Eisenhagel - Ein Steiermark-Krimi

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Mit Eisenhagel fertig sein? Ach ja?

Auf dem Weg vom Spital in die Stadt geht sie am Friedhof vorbei. Er liegt nicht direkt auf dem Weg zu ihrer Wohnung, aber den kleinen Umweg nimmt sie gerne in Kauf, schließlich liegt auf dem Friedhof ihre ganze Familie. Vater und Mutter hat Jenny schon früh bei einem Unfall verloren. Ihre Eltern starben bei einem Autounfall, als sie zwei Jahre alt war. Ihr Vater hatte einen nagelneuen Mini Cooper und nahm ihre Mutter mit zu einer Ausfahrt. Sie landeten durch ein waghalsiges Überholmanöver im Kühlergrill eines LKW. Ihre Eltern waren sofort tot, jede Hilfe kam zu spät. Ihr wurde immer gesagt, dass die beiden Autos in der Verformung wie eines ausschauten, der Lastwagen und eine unkenntliche Metallmasse als Vorbau.

Sie schaut auf ihren Schlüsselbund, auf dem ein Mini-Schlüsselanhänger baumelt. Das Leder ist am Schlüsselring schon ganz glatt und dunkel, an den Rändern, bei den Nähten, ist er etwas ausgefranst, aber das ist nicht weiter schlimm. Den Schlüsselanhänger hatten ihre Eltern in Verwendung, bis sie verunglückten und ihr Hirn gegen die Windschutzscheibe spritze. Den Anhänger hat man dann ihren Großeltern gegeben, von da an lag er im umfunktionierten Aschenbecher ihres Großvaters am Küchentisch, neben anderem Krimskrams. Seit dem Tod ihrer Großeltern verwendet sie den Schlüsselanhänger und hat ihn so immer bei sich.

Später einmal hat sie Fotos gesehen und war irgendwie beruhigt, dass die Menschen hier sie nicht anlogen, denn sie mag Eisenhagel und seine Bewohner. Sie war hier immer gut aufgehoben. Die Menschen hier wussten, dass sie die kleine Jenny ist, die nun bei ihren Großeltern aufwächst. Ihr Freund Kevin ist erstaunt, wie trocken sie über diese Ereignisse sprechen kann, doch mehr als ein Bild auf ihrem Küchentisch ist ihr nicht geblieben. Sie weiß nicht einmal, ob die wenigen Erinnerungen, die sie hat, nicht nur aus den Erzählungen ihrer Großmutter stammen und so zu ihrer eigenen Erinnerung wurden. Sie nimmt das Gesteck, mit dem sie vor einigen Wochen das Grab geschmückt hat, und wirft es in die Mülltonne, kehrt das Grab ab, fährt durch die Fugen, kleine Kieselsteine schleudert es auf den Gehweg, sie ergeben auf dem frischen Schnee ein Muster, vielleicht eine Nachricht in einer geheimen Sprache. Sie legt nun einige Föhrenzweige auf das Grab, dazu eine weiße Kerze. Sie liebt es einfach und nüchtern, vielleicht schätzt sie auch deshalb die Arbeit im Spital so sehr, weil eine gewisse Klarheit den Fokus auf das Wesentliche festlegt. Sie kniet sich zum Gebet hin. Ihre roten Lippen machen Bewegungen, zu denen kein Laut zu vernehmen ist. Zuerst spricht sie zu ihren Eltern, dann zu ihren Großeltern, die sind nun auch schon seit drei Jahren tot. Zuerst der Großvater, kurz darauf die Großmutter. Ihr Großvater bekam einen Schlaganfall, während er die verstopfte Regenrinne vom Geäst eines Vogelnestes befreite und dabei von der Leiter flog. Sieben Monate darauf folgte ihm seine Frau. Ihre Großmutter war ganze drei Tage im Spital. Es waren für Jenny die schlimmsten Tage in ihrem Beruf. Plötzlich war das für sie nüchterne Haus hell erleuchtet, sie wusste, dass der Mensch, den sie über alles liebte, in den nächsten Stunden sterben würde. An diesen Tagen drehte sie das Bild ihrer Eltern zur Wand. Sie wollte nicht in die glücklichen Augen ihrer trüben Vergangenheit schauen, als ihre wahre Bezugsperson gerade starb.

Hey, hast du nicht etwas vergessen?

