Das geschenkte Mädchen

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09 »Es tut mir leid«, sagte Helene leise in das Telefon und strich mit den Fingerkuppen verlegen auf den Seiten des kleinen Büchleins herum, in dem sie gerade zum unzähligen Mal dieselben Kapitel gelesen hatte. Die verschnörkelten, spitzen Buchstaben der altdeutschen Schrift zackten sich über das Papier, bedrohlich und abweisend wie ein Eisenzaun um einen paradiesischen Garten. Mit einem plötzlichen Ruck zog Helene ihre Hand zurück, als hätte sie sich an der Schrift geschnitten. »Ich wollte Sie nicht belügen.« Sie meinte es wirklich ehrlich und hoffte, dass Pfeffer es heraushörte.

»Dann erzählen Sie mir bitte, was Sie über Doktor Westphal wissen«, antwortete Pfeffer und spürte, wie sein Herz pochte.

»Am Telefon?«, fragte Helene und Pfeffer konnte die leichte Enttäuschung in ihrer Stimme hören. Sie wollte ihn also wiedersehen, vielleicht behauptete sie nur deshalb, Doktor Westphal doch gekannt zu haben. Bei Emmy Frese in der Wohnung hatte sie es noch heftig geleugnet.

»Gut.« Pfeffer sah auf seine Uhr. Schon fast neun. Draußen tobte ein Schneesturm durch die finstere Nacht. »Treffen wir uns in einer halben Stunde.« Er nannte ihr die Adresse eines schicken Cafés, das sie kannte.

Freudensprung kam herein. »Supergemütlich, dein Gästezimmer«, sagte er und fläzte sich auf das Sofa.

»Sorry«, antwortete Pfeffer. »Aber irgendwo muss der Sperrmüll ja hin.«

»Schon okay. Ich finde es echt gemütlich. Was wird Tim sagen, wenn er mich hier sieht?«

»Nichts. Außerdem kommt er erst in eineinhalb Wochen von seinem Seminar aus Düsseldorf zurück. Bis dahin wirst du hoffentlich schon eine neue Bleibe gefunden haben«, sagte Pfeffer. »Drei Dinge, die tabu sind: Erstens meine CDs. Das ist Jazz, der dir sowieso nicht gefällt. Dann meine Garderobe, ich möchte dich nicht plötzlich mit meinen Hemden oder so herumspazieren sehen, weil dir die Wäsche ausgegangen ist. Und drittens meine Toilettenartikel. Kapiert?«

Freudensprung nickte. Er wusste, dass sein Chef mit den Klamotten eigen war, und dass er sich als einzige Exzentrizität ein obszön teures, seltenes englisches Duftwasser namens Blenheim Bouquet leistete. Dieses allerdings, das musste auch Paul Freudensprung zugeben, passte so hervorragend zu Pfeffer, als wäre es extra für ihn gemixt worden.

»Ich muss noch mal los. Die Marwitz hat doch gelogen. Sie kannte Westphal.«

Freudensprung pfiff durch die Zähne. »Das war ja so sicher wie das Amen in der Kirche. So wie die zusammengezuckt ist. Die hat schlecht gelogen.«

»Na, übertreib mal nicht. Vielleicht wollte sie nur vor der Alten nichts sagen.«

»Höre ich da eine gewisse Sympathie für eine womöglich Tatverdächtige heraus, Max Pfeffer? Haben wir da nicht schon genug Erfahrungen in der Vergangenheit gesammelt? Du weißt, was ich meine«, sagte Freudensprung provozierend.

Pfeffer wusste zu gut, was sein Kollege meinte. Obwohl es nur einmal vorgekommen war. Damals, er war noch Hauptkommissar gewesen, hatte Pfeffer sich Hals über Kopf in einen Tatverdächtigen verliebt und triebgesteuert alle möglichen Konsequenzen verdrängt. Sein Glück, dass der Mann sich sehr schnell als unschuldig erwiesen hatte und Pfeffer nicht in heftigere Konflikte zwischen Dienstpflicht und Liebe geraten war.

