Das Archiv des Teufels

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Das Archiv des Teufels
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Martin Conrath

Das Archiv des Teufels

Roman aus der Zeit des Kalten Krieges


Zum Buch

München, 1952 Robert Bennett ist auf dem Weg zurück in die Heimat. Er sitzt in einem Flugzeug, das ihn in die USA bringen soll. Endlich wieder auf der Veranda sitzen, Whiskey trinken und reiten. Endlich raus aus Deutschland. Doch die Armee hat andere Pläne mit ihm. Kurz bevor seine Maschine startet, erhält er den Befehl, die Vergangenheit von Sigfried Heiderer, zukünftiger Minister im Kabinett Adenauer, zu säubern. Bereits viele Male hat Robert Nazigrößen zu einer weißen Weste verholfen. Doch dieses Mal wird ihm der Auftrag nicht so leichtfallen, denn Heiderer war angeblich am Massaker in Lemberg beteiligt, bei dem Robert Bennetts Bruder ermordet wurde. Soll Robert den Befehl verweigern, um den Tod seines Bruders zu rächen? Er braucht Gewissheit und reist nach Lemberg. Dort begibt er sich auf die Suche nach dem Archiv, in dem Heiderers Taten vermerkt sein sollen. Doch der Klassenfeind mischt ebenfalls mit und zeigt großes Interesse an Heiderer. Anna Münzinger, eine Agentin der Staatssicherheit, heftet sich an Roberts Fersen …

Martin Conrath ist Schriftsteller und Journalist, war Personalentwickler, Musiker und Schauspieler. Seit 2006 lebt und schreibt er in Düsseldorf.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Köpke, Arne F.,

Riksarkivet Norge; https://foto.digitalarkivet.no/fotoweb/archives/5001-Historiske-foto/Indekserte%20bilder/Fo30141603180041.tif.info

ISBN 978-3-8392-6870-4

Widmung und Zitat

Für alle, die zwischen den Mühlsteinen

der Macht zerrieben werden.

*

»Wer mit sich selber in Frieden lebt, kommt nicht in Versuchung, anderen den Krieg zu erklären.«

Ernst Ferstl

Ukraine, Lemberg, 25.6.1941

Lemberg ist so still. Nichts ist zu hören. Selbst die Vögel schweigen.

Zuerst fielen Bomben, das Gefängnis erzitterte in seinen Grundfesten, Staub, Sand und Steine fielen von der Decke. Wir waren uns sicher, dass wir lebendig begraben werden würden. Doch die Katakomben hielten, und der Angriff dauerte nicht lange.

Dann fielen die Todeskommandos des NKWD, des russischen Geheimdienstes über uns her. Meine Zellenkameraden haben in die Dunkelheit gelauscht, so wie ich, Stunde um Stunde, Minute um Minute, jede Sekunde dehnte sich. Die Angst ließ uns verstummen. Hier und da flüsterte jemand, wir alle sollten getötet werden, die Russen würden reinen Tisch machen, bevor die Deutschen hier wären. Nacht für Nacht haben sie Leute aus den Zellen geholt. Vor allem Ukrainische Nationalisten und Zionisten. Die sind nicht zurückgekehrt, denen haben sie eine Kugel verpasst. Irgendwann schien ihnen die Zeit davonzulaufen, denn sie haben mit MG-Salven alles niedergemäht, was sich hinter den Gittern regte. Es müssen Tausende gewesen sein.

Plötzlich hat das Wegschleppen und Niedermähen aufgehört. Bis zu uns sind sie nicht vorgedrungen. Vielleicht hatten wir das Glück, in der hintersten Zelle zu sitzen, im tiefsten Schlund des Brigittka-Gefängnisses, und sie hatten keine Zeit mehr für uns.

Wir sind ein zusammengewürfelter Haufen. Russen, Ukrainer, Juden, allesamt unter derselben Anklage: Wir gelten als Spione, als Kollaborateure, als Verräter, was auch immer. Vielleicht haben sie uns leben lassen, weil sie uns verhören wollten, und sind geflohen, aus Angst, von der Wehrmacht hinweggefegt zu werden.

Was kommt jetzt? Wir sind eingesperrt, ohne Wasser, ohne Essen, ohne Hoffnung. Wenn die Deutschen Lemberg besetzen, ist kein Jude mehr sicher. Ich weiß das, ich bin Jude. Bevor man mich verschleppt hat, habe ich den Funk abgehört. Die Befehle sind eindeutig: Tötet sie alle, die Juden. Wir hören Schritte. Sie kommen uns holen. Ich bitte HaSchem, den Herrn über alles Leben, meinen Gott, um einen schnellen Tod.