Jenny steht auf. Ihre Jeans unter den Knien sind gefroren und stehen von den Knien ab, als wären sie aus Metall. Sie wirft einen verstohlenen Blick auf einen Grabstein im hintersten Winkel des Friedhofs. Trotz ihres Vorhabens, den Blick abzuwenden und den Friedhof zu verlassen, marschiert sie auf den Grabstein zu. Erwin Resch, gestorben am 5.12.2009. Ein Windstoß fegt den Schnee vom Grabstein und lässt ihn gegen die gefrorenen Hosenbeine prasseln. Zu Gesicht bekommt Jenny eine wunderschöne rote Blume. In ihr hallen die Worte des Blumenhändlers nach, als er von der seltenen roten Blume sprach. Die vorher noch friedliche Kirche neben dem Friedhof gleicht nun einem dunklen Tempel. Hier sind Dinge passiert, von denen sie nichts mehr weiß. Was ist in diesem Scheißjahr noch alles passiert! Jenny zittert am ganzen Körper. Angst! Jenny muss laufen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schritte. Immerzu sieben Schritte ergeben auch die ganze Länge, zurück in die kleine Stadt, hinein in das beschauliche Lichtermeer von Eisenhagel, wo alles seine Ordnung hat. Dort wo ihre Freunde sind, wo man sie beschützt. Vor wem eigentlich? Die Sieben, du denkst nur an die Sieben, sieben Schritte und alles wird wieder gut. Die Sieben sorgt für den inneren Ausgleich, für Bescheidenheit und Einsicht. Die Sieben eben. Sie taucht in die Stadt ein und alles ist in Ordnung. Dass nichts, aber schon gar nichts seine Ordnung hat, wenn alles seine Ordnung hat, will Jenny nicht wissen.

Du Schlampe!

Jenny trifft ihre Freunde Kevin, Annika und Daniel. Sven, Kevins Bekannter, hat Geburtstag. Sie feiern ihn im »Detox«, einer ehemalige Tierfutterfabrik, nun Großraumdisco. Der Name »Detoxification« kommt aus dem Englischen und heißt übersetzt Entgiftung. Detox ist die Abkürzung. Die Besitzer fanden das witzig. Also wurde aus dem ehemaligen »Technofett« das »Detox«. Ausschauen tut es noch immer gleich, wie eine Bananenkiste mit einem Schiffboden.

Jenny und Kevin sowie Annika und Daniel raven mit Sven. Und heute ist Party! Es ist Freitag und schon deshalb gehört das Wochenende anständig eröffnet, und das übernimmt meistens Kevin. Kevin machte sie auch mit Sven bekannt, der vor Kurzem erstmals im Café auftauchte. Sven muss Gesteinsproben aus dem alten Bergwerk nehmen, Kohle ist wieder gefragt, und für die Stadt wäre das ein Segen. Sven wäre aber nicht der Erste, der Hoffnung bringt und wieder geht. Nach Öl wurde bereits gebohrt, Thermalwasser hat man gefunden, eine Therme hätte es werden sollen, als alle Pläne scheiterten, blieb schwefelhaltiges Warmwasser als letzter Rettungsanker. Alle Träume platzten. Schlussendlich blieb ein rostendes Rohr, das aus Getreidefeldern ragt, die einzige Erinnerung. Sven schenkt nach, Vodka Bull auf Eis. Alle im Chor: »Eins, zwei, drei und peng, lang lebe Sven!« Sie klopfen mit den Getränken auf die Theke, exen sie und wuchten sich auf die Tanzfläche. Das machen sie immer so, egal welches Lied gerade kommt. Wie jetzt zum Beispiel zu Helene Fischers »Atemlos« in der Techno-Version. Auch Spaß muss sein.

Auf der anderen Seite der Tanzfläche, an der anderen Bar, fotografiert jemand Partypeople. Jetzt packt er sein Teleobjektiv aus, sucht die Tanzfläche ab. Ab jetzt fotografiert er nur noch Jenny. Keiner hat etwas gewusst. Keiner hat etwas gesehen. Außer dem Fotografen. Klick, klick, klick. Alle sind nur zum Feiern da. Außer dem Fotografen. Klick, klick, klick. Wenn jeder Schuss ein Treffer wäre, Jenny wäre durchsiebt mit tausend Löchern. Aber Fotos sind anders. Fotos töten selten Menschen. Fotos sind mächtiger. Wenn sie sehr gut gemacht sind, treffen sie das Innere eines Menschen. Dann zaubern sie für den Bruchteil einer Sekunde die Seele des Menschen an die Oberfläche, zeigen Bilder, die selbst dem Fotografierten fremd erscheinen. Auf Jennys Seele liegt ein Schatten, aber vielleicht nicht direkt ein Schatten, jemand wirft einen Schatten auf sie. Das Dunkle im Licht. Die schwarzen Flecken in der Sonne.

Spürst du mich?