»Noch dazu bei einer jungen, sehr hübschen Frau, die sicher als Model Karriere machen könnte. Verwechselst du da nicht was?«, frotzelte Freudensprung weiter. »Rein anatomisch. Oder wirst du dir jetzt untreu?«

»Keine Sorge. Ich werde mir sicher nicht untreu. Und jetzt halt endlich die Klappe, Gaudi.« Pfeffer stand auf, weil er spürte, wie die Röte in sein Gesicht krabbelte, dann sagte er ganz beiläufig: »Und mach dich schon mal nackig, bis ich zurückkomme …«

Mit diebischer Genugtuung registrierte er, dass Freudensprung zusammenzuckte, regelrecht den Hintern zusammenkniff und ihn verunsichert anschaute. »Äh, das war jetzt ein Scherz?!« Paul lachte unsicher. »Schlechter Scherz.«

»Guter Scherz«, antwortete Pfeffer fröhlich, während er das Zimmer verließ, um im Treppenhaus markerschütternd »Florian! Flooooo!« zu rufen. Keine Antwort, nur dumpfe Bässe aus dem oberen Geschoss. Pfeffer sprintete die Treppen hinauf und riss die Tür zum Zimmer seines jüngsten Sprösslings auf. Florian saß vor dem Computer, beballerte via Joystick irgendwelche mutierten Monster-Aliens und wippte rhythmisch zu den wummernden Techno-Klängen. Sein kleiner Fernseher lief unbeachtet neben dem Bett. Tom Cruise tat wieder einmal so, als könne er schauspielern, und zeigte in schneller Folge abwechselnd die beiden einzigen Gesichtsausdrücke, die er aus dem Effeff beherrschte. Pfeffer schaltete Glotze und Stereoanlage aus.

»Hey!«, rief sein Sohn und drehte sich vom Monitor weg. »Spinnst du?! Ich bin gerade bei Level vier. Da brauch ich Musik, um mich konzentrieren zu können.«

»Dein Bruder ist noch nicht zurück«, antwortete Pfeffer gelassen. »Wenn er kommt, kannst du ihm ausrichten, dass er morgen eine Tracht Prügel kriegt. Er sollte um acht zu Hause sein. Ich muss noch einmal weg. Und benimm dich anständig, wir haben einen Gast im Haus.«

»Oh Mann«, stöhnte Florian. »Bleibt der Typ länger?«

»Ja, der Typ bleibt länger.«

»Hat ihn seine Alte rausgeschmissen?«

»Hör mal, Florian«, sagte Pfeffer streng. »Du musst nicht jeden Sch… nicht alles nachmachen, was dein Bruder macht. Vor allem, gewöhne dir nicht seine Art zu sprechen an. Okay? Paul hat sich von seiner Frau getrennt und braucht für ein paar Tage eine Unterkunft.«

»Und was ist mit Tim?«, fragte Pfeffers Sohn mit großen Augen.

»Das hat überhaupt nichts mit Tim zu tun.« Pfeffer verspürte einen kleinen Stich im Herzen. Er wusste, dass seine Kinder Tim liebten und ihn genauso vermissten, wie er ihn vermisste. Dass Tim de Fries durch seinen Job als freiberuflicher Management-Coach für einige Tage außer Haus war, kam oft vor. Doch diesmal leitete er gemeinsam mit einer Kollegin ein zweieinhalbwöchiges Seminar mit allen Managementebenen eines großen Düsseldorfer Konzerns; Thema: Konfliktbewältigung im Umgang mit Untergebenen. Die Wochenenden nutzte der gebürtige Holländer, seine Familie in Amsterdam und Amstelveen zu besuchen. Tims ungewöhnlich lange Abwesenheit von zu Hause setzte allen zu. Nicht nur, weil nun niemand was Gutes kochte.

»Guck mal, Papa.« Florian war vom Stuhl gesprungen und zeigte auf ein Britney-Spears-Poster, das neben dem Fenster hing. Pfeffer guckte, aber er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was dieses Poster von all den anderen Britney-Spears-Postern im Zimmer unterscheiden sollte. »Hab ich neu!«, rief sein Sohn aufgeregt mit der typischen Euphorie eines beinahe Zwölfjährigen. »Von Kevin eingetauscht gegen mein Jennifer-Lopez-Poster. JayLo ätzt nämlich voll, aber Kevin steht trotzdem auf die.«

»Hmm, super«, meinte Pfeffer ein wenig wehmütig. Vor ein paar Monaten hatte sein Kleiner begonnen, sich für die angesagten Pop-Schönheiten zu interessieren. Ein untrügliches Zeichen, dass aus dem Kind nun bald ein Mann heranreifen würde. Ein noch untrüglicheres Zeichen waren die klebrigen Flecken im Schritt von Florians Pyjamahose und die zerknüllten Tempotaschentücher unter dem Kopfkissen.