Bundesrepublik Deutschland, München, 23.3.1952

Major Robert Bennett tritt vor die Tür der McGraw-­Kaserne, zieht den Marschbefehl aus der Tasche, liest ihn zum hundertsten Mal. Er fürchtet, dass er sich getäuscht hat, dass er nicht nach Hause zurückkehren darf. Aber der Text hat sich nicht verändert: »… wird Major Robert Bennett bis auf Weiteres abkommandiert, mit Ziel Richmond, Kentucky.«

Er setzt seinen Koffer ab, atmet die Frühlingsluft, sie duftet heute würziger, vielleicht liegt es an den warmen Temperaturen. Der Fahrer ist noch nicht da. Menschen eilen vorbei, manche tragen dicke Aktenstapel vor sich her, andere haben ihr Pokerface aufgesetzt, damit niemand erkennt, was in ihnen vorgeht. Robert beherrscht diese Technik ebenfalls. Was immer er sieht, hört oder spürt, es darf sich nicht in seinem Gesicht wiederfinden, es sei denn, er will es.

Heute ist das anders. Beim Rasieren hat er in den Spiegel geschaut, und es ist ihm nicht gelungen, das breite Grinsen zu unterdrücken. Endlich zurück in die Heimat! Sieben lange Jahre, seit 1945, war dieses kalte, unansehnliche Gebäude, der Sitz der Außenstelle des Counter Intelligence Corps in München, sein Zuhause und sein Arbeitsplatz.

Bennett nimmt den Flachmann aus der braunen Papiertüte. Ein Geschenk seines Vaters bei der Abreise nach Europa hinein in den größten Krieg der Menschheitsgeschichte. »Tretet den Nazis so richtig in den Arsch«, hatte er gesagt, »darin haben wir ja Übung. Nächstes Jahr gehen wir beide wieder am Green River angeln!«

Aber Robert hatte es besser gewusst. Im CIC war es Dauerthema, selbst seinem Vater, dem hochdekorierten General und Kriegsveteran des Ersten Weltkriegs, hat er nichts sagen dürfen, hat ihm verschweigen müssen, dass die Führer der freien Welt nachts vor Angst schlecht schliefen und dass sie bereits Europa aufteilten, für den Fall, dass der Krieg verloren ginge. Und dass Amerika fieberhaft an der mächtigsten Waffe der Welt baute, um Japan und auch Mitteleuropa in eine unfruchtbare Wüste zu verwandeln, um die Herrschaft der Nazis zu verhindern.

Der Flachmann schimmert silbrig, auf der Vorderseite steht in schwarzen Lettern: »In God We Trust«. In Gott vertrauen wir. Robert hat das Vertrauen in Gott verloren, als er mit seiner Brigade das Tötungslager Hadamar befreit hat, in dem die Nazis mehr als vierzehntausend vor allem behinderte Menschen ermordet haben. Fast hätte er damals den Flachmann geöffnet, um seinen Zorn auf Gott und die Menschen hinunterzuspülen, aber er hat sich geschworen, ihn erst zu öffnen, wenn der Tag seiner Heimreise gekommen wäre.

Verstohlen wirft er einen Blick auf den Marschbefehl, dreht den Flachmann in der Hand. Er ist aus Edelstahl getrieben, hat Artilleriefeuer überlebt, einen Absprung aus zwei Kilometern Höhe, den Beschuss mit einem Maschinengewehr und Roberts Kummer. Gefüllt ist der Flachmann mit einem erstklassigen Bourbon Straight aus seiner Heimat Kentucky.

Er öffnet den Schraubverschluss, muss dafür einiges an Kraft aufwenden, sein Vater hat ihn mit seinen starken Händen verschlossen, als müsse er die Ewigkeit überdauern. Genau so ist es gekommen. Im Krieg ist jeder Tag eine Ewigkeit gewesen. Robert schüttelt die schlechten Gedanken ab. Der Krieg ist zu Ende, er ist einer der Sieger, fährt nach Hause, wird sich eine Frau suchen und eine Familie gründen. In einer Stunde startet die Militärmaschine nach Hamburg. Von dort geht es mit dem Schiff weiter. Sein Gepäck ist schon unterwegs, er hat nur das Nötigste in seinem Koffer untergebracht.