Jenny tanzt. Sie wird von ein paar Fremden angemacht, passiert ihr öfter, alles kein Problem, wenn nur Kevin nicht so ein Heißläufer wäre! Gebt dem Mann nichts zu trinken, denkt sich Jenny, gebt dem Mann einfach keinen Schnaps zu trinken, denn bei Schnaps brennen ihm die Sicherungen durch. Kevin drängt sich tanzend zwischen die Fremden hinein, die wollen sich das nicht gefallen lassen, aber bevor sie sich formiert haben, liegt schon einer von ihnen am Boden, den zweiten packt Kevin am Oberarm und drückt ihn gegen die Wand. Die Security bleibt im Hintergrund. Die Fremden verduften. Kevin schenkt seiner Liebsten einen Kussmund. Sven schenkt nach und alle machen mit. Sie exen die Drinks, und zurück auf die Tanzfläche. Jenny sieht nun alle bunten Farben, die sie sonst ablehnt. Sie verschwimmen ineinander. Ein Meer aus Farben, der Bass löst Wellen aus und Jenny ist der Wellenbrecher. Sie schlittert dahin, sie lacht, der Boden ist rutschig. Kevin fängt sie auf, er strahlt und gibt ihr einen Kuss. Der DJ meldet sich zu Wort und Kevin verdreht die Augen. Was muss denn der immer reden! »Und jetzt ein Musikwunsch, für Daniel!« Alle lachen, auch Daniel. Er schaut verlegen um sich und zuckt nervös mit seinem rechten Auge.

»Ich war das nicht, hö, hö! Wo ist die Verehrerin, hm?«, johlt Annika und nimmt Daniel an der Hand. Alle lachen. Im Hintergrund ihres Lachens ist aber eine gewisse Nervosität spürbar. Gibt es hier eine Verehrerin, die es auf Daniel abgesehen hat? Annika späht durch die Disko und schiebt dabei ihr Kinn leicht in den Raum. Daniel ist bei den Lehrerinnen äußerst beliebt, weil er so einfühlsam ist. Sie weiß das. Die Verehrerin soll nur kommen. Sie ist bereit. Keiner nimmt ihr ihren Daniel weg.

Der DJ drückt auf dem Display herum, er muss nun einen Wunsch ablesen, der eingeschickt wurde. Die Leute zahlen für dieses Service. »Und jetzt kommt noch ein Song für Daniel, diesmal von seinem alten Freund Arnold«, brüllt der DJ ins Mikro. Die vier schauen sich entgeistert an. Ein kurzes Knistern, dann die eindringliche E-Gitarre im Rhythmus, dazu schwarzweiße Strobo-Blitze von der Decke und tiefschwarze Kacheln am Tanzboden, die alles Licht in sich aufsaugen. Nein, das gibt es nicht – und doch. Die Blicke der vier Freunde reichen ein halbes Leben zurück in die Vergangenheit. Vielleicht ein Irrtum und der DJ legt eine andere Scheibe auf? Der DJ beleuchtet sich von unten. Er schaut dämonisch in das Heer tanzender Jugendlicher, als ob sie ihm durch das Lied folgen müssten. Trockennebel rauscht aus den Düsen, der Blickkontakt reißt ab. Jetzt ist jeder für sich. Isolationshaft unter gemeinsam tanzenden Ravern.

 

Aus den Boxen schallt die kranke Stimme Marilyn Mansons:

Sweet dreams.

Die vier können das Lied auswendig. Wacht einer in der Nacht mit dem Lied im Kopf auf, meldet er sich bei den anderen in ihrer WhatsApp-Gruppe »Vier Freunde«. »Das Lied ist wieder da«, heißt es dann und schon ruft einer von ihnen denjenigen an. Aber jetzt? Jennys Augen irren umher, suchen nach ihren Freunden. Wo sind die bloß! Verloren flackert ein Licht im Nebel. Keine Hilfe.

»Aaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhhh! Aaaaaaaaaaaaaahhhhh! Aaaaaaaaaaahhhh! Aaaarrrnnooold!«

Licht. Daniel liegt am Boden. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Er schaut ziemlich irritiert drein. Irgendetwas ist gewesen. »DJ leg auf!«, schallt Kevins Stimme durch den Raum. »Da gibt’s nix zu gaffen!« Kevin hilft Daniel auf. Es folgt nun »Highway to Hell«, von AC/DC. Dieses Mal ist es kein Musikwunsch. In der Hölle angekommen fühlen sich die vier Freunde dennoch. Aber so richtig angekommen.

Sweet dreams.