Genauso hatte es bei seinem älteren Sohn Cosmas angefangen, und Pfeffer musste zugeben, dass es bei ihm selbst auch so begonnen hatte. Nur hatte er damals, als er mit zwölf Jahren von seinem Vater beim Onanieren erwischt worden war, die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens bekommen. Da hatte ihn sein Vater das erste Mal ein perverses Schwein genannt. Später, als er sich dann von der Mutter seiner Kinder getrennt hatte, um endlich mit dem Mann seiner Träume zusammenzuleben, hatten seine Eltern ganz andere Ausdrücke für ihn gefunden. ›Perverses Schwein‹ war noch harmlos. Sie hatten ihn beleidigt und versucht zu demütigen. Es war ihnen nicht gelungen, was sie noch wütender gemacht hatte. Pfeffer stand dazu, dass er mit Männern glücklicher war.

Nachdem seine Ex-Frau vor wenigen Jahren nach langem Leiden an Lymphdrüsenkrebs gestorben war und Pfeffer sich um die gemeinsamen Kinder hatte kümmern müssen, hatten seine eigenen Eltern sogar versucht, ihm, dem perversen Schwein, die Kleinen wegzunehmen. Pfeffer kochte noch heute, wenn er nur daran dachte. Dabei waren er, seine beiden Söhne und sein Lebensgefährte Tim de Fries längst eine funktionierende kleine Familie mit freistehendem Einfamilienhaus in Obermenzing, neugierigen Nachbarn, drei Fernsehern und Mikrowelle (die allerdings nur zum Einsatz kam, wenn Tim mal keine Lust zum Kochen hatte, was so gut wie nie passierte). Es war ohnehin ein Wunder gewesen, dass die Kinder so schnell nach dem Tod ihrer Mutter Tim als zweiten Vater akzeptiert hatten. Manchmal war Pfeffer richtig eifersüchtig auf die innige Beziehung, die der Holländer mit seiner unkomplizierten und offenen Art zu den Buben aufgebaut hatte. Das schöne alte Haus aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in dem mehr als gutbürgerlichen Stadtteil hätte sich Pfeffer natürlich nie leisten können, obwohl sein Freund Tim auch in Krisenzeiten wie diesen sehr gut verdiente und erheblich zum Unterhalt der Familie beitrug. Das Haus gehörte den Kindern. Es war längst schuldenfrei. Seine Ex-Frau hatte es von ihren früh verstorbenen Eltern geerbt und den Söhnen hinterlassen.

Pfeffer würde seine Söhne nie pervers nennen. Er hatte Cosmas einmal im Badezimmer »erwischt«. Pfeffer hatte irgendwas Doofes wie »Lass dich nicht stören« gemurmelt und die Tür wieder geschlossen. Er hatte sich bemüht, die Jungs so frühzeitig wie möglich aufzuklären und keine falsche Gschamigkeit aufkommen zu lassen. Und jetzt, wo auch Florian in die Pubertät kam, überfiel ihn manchmal diese Traurigkeit, weil seine Kinder keine Kinder mehr waren. Die Tage, Wochen, Monate verrasten einfach so.

 

»Also, sei nett zu unserem Gast, du kennst ihn ja schon, und geh in spätestens einer halben Stunde ins Bett. Versprochen?«

»Hmmmm«, brummelte sein Sohn und verschränkte trotzig die Arme. »Muss das sein? Kevin darf auch immer bis zehn Uhr aufbleiben. Frag doch mal seine Mutter.«

»Kevins Bettgehzeiten sind mir völlig egal. Kapiert, junger Mann? Also, gute Nacht.« Pfeffer gab seinem Sohn einen Kuss auf die Wange. Er war froh, dass sich sein Kleiner noch nicht gegen diese Geste sträubte. Seinem ältesten Sohn durfte er sich schon seit vier Jahren nicht mal mehr auf Armeslänge nähern, ohne gleich ein »Uäh, geh weg! Kommt jetzt wieder die Zuneigungstour?!« entgegengeschleudert zu bekommen.