Robert riecht am Whiskey. Der Duft ist unbeschreiblich: nasses Stroh, weite Wiesen, Weizen. Ihn überfällt die Sehnsucht nach der Ranch, auf der er aufgewachsen ist, nach seinem Quarter-Horse-Hengst Lucky und einem Ausritt entlang des Green River durch das blaugrüne blühende Gras; ihn überfällt das unstillbare Verlangen nach einem einsamen Fluss und dem friedlichen Plätschern von kristallklarem Wasser an rundgewaschenen Kieseln. Er meint das Gurgeln zu hören.

Robert setzt den Flachmann an, zögert. Noch ist er nicht zu Hause. Sollte er nicht warten, bis er auf dem Schiff ist? Oder noch besser, bis er die Erde Kentuckys küsst? Fordert er das Schicksal heraus, wenn er den Flachmann zu früh leert? Er lässt ihn sinken, schraubt den Verschluss wieder zu. Er wird warten. Bis er auf der Ranch angekommen ist, bis er die Schwelle seines Elternhauses überschritten hat. Er wird den Whiskey mit seinem Vater genießen, auf der Veranda, dazu eine Zigarre, der Sonnenuntergang und ein tiefgründiges Gespräch.

 

Robert greift sich seinen Koffer und seine Lederaktentasche, schaut sich ein letztes Mal um, denkt an die Aktenberge, die er durchgearbeitet hat, denkt an die Männer, deren Westen er weißgewaschen hat. Kleine und große Nazis. Robert hat ihre Vergangenheit gesäubert, sie gecleaned, Unterlagen vernichtet, die sie belasten könnten, Zeugen bestochen, damit sie die passende Aussage machten, den Nazis Persilscheine ausgestellt und ihnen damit bestätigt, dass sie unbelastet sind von brauner Gesinnung, dass sie im Dritten Reich Aufrechte waren, oder zumindest keine Verbrecher.

Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen Robert Menschen zu Recht entlasten konnte, war es ein schmutziges Geschäft. Aber es war richtig. Dieses Land darf nicht dem Chaos überlassen werden, linken Spinnern und Kommunisten, denn sonst wäre ein Krieg mit den Russen unvermeidlich. Adenauer, der Kanzler, ist einer der Gerechten, er wird die Demokratie verteidigen und die Nazis im Zaum halten. Roberts Arbeit war Friedensarbeit, auch wenn es viele Menschen gibt, die das anders sehen, die ihm vorwerfen, Nazi-Verbrecher geschützt zu haben. Das hat er getan, aber aus gutem Grund. Die Schlimmsten wurden abgeurteilt, hingerichtet oder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Die Feigen nahmen sich das Leben, die Aufrechten nahmen den Strang.

Ein VW-Käfer hält vor ihm, hinter dem Lenkrad sitzt ein blutjunger Private First Class. Er springt aus dem Wagen, seine rechte Hand federt zur Mütze, gleichzeitig klacken die Hacken zusammen. »Sir!«, brüllt der Private. »Ich soll Sie zum Flugplatz Oberwiesenfeld fahren, Major Bennett, Sir.«

Robert hebt seine Hand lässig an die Schläfe. »Schon gut, Private, ich bin nicht taub. Rühren.«

Der Private errötet, klemmt seine Finger an die Hosennaht, entspannt die durchgedrückten Knie. »Sir, darf ich eine Frage stellen, Sir?« Er brüllt nicht mehr, als stünde er auf dem Exerzierplatz, aber seine Stimme ist noch immer laut genug, sodass jeder im Umkreis von zwanzig Metern seine Frage hören kann.