Im Morgengrauen. Die vier verlassen die Disko. Unter ihnen knarrt der gefrorene Boden. Die letzten Autos stehen auf dem gesamten Parkplatz verteilt, als ob sie nie mehr abgeholt werden würden. Auf den Windschutzscheiben liegt eine raue Eiskruste, die den Namen der Disko in matten Farben reflektiert. »Hey, die rote Farbe von der Neontafel steht dir echt gut!«, versucht Kevin Daniel aufzuheitern. Daniel schaut ihn unglücklich an. Seine Augen haben etwas von einem Bernhardiner, den man 48 Stunden nicht schlafen ließ.

»Du hast ja leicht reden! Dir hat ja Arnold kein Lied gewünscht. Und schon gar nicht dieses Lied. Da waren heute zwanzig Daniels und drei Arnolds! Das macht durchgerechnet 33.884 Möglichkeiten. Im Grunde bin ich aus dem Schneider. Wenn da nicht unser scheiß Lied wäre. Unser scheiß Lied, zwischen Arnold und mir! Das vernichtet dir jegliche Wahrscheinlichkeit.«

Kevin nimmt ihn an den Schultern. »Werd jetzt nicht nervös, Alter. Scheiß dir bitte nicht ins Hemd. Das Lied ist nicht gerade ein Geheimtipp, das war weltweit die Nummer 1 und Arnolds gibt’s viele auf der Welt.«

Daniel schaut ihn skeptisch an.

»Arnold – kommt – nie – wieder. Ich versprech’s dir!«

Daniel bekommt ein Lächeln auf dem Gesicht. Kevin steckt ihm eine Zigarette an.

»Und was ist, wenn er, wenn er wirklich da ist?«

»Der überlebt das nicht.«

»Kann ich mich auf dich verlassen?«

»Ehrensache.«

»Und Jenny, sollen wir sie nicht einweihen?«

»Niemals, Daniel. Das ist ein No-Go. Hast du mich verstanden?«

»Und wenn sich wer verplappert?«

»Wer sich zehn Jahre nicht verplappert, verplappert sich heute auch nicht mehr, du Pfeife! Das Wichtigste wissen nur wir drei. Nur wir drei wissen, wie es wirklich war. Und Jenny hältst du da raus. Das bringt Nüsse, wenn sie etwas erfährt.«

Daniel hält sich bei Kevin fest und beginnt zu flennen: »Sie haben mir damals am Schikurs Karotten in den Arsch gesteckt und mich ausgelacht. Ich bin die fette Sau, haben sie geschrien, die fette Sau!«

»Niemand wird das mehr machen mit dir!«, beschwichtigt ihn Kevin.

»Aber Arnold hat mich damals beschützt und dann haben wir immer dieses Lied gehört.«

»Weil ich mit zwei gebrochenen Beinen nicht mit zum Skikurs konnte. Deshalb hat er sich hineingedrängt«, versucht Kevin die Dinge geradezurücken.

»Aber …?«

»Und wo ist er jetzt, dein Arnold?«

»Nicht da.«

»Daniel, Dany-Boy, wenn du Probleme oder Ängste hast, sag mir das. Ich kümmere mich drum. Merk dir bitt eines: Ich habe keine Angst. Also wird mich das Leben belohnen. Du darfst jetzt auch keine Angst haben – und wer als Letztes beim Auto ist, der muss das Eis vom Auto abkratzen!«, spricht er die Wette aus und schon rennt Daniel los. Daniel rennt wie ein Tiger. Man würde es ihm nicht glauben, aber er läuft Kevin davon, auf und davon. Das konnte er noch nie. Der leicht pummelige Daniel. So schnell läuft nur einer, der massive Angst hat, in dem ein Takt mitbrummt, ein Schlagzeug bebt, eine Stimme krächzt:

Sweet dreams.

Jenny liegt wach im Bett. Neben ihr liegt Kevin. Kevin schnarcht. Sie stößt ihn leicht an. Jetzt murmelt er unverständliches Zeug und dreht sich weg. Sie pfeift das Lied Sweet Dreams. Gerade so laut, dass Kevin davon wach werden müsste, wäre er jetzt nicht im Tiefschlaf. Doch Kevin liegt neben ihr wie ein toter Fisch. Tut sie etwas Verbotenes? Tut sie etwas, was sie nicht tun darf? Sie weiß es nicht. Ihr innerer Drang ist stärker als jede morgendliche Vernunft. Scheiß drauf! Sie öffnet ihr Nachtkästchen. Sie holt die Taschenuhr heraus. Sie schaut sie an. Sie fühlt etwas auf der Rückseite. Die Uhr hat eine Gravur. Sie schlüpft mit ihrem Kopf unter die Bettdecke und schaltet kurz ihr Handy ein. Sie liest. Ihr Herz arbeitet. Macht fette Schläge. Bis in ihren Hals. Wollen in den Kopf. Die Worte auf der Uhr: »Freunde sind wie Sterne. Man sieht sie zwar nicht immer, aber sie sind immer da.« Sie schluckt den Dreck hinunter. Sonntagssprüche! Kalendersprüche! Alles klar. Jenny, vergiss es! Vergiss es! Wäre ja kein Problem, wenn sie nicht wissen würde, dass die Taschenuhr ziemlich viel mit ihr zu tun hat. Aber was? Sie spricht sich den Satz vor. Einige Male. »Freunde sind wie Sterne. Man sieht sie zwar nicht immer, aber sie sind immer da.« Je öfter sie den Satz liest, desto klarer wird ihr, dass hinter aller Lieblichkeit eine Bedrohung steckt. Aber wie kann sie sich dagegen wehren?