10



Der Häuptling von Jokó hatte sichtbar Gefallen an meinem Gastgeschenk gefunden. Er trug die alte Rittmeisteruniform auch an dem Tag, als er mir verkündete, ein Bote des Herrschers von Tibati sei eingetroffen und wolle mich sehen. So wie er sich »europäisch« verkleidet hatte, hatte ich mich seit unserer Ankunft in Jokó mohammedanisch verkleidet. Von einem Haussa-Händler hatte ich eine blaue Tobe, das klassische mohammedanische Gewand, und einen weißen Turban erstanden. Beides stand mir vorzüglich. Der Gesandte von Tibati war ein großgewachsener, eleganter Mann in roter Tobe, dessen noble Gesichtszüge bewiesen, was für eine edle Rasse die Fulbe sind – im krassen Gegensatz zu den meist plattnasigen, wulstlippigen Negervölkern, denen wir bisher begegnet waren. Er ließ mir ausrichten, daß der Lamido mich herzlich grüße und gerne bereit sei, mich zu empfangen.

Die Regenzeit dachte immer noch nicht an Abschied, obwohl es schon gegen Ende November war. Immer wieder verdüsterte sich der Himmel und die Sintflut brach hernieder. Kein Wunder, daß mein Fieber sich wieder verstärkte und mich täglich mehr schwächte. Die Gerüchte, die von reisenden Haussa-Händlern genährt wurden, daß sich eine Expedition mit Weißen Sanseri näherte, ließen mich schnellstmöglich aus Jokó aufbrechen. Möglicherweise würde es doch noch ein heißer Zieleinlauf werden.

Nach den Tagen der Ruhe machte mich das Schaukeln meiner Tragehängematte wieder seekrank. Mein Zustand verschlechterte sich eines Morgens erneut zusehends, beinahe wäre ich in vollkommene Bewußtlosigkeit gefallen, doch die Furcht, daß jeder weitere Aufenthalt der französischen Handelsexpedition Vorteile bringen könnte, trieb mich weiter. Und wenn ich vor dem Lamido tot umfallen würde, ich durfte dem Franzosen nicht den Triumph überlassen, als erster eine Station in Sanseri zu gründen. Noch an diesem Tag wollte ich den Ort erreichen, so trieb ich die Träger meiner Hängematte zur Eile an und bei Einbruch der Dämmerung erreichten wir tatsächlich die Stadt. Nun, eigentlich war es mehr ein riesiges Dorf mit großen, runden Spitzhütten, die von hohen Mattenzäunen umgeben waren.

Wir mochten nur noch wenige hundert Meter von dem Dorfeingang entfernt sein, als ein Tumult losbrach. Unter gellendem Geschrei kamen mir rund fünfzig Reiter auf aufgeputzten Pferden entgegengaloppiert. Die Reiter trugen rote Tuchkleider, die im Wind flatterten, und Turbane. Für einige Sekunden fürchtete ich, man würde uns über den Haufen reiten, doch ein paar Schritte vor mir brachte die wilde Schar ihre Rösser zum Stehen. Sie senkten mir ihre Lanzen als Zeichen des Grußes entgegen. Geleitet von dem Begrüßungskommando betrat ich das Dorf. Neugierige Einwohner drängten von allen Seiten herbei.

Man brachte mich auf den großen Platz inmitten des Dorfes, wo sich die beeindruckenden Häuser des Königs befanden. In der Tür wartete ein Jüngling in kostbar bestickter Tobe. Zweifelsohne König Amalamu. Ich muß zugeben, daß ich selten einen schöneren Mann gesehen habe, er mochte höchstens fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sein. Seine Gesichtsfarbe war wie goldener Samt. Seine nachtblauen, mandelförmigen Augen blickten mich neugierig und durchdringend an. Vom Munde ab war der untere Teil seines Gesichts mit einem »Litam«, einem Gesichtsschleier, bedeckt. Auf dem Kopf trug er einen riesigen weißen Turban, eine helle Locke lugte daraus hervor. Ich wollte auf ihn zugehen, um ihm nach europäischer Art die Hand zu geben, doch er hob seine Hand halb abwehrend, halb grüßend. Ich erwiderte die Geste und wartete, doch es passierte nichts weiter. Die Zeremonie war beendet, der Lamido zog sich in sein Haus zurück.