Robert greift nach seinem Koffer. »Nur zu, Private.«

»Sir, Ihr Vater, Sir, ist das der General James F. Bennett?«

Robert hätte es wissen müssen. »Ja, genau der ist es«, antwortet Robert auf eine Weise, die nicht verrät, dass er diese Frage schon so oft beantwortet hat, dass er das Mitzählen aufgegeben hat. Sein Vater, der General James Frederic Bennett, ist zwischen die Buchdeckel der Geschichtsbücher gerutscht, und Robert Bennett, ja, der Robert Bennett, hat noch nichts vollbracht, das die Menschen dazu bringen würde, seinen Namen mit hochgezogenen Brauen und Ehrfurcht in der Stimme auszusprechen, auch wenn er im Krieg belobigt wurde und den einen oder anderen Orden wegen Tapferkeit an die Brust geheftet bekam. Hochdekoriert ist er, so nennt man das. Er hat die Orden eingepackt, er wird sie nicht zur Schau stellen, denn alles, was er getan hat, war für ihn die Konsequenz seiner Entscheidung. Er ist in den Krieg gezogen, weil die Nazis eine Gefahr für die ganze Welt darstellten. Er hat sein Land verteidigt. Es war Notwehr. Die Orden erhielt er, weil er im Gefecht Menschen getötet hat. Nichts, woran er sich gerne erinnern möchte, nichts, das er sich an die Brust heften will, auch wenn es Feinde waren, die ihn ebenso getötet hätten. Wenn man eine Entscheidung gefällt, einen Schwur abgelegt hat, muss man sich daran halten. Koste es, was es wolle. Doch jetzt ist der Krieg vorbei, und Robert wird nie wieder ins Feld ziehen.

»Gratuliere, Sir. Sind bestimmt stolz auf Ihren Vater. Beneide Sie. Muss toll sein.«

Robert nickt, hält dem Private sein einziges Gepäckstück entgegen. Der nimmt es, verstaut es im Kofferraum, hält Robert den Schlag auf, setzt sich ans Steuer, legt den ersten Gang ohne Knirschen ein, der VW rollt an. Und ja, Robert ist stolz auf seinen Vater, aber nicht, weil er mit einer Handvoll Leute eine Übermacht Deutsche daran gehindert hat, einen strategisch wichtigen Frontabschnitt zu durchbrechen, sondern weil er nie mit seiner Tat angegeben hat, weil er kein Schinder war und auch weil er seinen strengen Glauben nicht über die Menschen gestellt hat. Außer über seine Familie.

»Vergiss nie, Robert, dass nicht ich die Deutschen aufgehalten habe, sondern meine Männer, die zu Dutzenden im feindlichen Feuer gefallen sind. Nicht ich, sondern sie sind die Helden. Aber das will niemand hören.« Das hat er zu ihm gesagt, als Robert nach West Point auf die Militärakademie ging. Es hat Robert mit seinem Vater versöhnt, ihm ermöglicht zu verzeihen, dass er ihn gezwungen hat, in die Messe zu gehen, ihn gezwungen hat, die Bibel auswendig zu lernen, dass er ihm keine Wahl gelassen hat, welchen Gott Robert anbeten wollte. Die Bibel hat Robert schnell wieder vergessen, an ihren Platz setzte er das Wissen über die besten Methoden, einen Krieg zu gewinnen, im Nahkampf seinen Feind auszuschalten und Menschen mit Worten zu manipulieren.

Eine Ewigkeit ist das her, es war in einem anderen Leben, es war ein anderer Robert Bennett, der mit klopfendem Herzen eingerückt ist und bald gemerkt hat, dass in West Point nur Härte und Leistung zählten. Dafür – immerhin – hatte sein Vater ihn bestens vorbereitet, und Robert hätte sich eher erschossen, als sich die Blöße zu geben, seinem Vater eingestehen zu müssen, zu schwach zu sein, um den Anforderungen gerecht zu werden, denen sein Vater gerecht geworden ist.

Die McGraw-Kaserne liegt im Süden der Stadt, der Flugplatz Oberwiesenfeld im Norden, nicht weit entfernt vom ehemaligen KZ Dachau. Robert ist froh, dass er nicht dabei sein musste, als seine Kameraden es befreiten. Er hätte nicht gedacht, dass es noch etwas Furchtbareres gibt als das Tötungslager Hadamar.

Der Private beherrscht das Fahrzeug. Er schaltet weich, fährt ein angemessenes Tempo, hält ausreichenden Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Wagen, achtet auf die Fußgänger, die kreuz und quer über die Straßen laufen, und auf die Fahrradfahrer, die als solche nicht immer auszumachen sind, so überladen sind ihre Gefährte mit allen möglichen Dingen: Bauholz, Ballen aus Altkleidern, Papier, das zu klobigen Vierecken zusammenpresst ist, Reisigbündel zum Heizen, Backen oder Schwarzbrennen. Es gibt noch immer Hunderte Drahtesel und Pferdegespanne, die auf den Münchner Straßen Waren transportieren und jede Engstelle verstopfen.