In Eisenhagel stimmt alles und somit nichts. Noch schlimmer jedoch: Wenn nichts stimmt, kann alles wahr sein.

Du sagst es.

Jenny nimmt Herrn Knies den Blutdruck. Sie vergleicht die Werte mit den letzten Messungen. »120/80. Sehr brav, Herr Knies. Sie haben wieder die normalen Werte erreicht. Sie werden sehen, wenn Sie weiterhin solche Fortschritte machen, werden Sie schon bald das Spital verlassen können.« Sie freut sich, dass ihre Prognose vom letzten Mal stimmt. Herr Knies schaut sie überrascht an. Er will etwas sagen, verkneift es sich jedoch. Jenny schenkt ihm einen kurzen Blick, gerade so lange, dass er weiß, sie hat seine Regung bemerkt. Sie will haben, dass die Patienten von selber anfangen, über sich zu sprechen.

»Auf mich wartet niemand«, antwortet er seufzend, »die Kinder leben weit weg und die Frau ist schon tot.«

Jenny kennt diese Klagen zur Genüge. »Dann müssen Sie halt zu einem Verein gehen, oder zum Eishockey, um Leute zu treffen«, antwortet sie.

»Ich habe mich überall abgemeldet. Ich warte nur noch auf meinen Tod.«

»Dafür haben Sie sich aber gut erholt, Herr Knies. Sie sind noch lange nicht auf der Schaufel!«, antwortet ihm Jenny. Aber Herr Knies scheint wirklich einsam zu sein. Es stehen keine Blumen im Raum, kein Konfekt. Herr Knies tut ihr auch leid, aber sie kann ihm nicht helfen. Für das Leben außerhalb des Spitals sind andere verantwortlich.

Jenny verlässt das Zimmer und geht den Gang weiter. Ein alter Mann, er lag auf Klasse, wollte sie bereits als private Krankenschwester anstellen. Sie lehnte dankend ab. Sie will nicht als Krankenpflegerin engagiert werden, auch nicht gegen eine Überbezahlung. Sie will niemals der Willkür eines fremden Menschen ausgeliefert sein. Ihr Job macht sie unabhängig, sie kann jeden Tag gehen. Jenny steht vor dem Zimmer des Oberarztes Doktor Johann Traisen. Heute Morgen fragte sie an, ob er einige Minuten Zeit hätte. Bei Traisen hat sie ein gutes Gefühl. Die Zusammenarbeit passt und einen Draht gibt es. Trotzdem zögert sie. Manches Mal öffnet man Tore, die man dann nicht mehr zukriegt. Drauf g’schissen!

Nie mehr kriegst du die zu.

Jenny klopft an, einmal, zweimal, drei… – nein, zweimal und etwas, da der Doktor bei ihrem dritten Klopfen bereits die Tür öffnet. Aber zweimal und etwas gibt es nicht. Hat sie nun drei- oder zweimal geklopft? Die Zwei steht für Willen und Wissen, die Drei für Gelassenheit, Toleranz und Sex. Die Fünf wäre es gewesen, Einsicht in nebligen Bahnen. Nun ist sie verwirrt. »Kommen Sie doch herein«, beendet der Doktor ihr Zahlenspiel.

Der Oberarzt sitzt zurückgelehnt, entspannt hinter seinem Schreibtisch. Sein braungelocktes Haar glänzt im einfallenden Licht der Sonne. Sie war noch nie bei ihm im Büro, so gesehen ist sie ziemlich überrascht, dass in seinem Zimmer, wie für die obere Etage in diesem Krankenhaus eigentlich üblich, nichts Protziges vorzufinden ist. Einige hochgewachsene Zimmerpflanzen, ein Bild von Eisenhagel hinter ihm und ein eingelegtes Hirn auf seinem Schreibtisch, wie es als Anschauungsmaterial auf Universitäten oder in Museen zu sehen ist. Der Oberarzt muss merken, dass ihr Blick auf dem Hirn hängen bleibt.