Wir wurden zu unserem Lagerplatz geleitet. Am südlichen Dorfrand bekamen wir auf einer abgeweideten Farm an einem kleinen Bach einen idyllischen Platz zugewiesen. Während mein Zelt aufgeschlagen wurde, bemerkte ich in der Nähe einen weiteren Zeltlagerplatz. Sollte es die Expedition von Gaillard & Fils doch geschafft haben? Wut und Verzweiflung stiegen in mir hoch. Mir blieb nichts anderes übrig, als den nächsten Tag abzuwarten, um die Sache zu klären.

Am Morgen des nächsten Tages schleppte ich mich trotz zittriger Knie auf das Feld und tat so, als ob ich mir ein wenig die Beine vertreten wollte. In der Nähe des anderen Zeltlagers schlich ein Europäer gekrümmt in Richtung Latrine. Als er nach einer Weile zurückkam, bemerkte er mich und blieb stehen. Ich hatte den französischen Agenten noch nie gesehen, aber ich war mir sicher, daß nur er es sein konnte. »Bonjour«, rief ich ihm zu und sammelte mein bestes Französisch, um ihn zu fragen, wie es ihm ginge. Er antwortete, daß es ihm hundsmiserabel ginge. Ihn hatte die Dysenterie erwischt. Schon seit Wochen schleppte er sich damit durch die Gegend. Sein Zustand war so schlimm, daß er seit seiner Ankunft in Sanseri Anfang Dezember noch keine Gelegenheit gehabt hatte, dem Lamido seine Aufwartung zu machen. So sehr mich der Zustand des Franzosen auch dauerte, mir fiel ein Stein der Erleichterung vom Herzen. Noch erleichterter war ich, als ich endlich nahe zu dem Mann hingegangen war und seine blassen, von der Krankheit ausgemergelten Gesichtszüge erkannte. Es war nicht der Agent von Gaillard & Fils, sondern der deutsche Leutnant Curt Morgen. Auf seiner Durchquerung Kameruns von Süd nach Nord war der wackere Abenteurer etliche Tage vor uns in Sanseri gestrandet und hier zur Untätigkeit verdammt ans Bett gefesselt. Was mußten wir lachen, als wir uns gegenseitig berichteten, daß jeder von uns auf Hängematten siechend in das Dorf getragen worden war.

Beschwingt ging ich in mein Zelt zurück und beschloß, den Lamido noch an diesem Tag zu besuchen. Ich nahm zur Sicherheit noch ein wenig Opium, dann marschierte ich mit meinem kleinen Gefolge los. Es war kurz vor neun Uhr morgens, die übliche Audienzzeit. Kaum hatten wir uns auf den Weg gemacht, da ertönten vom Königsplatz her drei Schüsse, die ankündigten, daß der Herrscher seine Privatgemächer verlassen und die Empfangshalle betreten hatte. Diese offene Halle steht mitten auf dem Platz. Neugierige Blicke empfingen uns, als wir auf den großen Platz traten. Vor der Empfangshalle warteten rund sechzig Häuptlinge mit ihrem Gefolge, um dem König Bericht zu erstatten oder um Rat zu fragen. Am Rande des Platzes scharrten und wieherten die Pferde. Knechte und Diener standen gruppenweise herum und plauderten. Ihre Herren, teilweise mit kostbaren Toben bekleidet, saßen auf Bänken oder großen Steinen und diskutierten eifrig. Mit meinem Erscheinen verstummten die Gespräche. Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Adjia, lief in die Halle, um dem Lamido meine Ankunft zu melden. Schon durfte ich das Haus betreten.

An der Wand, die dem Eingangstor gegenüberlag, thronte Amalamu auf einem Sitz aus Lederkissen. Auch diesmal waren von seinem Gesicht nur Augen und Nase zu sehen. Sein schneeweißer Turban und das daran befestigte Litam verdeckten die restliche Gesichtspartie. Nach Gruß und Gegengruß ließ ich Amalamu meine Geschenke überreichen. Sie schienen mir erbärmlich angesichts der prächtigen Erscheinung des Königs. Fünf Feuersteinflinten, zwei Ballen gelbe und drei Ballen rote Halbseide, ein Ballen blauer Samt, vier Pakete Polsternägel (die die Fulbe zum Verzieren ihrer Sättel lieben), fünf kleine versilberte Spiegel sowie noch ein wenig Glasperlen und Tand für die Frauen. Ich entschuldigte mich in aller Form, daß ich nicht mehr vorzuweisen hatte, doch die lange Reise und die vielen Häuptlinge, die man unterwegs mit Geschenken bedenken mußte, hätten leider nur diese bescheidenen Gaben übriggelassen.