Sie kommen zum Stachus, dort ist das Hauptquartier des CIC, Trümmer versperren den Weg, ein Haus muss erst vor Kurzem eingestürzt sein, der Private nimmt einen Umweg, er kennt sich aus. Die Innenstadt ist noch immer zur Hälfte ein Ruinenfeld. Deutschland ist hart bestraft worden für seine Verbrechen. Roberts Mitleid gilt all jenen, die zwischen die Mühlen der Macht gerieten und zermahlen wurden an der Front, in den Bombennächten, den KZs und den Gefängnissen der Gestapo.

Je weiter sie nach Norden kommen, desto weniger Ruinen gibt es. Sie brauchen vierzig Minuten bis Oberwiesenfeld.

Der Flughafen ist mit einem hohen Zaun und Stacheldraht umgeben, nachts tauchen ehemalige Flak-Abwehrscheinwerfer den Flughafen in grelles Licht, Wachen mit durchgeladenen Waffen und beißlustigen Hunden patrouillieren rund um die Uhr. Es gibt immer wieder Zwischenfälle, erst letzte Woche sind zwei Männer bei dem Versuch, auf das Gelände vorzudringen, erschossen worden. Sie trugen keine Papiere bei sich, niemand kennt sie, ihr Motiv ist unklar. Roberts Arbeitgeber, das Counter Intelligence Corps, vermutet einen Angriff kommunistischer Agenten. Robert glaubt das nicht. Die Aktion war töricht, die Männer haben ausgesehen, als stammten sie aus einer der Nissenhütten. Sie waren sicher auf der Suche nach Schnaps, Geld oder irgendetwas, das sie verkaufen oder tauschen konnten. Treibstoff zum Beispiel. Der ist auf dem Schwarzmarkt eine begehrte Ware. Oder Fliegerjacken, Stiefel, die Unterwäsche der Piloten: Die ist warm und hält ewig. Zehn Stangen Zigaretten für ein neues Paar Stiefel. Ein kleines Vermögen.

Der Käfer hält an einem der Gates, das mit acht Wachmännern, zwei schweren MGs und einem Haufen massivem Stahl gesichert ist. Robert kurbelt die Scheibe herunter, reicht dem Posten seinen Marschbefehl und seinen Ausweis. Sorgfältig prüft dieser die Papiere. Er ist ein alter Haudegen, mindestens vierzig Jahre alt, hat den Einsatz am Omaha Beach überlebt, das zeigt ein Aufnäher auf seiner Uniform, eine Narbe schmückt seine rechte Wange, auf seinem Namensschild steht »Wilson«. Er reicht die Papiere durchs Fenster, Robert greift sie mit der einen Hand, mit der anderen zeigt er auf dessen Narbe.

Wilson grinst verlegen und sagt: »Zu viel getankt. Da war ’ne Scheibe im Weg. Kommt aber immer gut bei Frauen.«

Er lacht rau, Robert fällt mit ein. »Keine schlechte Idee, sollten Sie sich patentieren lassen, Wilson.«

Wilson salutiert. »Das werde ich machen, Major Bennett, Sir. Wünsche guten Flug. Und grüßen Sie die Heimat. Und Ihren Vater.«

»Wie lange haben Sie noch?«, fragt Robert.

Wilson lässt die Hand sinken, sein Lachen ist verschwunden. »Keine Ahnung. Die sagen einem ja nichts.« Er scheint sich zu besinnen, sich daran zu erinnern, dass er einen Major vor sich hat. »Verzeihung, Sir, war nicht so gemeint.«

»Schon gut, Wilson, Sie haben ja recht. Ich drücke Ihnen die Daumen. Machen Sie es gut.«

Wilson strahlt Robert an. »Sir, danke Sir. Gebe mir Mühe.«

Robert gibt dem Private ein Zeichen, Wilson den Wachleuten. Die Schranke geht hoch, der Käfer rollt zum Abfertigungshangar. Noch dreimal muss er seine Papiere vorzeigen, sein Gepäck wird durchsucht, dann endlich geht es zum Flugzeug. Es ist eine Curtis C-46. Ein zuverlässiges Flugzeug. Acht Passagiere und sieben Tonnen Ladung kann es fassen. Nur eine Heizung fehlt. Dafür gibt es Decken und manchmal heißen Kaffee oder Tee. Im Sommer sind die Maschinen Backöfen, bis sie ihre Flughöhe von dreitausend Metern erreicht haben. Dann sinken die Temperaturen je nach Wetterlage schnell bis unter null.

