Buch lesen: «Jenny Marx»

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über die Autorin

Marlene Ambrosi studierte Germanistik und Geschichtswissenschaft an der Universität Konstanz und unterrichtete Deutsch und Geschichte an Gymnasien in Baden-Württemberg, Berlin und Rheinland-Pfalz. In Trier, der Heimatstadt von Jenny und Karl Marx, lebte sie von 1993 bis 2010; seitdem beschäftigt sie sich mit Jenny von Westphalen, der Ehefrau von Karl Marx.

Impressum:

© Verlag Michael Weyand GmbH, Trier

www.weyand.de, Tel. 0651/9960140

Gestaltung: Sabine König, Jennifer Neukirch

Fotos: Gabriela Böhm, Friedrich-Ebert-Stiftung, Verlag Michael Weyand, Wikipedia.de

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages.

1. Auflage 3/2015

ISBN: 978-3-942 429-55-9

Die Autorin und der Verlag bedanken sich für Anregungen, Hinweise und Lektorat bei Beatrix Bouvier, Hans-Joachim Kann, Peter Vollmer, Gabriele Belker.

DIE FRAU KOMMT NICHT IMMER NACH DEM MANN

Jenny von Westphalen ist ein wenig bekannter Name. Liest man jedoch die Inschrift „the beloved wife of Karl Marx“ auf ihrem Grabstein, wird der Name zum Begriff. Fast ein halbes Jahrhundert lang gingen die adlige Dame von Westphalen und der bürgerliche Intellektuelle Marx gemeinsam durchs Leben. Auch auf dieses Paar trifft die Volksweisheit zu: „Hinter jedem großen Mann steht eine große Frau!“ Jenny Marx stand im Sinne dieser Worte hinter ihrem Mann, ein Leben lang. Sieben Jahre waren sie verlobt, 38 Jahre verheiratet, und rechnet man die Jahre der Kindheit und der Jugend hinzu, dann haben sich die beiden mehr als sechzig Jahre gekannt. Auf Jennys substantielle Bedeutung für Marx wies Friedrich Engels’´ Ausruf nach ihrem Tode hin: „Jetzt ist der Mohr auch gestorben!“ Der Mohr, wie Karl Marx in Familie und im Freundeskreis genannt wurde, benötigte sein Leben lang ihre Liebe, ihre Unterstützung für seine große Aufgabe und ihren Glauben an sein Genie. Ohne die Aufopferung seiner Frau wäre sein Leben anders verlaufen; vielleicht hätte er als schrulliger Professor oder als verkrachte Existenz sein Dasein gefristet, sich als Clochard unter den Brücken von Paris dem Alkohol ergeben oder seine Bestimmung in London als sonntäglicher Redner im Hyde-Park gefunden. Nur weil er sich Jennys unerschütterlicher Liebe sicher war, konnte er die Energie aufbringen, seine – und auch ihre – Ziele zu verfolgen.

In der DDR, der Sowjetunion und den anderen kommunistischen Staaten wurde das Andenken an Frau Jenny Marx als treue Gefährtin des großen Vordenkers gewürdigt. Informationen und Tatsachen aus dem Leben des Ehepaares allerdings, die dem marxistischen Wunschbild widersprachen, waren nicht genehm. Das Bild des großen Karl Marx und seiner Familie durfte nicht beschmutzt werden, der übervater sollte unbefleckt und seine Familie „heilig“ gehalten werden. Man wollte Marx nicht vom Sockel der Verehrung stürzen müssen, indem man über sein nicht immer untadeliges Privatleben berichtete. Seriöse Autoren verzichteten lieber darauf zu publizieren, als dass sie verschwiegen oder wider besseres Wissen vertuschten. Hinzu kam, dass in der Realität Gleichheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht wie in der Theorie gepriesen umgesetzt wurden. Die Frau an der Seite dieses Mannes fand als eigenständiges Wesen nur wenig Beachtung. Es gab zwar in der ehemaligen DDR Straßen und Einrichtungen, die den Namen „Jenny Marx“ trugen, aber dies war eher eine Reminiszenz an die verehrte Ehefrau des „Vaters des Kommunismus“, nicht an die Frau an sich.

Die vorgeblich „ideologiefreie“ Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik Deutschland schenkte Frau Marx lange Zeit wenig Aufmerksamkeit. Sie wurde fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem großen „Klassenfeind“ oder dem großen „Linken“ beurteilt, wiederum nur als Anhängsel von Karl Marx. Damit wird man dieser Frau nicht gerecht. Ihr Schicksal verdient eine eigenständige und differenzierte Betrachtung, denn: Jenny von Westphalen/Marx führte sowohl ein revolutionäres als auch ein höchst traditionell-bürgerliches Leben im 19. Jahrhundert.

