Zeit auf der Spur zu sein. Den Verhaftungen und ersten Pressemeldungen folgte eine Kaskade weiterer Ereignisse, wozu die Inhaftnahme des Reichspostministers Anton Höfle (Zentrum) zählte. Der aufbrausende mediale Sturm mit forschen Anschuldigungen und oft hilflos wirkenden, defensiven Dementi ließ an der Jahreswende 1924/25 aus den verschiedenen Fällen einen Skandal, genauer: einen politischen Finanzskandal werden – den größten dieser Art in der Weimarer Republik, wenn nicht gar in der deutschen Geschichte überhaupt.

Schnell war die Rede von einem Skandal Kutisker-Barmat oder Barmat-Kutisker-Skandal, gelegentlich auch von einem Barmat-Kutisker-Michael-Skandal. Im Gegensatz zu neutraleren Begriffen wie »Affäre« oder »Fall« implizierten diese Bezeichnungen schon eine Interpretation der Ereignisse. Ähnliches gilt auch für die Rede von einem Finanz- oder politischen Skandal oder für die Mutmaßung, es handle sich gar um einen Skandal der Preußischen Staatsbank, deren Direktoren allem Anschein nach leichtsinnig und regelwidrig Millionenkredite vergeben hatten. Wie das linksliberale Berliner Tageblatt kommentierte, attackierte neben der Roten Fahne insbesondere die deutschnationale Presse alle ihnen »verhaßten oder unbequemen Persönlichkeiten als Sklaven des Barmat-Mammons oder als Freunde der Barmats«;8 die Rede war von einer politisch gezielt geschürten, gegen die Republik gerichteten »Barmat-Psychose«, die von Anfang an mit einer latenten antisemitischen Pogromstimmung einherging.9

Die in diesem Buch verfolgte Frage, wer Julius Barmat war, entfaltete sich in dieser Geschichte von Skandalen. Jede Annäherung beginnt mit den überbordenden zeitgenössischen Diagnosen, Erklärungen und Interpretationen der Vorgänge, die sich mit Schuldzuschreibungen, politischen und moralischen Urteilen vermischten. Dafür gab es verschiedene Bühnen. Zu nennen sind an erster Stelle die Zeitungen, Zeitschriften und Pamphlete sowie eine Flut von Bildern, später dann auch Theaterstücken, die die komplexen Ereignisse vermittelten, simplifizierten und zugleich ausdeuteten. Eine Explosion des Redens und Sprechens ist zu beobachten, und zwar in einem Gestus der Empörung.10 Die mediale Sensation wurde durch immer neue, sich weiter gegenseitig aufputschende Nachrichten und Informationen genährt, darunter viele irreführende Falschmeldungen und »enthüllende Berichte«, deren Widerlegungen selbst wieder Bestandteile des Skandals wurden. Im Laufe dieser Eskalation erweiterten sich die Grenzen des Sagbaren, indem vertrauliche interne Vorgänge und Privates öffentlich gemacht wurden, mit der Folge, dass der Ruf vieler Personen beschädigt wurde. Dabei eröffnete die Skandalisierung gerade denjenigen Chancen, die sonst auf ihre eher marginalen politischen und sozialen Teilöffentlichkeiten beschränkt waren. Das galt für die Kommunisten ebenso wie für die völkische und deutschnationale Rechte, die zumindest im liberal und sozialdemokratisch gesinnten Berlin nicht das öffentliche Meinungsbild prägten.11

Von Anfang an war auch die Justiz eine wichtige Bühne des Skandals. Die Medienkommunikation der Berliner Staatsanwaltschaft war in jeder Hinsicht ungewöhnlich und schon bald ein Thema für sich. Ihre Vertreter, an vorderster Stelle zwei forsche junge Staatsanwälte, berichteten regelmäßig im großen Justizsaal in sensationsheischender Manier über die Fortschritte ihrer Ermittlungen. Dass sie sich wenige Monate später selbst wegen ihres Verhaltens rechtfertigen mussten und im Mittelpunkt von Disziplinarverfahren standen, war Teil des Skandals, der überraschende Wendungen aufwies.

Neben den Medien und Staatsanwälten traten noch weitere Akteure auf den Plan. Gleich in den ersten Januarwochen setzten der Reichstag sowie die Landtage Preußens und Sachsens die Fälle auf ihre Tagesordnung und richteten parlamentarische Untersuchungsausschüsse ein, die sich mit den Angelegenheiten zu befassen hatten. Das war in dieser geballten Form neu und rechtlich umstritten, zumal die Ausschüsse mit ihren richterlichen Befugnissen damit vielfach in derselben Sache wie die Staatsanwaltschaft tätig wurden.12 Viele Zeugen, darunter bekannte Unternehmer, Kaufleute, Politiker und Verwaltungsbeamte, aber auch Privatpersonen, wurden gleich in mehrere Untersuchungsausschüsse zitiert und von den Justizorganen verhört. Vor allem im Preußischen Landtag spielten sich ungewöhnliche Szenen ab. Die widersprüchlichen Auskünfte der Zeugen, die scharfen Wortwechsel und dramatischen Auftritte entsprachen ganz dem Geschmack der großstädtischen Massenpresse (und wohl auch ihres Publikums). Der klägliche Tod des Reichspostministers Höfle in der Untersuchungshaft machte die Geschichte Barmats vollends zu einem sensationellen politischen Kriminalfall, der in republikanischen Kreisen für Empörung sorgte.