Amalamu stoppte mit einer kurzen Handbewegung meine Rede. Dann sagte er: »Du hättest mich auch mit einem einzigen Reiskorn glücklich gemacht. Denn es kommt nicht darauf an, was ich geschenkt bekomme, sondern von wem ich es erhalte!« Dann überreichte ich ihm die Reichsflagge, die ich mitgenommen hatte. Wenn es mir gelingen würde, sie hier zu hissen, könnte ich mich stolz Gründer einer deutschen Station nennen. Amalamu zog verwundert die Augenbrauen hoch und fragte mich nach dem Zweck dieses Geschenks. Ich erläuterte es ihm.

»Ich werde auch dieses Geschenk annehmen«, sagte er schließlich höflich. »Doch deinem Wunsch kann ich nicht nachkommen, denn wenn ich die Flagge hisse, wäre dein Herrscher mein Herrscher. Mein Herrscher ist aber Subeiru, der Lamido von Yola.« Er legte die Fahne beiseite und gab mir ein Zeichen, mich zu setzen. Unser Gespräch zog sich schon deshalb lange hin, weil jeder Satz von mehreren Dolmetschern übersetzt werden mußte. Ich sprach zu meinem Wute-Mann englisch, dieser sagte es in seiner Sprache zu einem Haussa, der Haussa wiederum dolmetschte es in Haussa-Sprache einem Fulbe und dieser übersetzte es dann seinem König. Letztendlich konnte ich die Aufmerksamkeit auf den Grund meines Hierseins lenken. Amalamu lachte, als er mein Ansinnen hörte. »Wenn du gute Geschäfte machen willst«, so antwortete er, »dann wende dich an die Haussa. Über ihre Händler bekommen auch wir alles, was wir brauchen und wollen.«

»Es läge mir fern, den Haussa ins Handwerk zu pfuschen«, entgegnete ich. »Doch wenn Ihr mir erlaubt, hier in Sanseri oder in einer anderen Stadt eine Faktorei zu errichten, könnte ich Euch auf direktem Weg mit Waren aus Europa beliefern. Die neuesten Feuerwaffen, mit denen Ihr Eure Feinde noch besser besiegen könnt. Edle Stoffe für Eure Frauen. Werkzeuge, Möbel, Maschinen.«

»Und womit sollen wir diese Waren bezahlen?«

»Mit Kolanüssen, Elfenbein, Lederwaren und Pferden zum Beispiel.« Die Verhandlungen dauerten den halben Tag und gingen auch beim abendlichen Festmahl in der großen Empfangshalle weiter. Es machte meinem Gastgeber und seinem Gefolge sichtbar Spaß, alles aufs Neue abzuwägen, Argumente und Gegenargumente zu finden und zu feilschen. Ich gewöhnte mich schnell an dieses Spiel und machte mit. Das Essen, das uns gereicht wurde, war üppig und köstlich. Fleisch, Gemüse, Fufu, Milch, Kartoffeln und Bananen in enormen Mengen. Dazu Maisfladen und eine Fülle süßer Kuchen und kleiner Backwaren. Eine winzige Bemerkung meinerseits über das Naschwerk sollte noch ungeahnte Folgen haben. Ich lobte beiläufig einen Kuchen aus Datteln, Nüssen und Zuckersirup, der es geschmacklich mit dem erlesensten Feingebäck eines europäischen Konditors aufnehmen konnte, und seufzte: »Wenn ich doch auch in Zukunft so delikate Köstlichkeiten genießen könnte, wie sie die Köche des Lamido zubereiten.«

»Wenn dein Koch nicht einmal das kann«, entgegnete Amalamu, »solltest du ihn auspeitschen lassen und davonjagen.«

»Das würde ich«, antwortete ich schmunzelnd. »Wenn ich einen hätte!«

»Du reist ohne Koch?« Der Lamido schaute mich fassungslos an. »Das ist keine Art zu reisen.« Er schüttelte den Kopf, und die Unterhaltung drehte sich bald um andere Dinge.