»Dieses eingelegte Schimpansenhirn ist ungefähr hundert Jahre alt. Ich habe das auf einem wissenschaftlichen Flohmarkt in Moskau erstanden. Das Affengehirn ist unserem sehr ähnlich. Der Denkprozess läuft nahezu identisch ab. Gerade das Denken in der Ruhephase, was wir durchaus als Nachdenken bezeichnen können, läuft beim Schimpansen und beim Menschen zu 99 Prozent gleich ab. Und trotz aller Ähnlichkeit gibt es so viele Unterschiede: Der Schimpanse ist Teil der Welterhaltung, der Mensch ist Teil der Weltzerstörung.«

Der Oberarzt bietet Jenny einen Platz an einem kleinen, runden Besprechungstisch an und stellt zugleich eine Karaffe Wasser und zwei Gläser dazu. »Also Jennifer, was kann ich für Sie tun?«, fragt der Arzt nach.

In Jenny steigt momentan die Lust auf wegzugehen oder ihm einen erfundenen Beweggrund ihres Kommens zu erzählen. Sie reißt sich zusammen. »Ich hätte gerne, dass unser Gespräch diesen Raum nie verlässt«, antwortet Jenny.

»Die ärztliche Schweigepflicht gilt natürlich auch für unsere Mitarbeiter. Für diese ganz besonders«, antwortet der Oberarzt.

»Vor zehn Jahren hatte ich einen Unfall. Damals fiel ich ins Koma. Als ich wieder aufwachte, konnte ich mich an viele Ereignisse im Zeitraum von einem Jahr nicht mehr erinnern. Diese Zustände halten bis heute an. Manche Ereignisse wurden mir glaubhaft erzählt, die habe ich in meine Erinnerungen eingebaut. Teilweise liest man die Dinge nach, die passiert sind, oder hört etwas Interessantes. So baute sich in den Jahren eine Art Vergangenheit auf, auf die ich mich stütze. Es bleiben aber auch Zeitlöcher, ein tiefes schwarzes Nichts.« Jenny setzt ab, nimmt einen Schluck Wasser, gerade jetzt wäre ihr eine von Kevins Zigaretten willkommen, die sie manchmal raucht, um sich zu entspannen. »Manchmal glaube ich jedoch, dass Dinge, die heute passieren, die mich berühren, ich aber nicht einordnen kann, mit dieser verlorenen Zeit zu tun haben. Das bereitet mir Unbehagen.«

Der Arzt weiß über den Unfall Bescheid, er war schon am Spital tätig, lässt dieses Tatsache aber im Hintergrund. Er signalisiert Verständnis und fragt Jenny, ob sie ihm mehr über den Unfall erzählen kann. Schlussendlich kommt es ihm nicht darauf an, was erzählt wird, sondern wie erzählt wird. Er ist beruhigt, dass er über die Ausgangsposition Bescheid weiß.

»Der Unfall war am Krampustag, Kevin und ich sind mit dem Rad gefahren, ich bin vom Gepäcksträger gerutscht und den Hang hinuntergestürzt, gleich vorne an der Hauptbrücke. Ich hätte auch tot sein können.«

Der Oberarzt nickt. »Das ist ziemlich bedauerlich, aber deshalb werden Sie wohl kaum hier sein, Jennifer.«

»In der Krampuszeit verfalle ich immer in eine seltsame Stimmung, die mit dem allen zu tun haben muss. Es ist, als ob etwas in der Nähe wäre. Ich weiß nicht einmal wer, oder was, ob das gut oder böse ist. Ist doch lächerlich, oder?«

Der Oberarzt fragt sie, wie oft diese Stimmungsschwankungen auftauchen. Jenny nimmt einen Schluck Wasser, um ein Räuspern zu vermeiden. »Also, sie sind kurz und stark. Ich kann sie nicht kontrollieren. Ich höre zum Beispiel ein Lied im Radio, das mich gefühlsmäßig an diese Zeit erinnert, von der ich nichts mehr weiß. Das klopft dann ziemlich stark in mir an, das zermartert mir den Schädel, da hätte ich dann gute Lust, die Medikamente aus Zimmer 131 alle gleichzeitig in mich reinzustopfen – am besten, Sie sagen mir, dass ich übergeschnappt bin, das Thema erledigt ist und ich beruhigt nach Hause gehen soll!«

Der Oberarzt schüttelt den Kopf und schließt dabei die Augen. Er schaut in diesem Moment sehr vertrauenserweckend aus. »Die Medikamente aus Zimmer 131 würde ich nicht empfehlen, denn dann glauben Sie noch, Sie sind ein Haribo Gummibärchen und alles um Sie herum wird rosarot. Falsch dosiert, können die Medikamente Halluzinationen auslösen.«