Robert besteigt die Curtis über die seitliche Ladeklappe, die Fracht besteht aus niedrigen Kisten, die Aufschrift verrät den Inhalt: spezielle Kugellager für Schwerstmaschinen, hergestellt von der SKF aus Cannstadt. Die nehmen wenig Platz ein, sind aber schwer, und sie werden dringend benötigt, denn die SKF-Werke in den Staaten sind voll ausgelastet. Die Wirtschaft boomt.

Die Motoren laufen bereits, der Lärm ist ohrenbetäubend. Ein kalter Hauch streift Robert. Er hat keine Flugangst, aber das letzte Mal, als er ein Flugzeug bestiegen hat, ging es hinter die feindlichen Linien und er fand sich kurz darauf im Kugelhagel der Deutschen wieder. Er fasst sich ans rechte Bein. Eine MG-Kugel ist glatt durch den Oberschenkel gegangen. Der Knochen blieb intakt, aber er ist fast verblutet. Ein Kamerad hat ihm das Leben gerettet. Zwei Tage nachdem er Roberts Bein versorgt und ihn zum nächsten Stützpunkt hinter die Linien geschleppt hatte, ist er gefallen. Eine Panzergranate hat ihn zerfetzt.

Es wird ein kurzer Flug werden, aber ein unruhiger. Das Wetter ist instabil, von Norden nähert sich eine Kaltfront, von Süden drängt die warme, würzig duftende Luft.

Es sind nur sechshundert Kilometer bis Hamburg, sie werden nicht länger als neunzig Minuten benötigen. Ein Katzensprung bei schönem Wetter, bei Sturm eine Strapaze, dann tanzt das Flugzeug durch die Luft wie ein Betrunkener. Robert begrüßt die Piloten mit einem Nicken, er nimmt Platz, legt die Gurte an.

Ein Schlag geht durch die Maschine. Die seitliche Ladeluke ist zugeworfen worden, die Curtis verschlossen. Die Motoren erhöhen ihre Drehzahl, langsam rollt die Curtis an, die Startbahn liegt rechts, sie müssen warten, bis zwei Douglas gelandet sind. Dann geht die Curtis in Startposition, die Motoren werden hochgejagt, jeden Moment geht es los. Robert liebt den Augenblick, wenn die Beschleunigung ihn in den Sitz presst. Aber nichts passiert. Das Heulen der Motoren versiegt, ein Ruck geht durch die Maschine, die Ladeluke öffnet sich wieder, ein Luftzug streift ihn. Robert greift an die Seite, wo das Lederholster seine Enfield verwahrt. Er löst den Verschluss, klickt die Sicherung nach unten. Wenn es darauf ankommt, kann er die Waffe in einer halben Sekunde auf einen Feind richten und abdrücken. Eine halbe Sekunde – viel Zeit.

Er dreht den Kopf. Ein Militärpolizist springt in die Maschine. Robert entspannt sich, der Polizist winkt mit einem Blatt, bleibt neben ihm stehen, salutiert, drückt ihm das Blatt in die Hand. »Gott sei Dank, das war knapp, Sir.«

Robert schaut auf die Unterschrift. Floyd T. Morgan, Regionaldirektor des CIC. Sein direkter Vorgesetzter. Der Mann, der seine Heimfahrt genehmigt hat, befiehlt ihn zu sich ins Headquarter. Sofort. Robert schließt die Augen. Sein Magen zieht sich zusammen, ein Beben durchläuft seinen Körper. Was zum Teufel will Morgan von ihm? Was kann so wichtig sein? Warum kann er, Robert, so wichtig sein, dass man ihn aus einem Flugzeug holt, das bereits auf der Startbahn steht? Er ist ein Offizier, einer von mehr als fünfhundert, die das CIC in Deutschland und Europa befehligt. Robert presst seine Hände auf die Lehnen.

 

»Sir?«, fragt der Militärpolizist. Es ist nicht freundlich gemeint.

Robert öffnet die Augen. Er muss seine Wut herunterschlucken, denkt an den Flachmann. Hätte er ihn doch leeren sollen? Wäre er dann schon in der Luft? Oder rettet ihm der Befehl das Leben, weil die Maschine in einem Gewitter abstürzen würde? Es ist müßig, darüber nachzugrübeln, aber es hilft Robert ein wenig, seine Fassung zu bewahren. Er setzt sein Pokerface auf.

Der Militärpolizist richtet sich auf, legt seine weiß behandschuhte Hand an sein weißes Holster. »Sir, bitte«, sagt der Militärpolizist. Eindringlich. Eine Drohung schwingt deutlich in seiner Stimme mit. Er tritt von einem Fuß auf den anderen.