»Massa, der Lamido schickt Ihnen noch ein Geschenk«, rief mir mein Boy Robert zu und kam aufgeregt angelaufen. Unsere Expedition war zur Abreise bereit, die Träger schulterten ihre Last, die Wute-Männer scharrten ungeduldig mit ihren Füßen.

»Noch ein Geschenk? Ich sitze doch schon auf einem«, sagte ich und tätschelte dem edlen Schimmel, den mir der Lamido am Vortag überlassen hatte, den Hals. Wir waren uns in der Woche unseres Aufenthaltes handelseinig geworden. Meine ganzen Befürchtungen wegen Gaillard & Fils waren unnötig gewesen. Nicht einmal die täglich aus allen Himmelsrichtungen ankommenden Haussa-Händler wußten etwas von einer weißen Expedition aus Südosten zu berichten. Außer Curt Morgen, der mittlerweile wieder genesen war und noch ein paar Tage in Sanseri-Tibati bleiben wollte, und mir gab es keinen Weißen weit und breit. Mit dem Triumph, als erster Europäer einen Handelsvertrag mit dem mächtigen Tibati-König abgeschlossen zu haben, wollte ich so schnell als möglich zurück nach Duala. Zugegeben, der Abschied fiel mir schwer, denn Amalamu sorgte reichlich für unseren Unterhalt, verwöhnte uns regelrecht mit Speisen und Aufmerksamkeiten. Und nun, nachdem wir uns schon verabschiedet hatten, also eine weitere Aufmerksamkeit, ein weiteres Geschenk.

 

»Ich glaube nicht, daß Sie auf diesem Geschenk sitzen können.« Robert gluckste und deutete hinter sich. Dort stand ein junges Mädchen, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, das in ein gelb-rot-gemustertes Haussa-Tuch gewickelt war, auf dem Kopf trug sie einen kleinen Turban aus demselben Stoff. Ihre Haut hatte die Farbe einer Wiener Kaffeespezialität mit viel Schlagobers, hellbraun und zart. Sie lächelte mir freundlich zu.

»Ist das ein Scherz?« fragte ich. »Das Mädchen soll ein Geschenk sein?«

»Nun, sie ist die Sklavin, die den leckeren Kuchen bereitet hat, den Sie neulich so gelobt haben. Sie heißt Ngossi.«

»Aber ich kann mir doch kein Mädchen schenken lassen, nur weil ich ihre Backkunst bewundere.«

»Es heißt, daß sie auch sonst eine sehr gute Köchin ist. Sie brauchen sich nicht zu bedanken, Massa, das habe ich schon erledigt. Wir sollten aufbrechen.« Für Robert schien die Sache sonnenklar.

»Robert!« rief ich ihn zur Raison. »Wir können das Mädchen nicht mitnehmen.«

»Warum nicht?«

»Sie mag nach fulbischem Recht eine Sklavin sein, aber nach deutschem Recht gibt es keine Sklaverei!«

»Keine Sklaven? Was soll das denn für ein Recht sein?! Dann wollen Sie das Mädchen zurücklassen? Das Geschenk des Lamido zurückweisen? Massa! Ngossi ist vom König für Sie ausgesucht worden!«

Robert hatte natürlich recht. Ich konnte es mir gar nicht leisten, ein Geschenk des Lamido zurückzuweisen. Alles, was ich erreicht hatte, hätte auf dem Spiel gestanden, wenn ich Amalamu auf diese Art beleidigen würde. Eine Köchin konnte ich brauchen. Also beschloß ich, das Mädchen mitzunehmen und ihr die Freiheit zu schenken, sobald wir aus dem Einflußgebiet der Tibati heraus waren. Dann könnte das unglückliche Kind endlich zu ihrer Familie zurückkehren, oder zumindest zu ihrem Stamm. Als ich meinem Schimmel die Sporen gab und der Abmarsch begann, freute ich mich schon auf den Moment, in dem ich Ngossi von den Ketten der Knechtschaft lossagen würde. Ach, wie naiv ich damals noch war! Wie hätte ich auch ahnen können, daß dieses wohlgemeinte »Geschenk«, dieses Mädchen, quasi mein künftiges Schicksal mitentscheiden würde.

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