 

Nun lachen beide. Jenny spürt, dass sie sich für den richtigen Arzt entschieden hat. »Schlussendlich ist alles eine Sache der Perspektive, Jennifer. Solange Sie sich im Klaren sind, dass es bei Ihnen Veränderungen gibt, die sie nicht gutheißen, sind Sie bei klarem Verstand. Sie können zum Beispiel Angst vor Veränderungen haben, vor Ereignissen, die bevorstehen. Dass diese Gefühle zur Krampuszeit zunehmen, kann auch symbolischer Natur sein. Der Nikolaus ist gut, der Krampus ist böse. So können sich Gefühle manifestieren. Vermutlich handelt es sich um eine Angststörung, eine posttraumatische Belastungsstörung. Sie verdrängen Teile aus Ihrer Vergangenheit. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen helfen. Immerhin bin ich auch Psychiater. Sie sind ja auch nicht zufällig an mich herangetreten, nehme ich an.«

»Und wie?«

Der Oberarzt steht auf und geht zum Fenster. »Ich würde Ihnen zu einer Hypnosetherapie raten, um die Ursachen herauszufinden, warum Sie was verdrängen. Die Hypnose würde ich übernehmen.«

Ihr Hals verengt sich schlagartig. Plötzlich fühlt sie sich dem Oberarzt ausgeliefert. Hypnose klingt für sie gefährlich. »Ich weiß nicht so recht.«

Der Oberarzt bittet Jenny, zum Fenster zu kommen. Sie schauen beide in den Hinterhof, unten hackt im weißen Schnee ein Bussard auf eine Taube ein. Alles ist voller Blut und die Taube taumelt. Das Schauspiel findet in absoluter Stille statt. Jenny ist sich sicher, dass auch bei geöffnetem Fenster kein Laut zu hören wäre. Immer wieder stürzt der Bussard auf die Taube und hackt auf ihren Kopf ein. Danach lässt er wieder kurz ab und schaut der Beute beim verwirrten Gang durch den Schnee zu. Um die Taube herum hat sich bereits ein roter Kreis gebildet. Jenny dreht sich um und sie stoßen um Haaresbreite zusammen. Kurze Irritation. Der Oberarzt geht einige Schritte zurück: »Jennifer, es gibt immer Jäger und Opfer, es kommt nur darauf an, auf welche Seite Sie sich stellen. In der Defensive gewinnt man kein Spiel.« Jenny wirft noch einen kurzen Blick aus dem Fenster. Die Taube ist nun tot.

Der Arzt meint, sie solle es sich gut überlegen, er habe Zeit. Jenny bedankt sich für das ausführliche Gespräch, dreht sich aber, kurz bevor sie den Raum verlässt, nochmal um: »Die Taube war dem Bussard ausgeliefert, das könnte mir bei der Hypnose auch passieren.«

Jetzt sag schon ja, du kleine Schlampe!

Der Oberarzt lässt Zeit verstreichen. Er spielt mit einer Zigarillo und legt sie in die Schachtel zurück. Er schaut auf das ganz gelb gewordene Hirn des Schimpansen, im mittlerweile trüb gewordenen Formalin. Er nimmt sein iPhone in die Hand und spricht ins Memo: »Ich nehme an, mit der Krankenschwester Jennifer den richtigen Probanden für meine Untersuchung Erleichterung von posttraumatischen Belastungsstörungen durch Hypnotherapie gefunden zu haben – noch sträubt sie sich, aber es arbeitet bereits in ihr. Jennifers Pupillen waren im Gespräch sehr groß, sie ist also äußerst angetan.«

Der Oberarzt nimmt sich nun doch eine Zigarillo und stellt sich damit ans geöffnete Fenster. Er befeuchtet sie kurz und zündet sie an. Er spricht weiter in sein Memo. »Um erfolgreich zu sein, muss ich so tief in ihr Unbewusstes eindringen, dass ich sogar in ihr Alltagsleben eingreifen könnte. Die Betonung liegt hier auf könnte.« Der Bussard hat die tote Taube in sein Nest mitgenommen. Einzig der Blutkreis ist geblieben.

Von der Hauptstraße geht Jenny eine enge Gasse entlang durch einen dunklen Arkadengang. Nach dem letzten Rundbogen wird die Gasse heller und Jenny sieht bereits einen Lorbeerstrauch und einen winterfesten Buchsbaum vor einem kleinen Portal stehen. Sie hatte mit der Blumenhandlung nie viel zu tun. Wenn sie es eilig hat, kauft sie Blumen im Shop neben dem Spital, ansonsten am Samstag auf dem Markt. Aber es sind eher Gelegenheitskäufe. Die drei Zimmerpflanzen, die sie hat, scheinen ewig zu leben. Verstohlen schaut sie nun in die Auslage. Sie hebt ihre Augenbrauen, zu ihrer Überraschung sind nur noch wenige Blumen zu sehen, auch im Laden lichtet es sich. Sie erschrickt, als sie der Blumenhändlerin, einer alten Frau, ins Gesicht schaut.