In diesem Moment ist der Mann vor ihm Morgans verlängerter Arm, also muss ihm Robert folgen. Er sichert seine Waffe, verschließt das Holster, löst die Gurte, greift seinen Koffer und springt aus der Ladeluke auf die Rollbahn. Der Militärpolizist stolpert ihm hinterher. Hätte sich Robert geweigert, er hätte ihn mit Gewalt aus dem Flugzeug zerren und im schlimmsten Fall erschießen dürfen. Noch befinden sie sich im Kriegszustand, und Befehlsverweigerung wird strengstens geahndet, auch die Todesstrafe kommt in Betracht. Zwischen Deutschland und der Welt gibt es nichts weiter als einen Waffenstillstand. Eine trügerische Ruhe, so dünn wie das Papier, auf dem er vereinbart ist. Und der neue Todfeind ist bereits ausgemacht: der ehemalige Verbündete. Stalin, der Diktator, der nicht viel besser ist als Hitler. Stalin, der lieber heute als morgen ganz Europa verschlingen würde. Und das muss Amerika verhindern, genauso wie es verhindert hat, dass sich die Nazis Europa einverleibten und die Japaner Asien. Mit jedem Mittel. Auch mit der Atombombe. Deutschland hatte Glück. Angesichts des sicheren Sieges wollte man keine radioaktiven Todeszonen im Herzen Europas.

Diesmal steigt Robert in einen offenen Jeep. Er schließt die oberen Knöpfe seines Mantels, der Fahrtwind wird kühl sein, trotz der angenehmen Temperaturen. Der Militärpolizist prügelt den Gang rein, gibt Gas. Offensichtlich muss er sich erst daran gewöhnen, dass er nicht mehr im Feld ist. Mehrfach kann er eine Kollision nur knapp vermeiden, mancher Fluch fliegt ihnen hinterher. Es geht zurück in die Innenstadt, zum Stachus. Trümmer blockieren noch immer die Straße. Diesmal warten sie, es wird nicht mehr lange dauern, bis der Weg freigegeben wird, ein Umweg würde mehr Zeit benötigen.

Robert spielt die Möglichkeiten durch: War das eine Inszenierung? Wollte Morgan Roberts Leidensdruck testen, seine Schmerzgrenze ausloten? Gibt es etwas, das er weiß, dessen er sich aber nicht bewusst ist? Hat er einen Fehler gemacht? Eine Beurteilung abgegeben, die sich als falsch erwiesen und ein politisches Echo ausgelöst hat?

Der Fahrer tritt aufs Gaspedal, dann bremst er plötzlich so hart, dass Robert sich fast den Kopf an der Windschutzscheibe stößt. Der Militärpolizist entschuldigt sich, Robert winkt ab.

Sie passieren die Sperren, werden zweimal kontrolliert, der Militärpolizist hält vor dem Headquarter, salutiert, Robert grüßt, greift den Koffer, öffnet die Tür, nimmt die Stufen zu Morgans Büro – immer drei auf einmal. Bevor er klopft, richtet Robert seine Krawatte, atmet tief durch. Seine Faust schlägt fest, aber nicht wütend gegen das Holz der Tür.

Von drinnen hört er Morgans Bariton »Herein« rufen. Robert drückt die messingfarbene kalte Klinke und tritt ein. Morgan steht mit dem Rücken zur Tür am Fenster, schaut hinaus. Robert schließt die Tür, macht drei Schritte, bleibt stehen, stellt den Koffer ab, er wird warten, bis Morgan ihn anspricht. Es dauert sicher nicht lange.

»Was sehen Sie, wenn Sie auf dieses Land schauen, Bennett?«

Morgan ist bekannt für seine philosophische Ader, für seine Aphorismen und Parabeln. Und für sein strenges Regiment. Er duldet keine Schwäche und keine Ausnahmen. Aber Robert hat ihn bisher immer als gerecht und fair erlebt. Das kann er nicht von jedem Vorgesetzten behaupten. Im Feld gab es viele Offiziere, die sich nicht mit Ruhm bekleckerten, immer wieder falsche Entscheidungen trafen und nicht bereit waren, Verantwortung zu übernehmen.

Robert versteht die Frage als Aufforderung, näher zu treten. Er stellt sich neben Morgan, wirft einen Blick aus dem Fenster. Der Verkehr rauscht vorbei, alles scheint normal und friedlich, sieht man von den Trümmern ab und den vielen Soldaten, die patrouillieren.