Die sozialwissenschaftliche und historische Forschung hat sich intensiv mit Ablaufmustern von Skandalen beschäftigt. Es ist eine Binsenweisheit, dass viele Steine ins Wasser geworfen werden, ohne dass sie große Wellen erzeugen, und nicht jede Welle produziert gleich einen politischen Skandal. Erklärungen und Plausibilisierungen von Skandalverläufen erfolgen meist ex post. Dabei zeigt sich immer wieder, dass Skandale Dramen des Theaters oder Films gleichen, wobei ihnen ein eigener Rhythmus mit Vorspielen, Hauptteilen, einem dramatischen oder manchmal auch sentimentalen Ende innewohnt.13 Sie gedeihen in bestimmten Konstellationen, ihr Verlauf ist im Grunde vorhersehbar, und doch entwickeln sie sich zuweilen ganz anders als erwartet. Gleich guten Theaterstücken weisen sie auch immer ein Moment der Überraschung und Kontingenz auf. Denn einmal in Gang gesetzt, schaffen sie immer neue Bedingungen für ihre eigene Proliferation, mit Ausgängen, die unkalkulierbar sind und außerhalb der Kontrolle der Akteure liegen.

All das gilt auch in unserem Skandal, wenngleich einige Besonderheiten auffallen. So führen die Spuren des Falles Barmat zurück in die Kriegs- und Revolutionszeit. Aus der Rückschau ist eine in dieser Umbruchphase beginnende Skandalisierung Barmats zu erkennen, die verschiedene Autoren fortschrieben, aktualisierten und 1925 auf den Höhepunkt trieben. Um im Bilde des Theaters zu bleiben: Der erste Akt des Skandals entfaltete sich zwischen 1917 und 1920, mit einer Abfolge weiterer Akte 1925/26. Dazu zählten die skandalträchtigen Aufdeckungen und Enthüllungen im Winter 1924/25, die mit dem Tod Friedrich Eberts und des Reichspostministers Anton Höfle einen Höhepunkt erreichten. Seit dem Frühjahr 1925 war eine massive Gegenskandalisierung zu beobachten, wobei Vertreter der Berliner Justiz sowie der konservativen Presse und Parteien stark in die Defensive gerieten. Diese Gegenbewegung überschnitt sich mit einer Phase der Normalisierung, nicht nur infolge des Desinteresses des Publikums und der Presse, sondern auch wegen der sich abzeichnenden politischen Kompromisse in den drei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen: Die Ausschüsse in den Landtagen legten im Spätsommer 1925 wenig spektakuläre, eher auf den politischen Konsens abzielende, deeskalierende Abschlussberichte vor, während der Reichstagsausschuss seine Untersuchungen versanden ließ. Zeitgleich kam es jedoch zu einem neuen Anlauf der Justiz, die Fälle aufzuarbeiten: Das war der vierte große Akt, der sich im Falle der Barmats sehr lange, nämlich bis März 1928 hinzog.

 

Die Aufarbeitung des Falles von Julius Barmat war mit Blick auf den enormen Aufwand in der deutschen Justizgeschichte bis dahin ohne Beispiel. Kein Wunder, denn es ging nicht nur um die beschuldigten Personen, sondern um nichts weniger als die Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der Republik und der Justiz. Die Anklageschrift und das Urteil, die im Folioformat publiziert wurden, umfassten jeweils mehr als 500 eng beschriebene Seiten. Dabei sahen sich viele Zeitgenossen an das Sprichwort erinnert, dass der Berg kreißte und doch nur eine Maus gebar. Denn die Verurteilung Julius Barmats zu elf Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe wegen Bestechung – nicht aber wegen Betrugs – schien in keinem Verhältnis zu den zuvor geschürten Emotionen, dem Ermittlungsaufwand und, wie viele meinten, auch der Höhe des entstandenen Schadens zu stehen. Es wurde keine große Korruptionsaffäre sichtbar, vielmehr offenbarten sich eher banale Formen wirtschaftlichen Versagens und Unvermögens in einer Zeit extremer wirtschaftlicher Unsicherheit während der Inflation und Währungsstabilisierung, gepaart mit einer ordentlichen Portion Dreistigkeit und Dummheit – und das auf allen Ebenen, so jedenfalls der Tenor des Urteils von 1928. Die Besonderheit des Falles Barmat besteht darin, dass es sich nicht nur um einen politischen Finanzskandal handelt, sondern dass er sich in eine ganze Serie von weiteren kleineren Skandalen und politischen Eruptionen einfügt, die sich vom Ende des Ersten Weltkriegs durch die ganze Geschichte der Weimarer Republik bis Ende 1933 und noch darüber hinaus hinzog.

Der allerletzte Akt aber spielte nicht in Deutschland, sondern erstreckte sich über gleich mehrere Staaten in Westeuropa. Dabei handelte es sich um ein politisches Drama ganz eigener Art, das wiederum für eine Bewertung des deutschen Falles bedeutsam ist. Denn Julius Barmat ließ sich nach seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft 1929 und seiner Ausreise aus Deutschland nicht an seinem Wohnsitz in Amsterdam, sondern zunächst in Belgien nieder. Hier waren er und sein Bruder Henry nach dem Erwerb zweier Bankinstitute wieder in eine Reihe großer und kleinerer Affären in der Schweiz, Belgien, Holland und Frankreich verwickelt. Auch in Belgien drehten sich die Vorwürfe um Kreditbetrug und Bestechung. In die Geschichte involviert war die Bank des kleinen Kantons Appenzell-Innerrhoden, von der eine vertrackte Spur zur Belgischen Nationalbank führte. Und nicht nur das: Bald kursierten Gerüchte über Barmats Verbindungen auch zu dem notorischen Finanzbetrüger Alexandre Stavisky in Frankreich. Im Gegensatz zur diskreten Behandlung der »Affaire Appenzell« in der Schweiz kam es in Belgien zu einer großen »Affaire Barmat«, die 1937 kurz, aber heftig war. Ähnlich wie zuvor in Deutschland blieben angesehene Politiker und Banker auf der Strecke.