Jenny betritt den Laden, zielsicher nimmt sie zwei Rosen aus einer großen weißen Vase. Nun tut sie so, als ob sie noch etwas suchen würde.

»Brauchen Sie noch etwas? Einen Strauß Tulpen vielleicht, sind heute Morgen frisch gekommen!«, fragt die Blumenhändlerin nach.

»Vielen Dank, das ist sehr aufmerksam!«, antwortet Jenny, legt die Rosen aufs Kassapult und zahlt. »Eigentlich wollte ich Ihnen mein Beileid ausdrücken, Ihr Mann ist vor einigen Tagen bei uns im Spital verstorben. Ich bin Krankenschwester im Spital und war bei der Notaufnahme dabei.«

Die alte Frau schaut sie mit müden Augen an. Sie gibt zu den zwei Rosen noch eine dritte, etwas Asparagus und bindet sie mit einer schwarzen Schlaufe zusammen. »Ja, dann haben Sie ihn noch gesehen«, antwortet die alte Frau in einem Tonfall, als hätte sie mit der Geschichte abgeschlossen und wolle nicht mehr darüber reden.

Jenny spürt das, der Drang, Klarheit in ihrem Leben zu schaffen, ist aber größer. Sie nimmt die Taschenuhr aus ihrer Hose und zeigt sie der Verkäuferin. »Kann das sein, dass diese Taschenuhr Ihrem Mann gehört hat? Als der Putztrupp das Zimmer reinigte, blieb sie zurück.« Die alte Frau schaut die Uhr an und drückt sie wieder in Jennys Hand.

»Mein Mann hat viele Uhren gehabt, eine mehr oder weniger macht nichts. Behalten Sie sie, wenn Sie wollen. Ich ziehe weg aus Eisenhagel, zurück nach Hangbluten, dort werde ich dann sterben.« Jenny steckt die Uhr wieder ein.

»Sie sollten auch wegziehen. Ihnen steht noch die ganze Welt offen!«

Jenny geht einige Schritte zurück, bleibt aber stehen. Sie weiß nicht, ob das für die alte Frau zu viel ist, sie würde aber doch gerne wissen, von welcher roten Blume ihr verstorbener Mann im Spital im Delirium schwadroniert hat.

»Gehen Sie jetzt lieber, junge Frau. Ich sage Ihnen aber eines. Mischen Sie sich nicht in fremde Angelegenheiten ein und nehmen Sie sich vor fremden Menschen in Acht, weil die einen sonst gefangen nehmen!«

Plötzlich fallen aus einem Netz, hoch über Jennys Kopf, Zimmerpflanzenübertöpfe aus Bast auf sie herab! Einer stülpt sich über ihren Kopf und nimmt ihr so die Sicht. Jenny sieht kleine weiße Ringel, die sich wie gefräßige Maden in ihre Netzhaut schrauben. Sie krächzt wie ein Fuchs, der sich gerade in einer Falle verfängt. Dazu ein gefährliches Kettenrasseln, als ob ihr Hirn nun eine Schleuse öffnet und sie mit rasselnden Ketten überhäuft. Das mischt sich mit dem tiefen, gehässigen Lachen der alten Frau.

»Endlich ist mein Mann, der alte Suffkopf, erledigt! Es wurde ja auch Zeit! Er beklaute sogar die Kunden! Sogar diese gottverdammte Taschenuhr hat er sich ergaunert, der alte Suffkopf! Verschwinden Sie jetzt endlich. In Eisenhagel hat jeder sein Binkel zu tragen, so auch du, Jennifer Sieder!«

Jenny klatscht wie ein gehetzter Vogel gegen die Eingangstür, sie krallt sich am Griff fest, schafft es gerade noch aufzustehen. Die alte Frau hinter ihr macht einige Schritte auf sie zu und hält ihr die Rosen entgegen, dabei lacht sie, reißt ihr Maul weit auf. Jenny glaubt, momentan alle Bösartigkeiten der Stadt in ihrem dunklen Schlund zu erkennen.

»Lauf nur weg, entkommen wirst du nicht!«

Jenny taumelt auf die gottverlassene Gasse. Sie läuft und läuft und läuft. Vor dem Spital bleibt sie stehen. Es ist alles verdunkelt. Außer beim Oberarzt. Dort brennt noch Licht.