»Eine geschundene, verletzte Bestie, die in Fesseln liegt und dabei ist, sich zu erholen.«

Eine Bestie, die Millionen Menschen gefressen hat, auch seinen Bruder.

Morgan lächelt silbrig. Seine Nase hätte ihn sofort ins KZ gebracht. Kein Nazi hätte ihm geglaubt, dass er deutsche Vorfahren hat und jeden Ariernachweis hätte erbringen können. »Sie kennen mich gut, Bennett.«

»Sonst hätte ich nicht den Job, den ich habe«, erlaubt sich Robert zu sagen.

»Würden Sie Deutschland die Wiederbewaffnung erlauben, Bennett?«

Robert muss nicht lange nachdenken. Er legt Empörung in das Wort. »Niemals! Sie wissen so gut wie ich, dass die Nazis weite Teile des Staates infiltriert haben. Mit unserer freundlichen Hilfe. Adenauer tut sein Bestes, und er wird versuchen, die Nazis im Zaum zu halten, dennoch ist die Demokratie brüchig. Jeder zweite Richter hat unter Hitler Unrecht gesprochen. Wir haben ihnen die Persilscheine zu Tausenden ausgestellt. Unsere Strategie ist gefährlich, aber die einzige Möglichkeit. Oder sehen Sie das anders, Sir?«

»Natürlich nicht. Da sind wir uns einig, und ohne Frage muss die Bestie erst gezähmt werden, bevor wir erlauben, dass sie ihre Krallen erneut wachsen lassen darf.«

Robert schaut Morgan an. »Sir, ich bin beruhigt, dass Sie das so sehen.« Nicht jeder durfte Morgans Haltung kommentieren, ihm gönnerhaft seine Meinung zugestehen. Das ist ein kleiner Vorteil, wenn man der Sohn eines Helden ist.

Morgan deutet aus dem Fenster. »Dennoch sehe ich etwas anderes als Sie, wenn ich auf dieses Land schaue.« Er macht eine Pause, erwartet eine Reaktion von Robert.

»Sir, was sehen Sie?«

Morgan zieht die Gardine vor. »Ich sehe ein Bollwerk der Freiheit, der Demokratie und der Marktwirtschaft. Ich sehe eine Pufferzone zwischen Kommunismus und Demokratie. Zwischen Böse und Gut. Zwischen der geknechteten und der freien Welt. Deutschland muss gelingen, mit allen Mitteln, sonst schlittern wir in einen dritten Weltkrieg. Sehr bald. Der Krieg in Korea ist der Vorbote. Die kommunistischen Goliaths China und Russland zeigen uns ihre Entschlossenheit. Ein Funke, und das Pulverfass Europa explodiert und bringt die ganze Welt an den Rand des Untergangs. Unsere Zivilisation ist bedroht.«

Robert durchzuckt Angst. Wird er nach Korea versetzt? Er sendet ein Stoßgebet zum Himmel. Insgeheim ist er immer noch davon überzeugt, dass es so etwas wie eine höhere Macht geben muss. Seit zwei Jahren tobt dort der Krieg um die koreanische Halbinsel, der größte Stellvertreterkrieg der Nachkriegszeit zwischen dem Westen, dem Osten und China. Ein riskantes Unterfangen, das Roberts Meinung nach nur in einem Debakel enden kann: im dritten Weltkrieg. Es fehlt nur noch ein Funke.

»Sir, das steht außer Zweifel. Darf ich fragen, warum ich hier bin? Warum Sie mich aus dem Flugzeug geholt haben?«

Morgan legt Robert eine Hand auf die Schulter. Eine vertrauliche Geste, die Robert misstrauisch macht. Er rechnet mit dem Schlimmsten.

Morgan nimmt seine Hand wieder weg, setzt sich hinter seinen Schreibtisch. Er ist ein bescheidener Mensch. Er braucht keinen pompösen Holzklotz zwischen sich und seinen Untergebenen. Das Möbel könnte genauso gut in der Amtsstube eines kleinen Finanzbeamten stehen: einfaches Holzfurnier, rechts und links Schubladen mit Rollladen, verschließbar. Ein Telefon. Ein Kästchen mit Karteikarten, auf denen wichtige Adressen und Telefonnummern in seiner winzigen, präzisen Handschrift notiert sind. Als Robert sie zum ersten Mal gesehen hat, dachte er, die Adressen seien aufgedruckt.