TEIL I – KINDHEIT UND JUGEND

Die Familie von Westphalen

Die Familie von Westphalen war kein bedeutendes Adelsgeschlecht; niemand ahnte, dass ihr Name ausgerechnet durch eine geborene Frau von Westphalen weltberühmt werden würde. Diese Frau, Johanna Bertha Julie Jenny von Westphalen, kam, wie dem Taufregister der Marienkirche in Salzwedel zu entnehmen ist, am 12. Februar 1814, einem Freitag, zur Welt. Drei Tage später wurde sie im elterlichen Haus protestantisch getauft. Durch ihre Zugehörigkeit zum Adel, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Gesellschaft und Staat dominierte, war sie privilegiert, auch wenn die Familie von Westphalen nicht reich war und auf der untersten Stufe in der Hierarchie des Adels stand.

Jennys Großvater, Christian Philipp Westphal, war aufgrund seiner Verdienste als Sekretär und Berater des Herzogs von Braunschweig im Mai 1764 von Kaiser Franz I. in den Reichsritterstand erhoben worden. Der „Edle von Westphalen“ heiratete Jane (Jean) Withart of Pittarow aus Edinburgh, deren Vorfahren der alten Adelsfamilie Chambpel/Argyll oder Argyle, so Jennys Schreibweise, angehörten. Die Aussteuer der schottischen Braut bestand aus kostbarem Tafelgeschirr, wertvollem Silberbesteck und Tischwäsche, verziert mit dem Monogramm der Herzöge von Argyll.

Das vierte Kind des Paares, Johann Ludwig, Jennys Vater, wurde 1770 in Bornum am Elm im Landkreis Helmstedt geboren. Er absolvierte in Braunschweig das Collegio Carolino und anschließend in Göttingen ein Jurastudium. 1794 kehrte er als Assessor in die Fürstliche Kammer nach Braunschweig zurück und heiratete vier Jahre später Elisabeth Luise Wilhelmine Albertine von Veltheim, genannt Lisette. Um sich ausschließlich seinem neu erworbenen Gut Rondeshagen zu widmen, quittierte er den Staatsdienst, ersuchte aber wenige Jahre später um Wiederaufnahme und wurde 1805 Kammerrat in Blankenburg. Zwei Jahre später trafen ihn zwei schwere Schicksalsschläge. Seine Frau starb im August 1807 mit erst 29 Jahren und ließ ihn mit Ferdinand Otto Wilhelm Henning (23.04.1799 – 02.07.1876), Anna Elisabeth (Lisette), später verheiratete Krosigk (05.10.1800 – 01.08.1863), Carl (22.07.1803 – 08.03.1840) und Franziska (07.05.1807 – 16.04.1896) zurück. Der zweite Schicksalsschlag war die Liquidierung des Fürstentums Braunschweig–Wolfenbüttel durch Napoleon I. Um seine Existenz zu sichern, ließ sich Westphalen 1808 im neu errichteten Königreich Westfalen von der französischen Besatzungsmacht zum Generalsekretär des Präfekten in Halberstadt und 1809 zum Unterpräfekten im Distrikt Salzwedel verpflichten. Hier hatte er in einem stattlichen Haus seinen Amts- und Wohnsitz. Seine Mutter führte ihm und den beiden Söhnen den Haushalt, während die Töchter von Verwandten seiner verstorbenen Frau aufgezogen wurden: Lisette von ihrer Patin Frau von Asseburg und Franziska von Luise von Röder. Nach dem Tode seiner Mutter im Juli 1811 heiratete Ludwig von Westphalen am 30. April 1812 die 31-jährige bürgerliche Amalie Julia Caroline Heubel aus Salzwedel, Tochter des Fürstlich-Schwarzburg-Rudolstädtischen Hof-Stallmeisters. Caroline versuchte dem 13-jährigen Ferdinand und dem 9-jährigen Carl eine gute Mutter zu sein. „Ich habe vier geliebte Kinder von der verstorbenen Frau meines Mannes; die Söhne waren von früher Jugend unter meiner Leitung, und daher meinem Herzen doppelt werth“ 1, versicherte sie 1837 ihrem Vetter Friedrich Perthes. Der junge Carl akzeptierte die zweite Frau an der Seite des Vaters, während der pubertierende Ferdinand seine Vorbehalte hatte.


Geburtshaus von Jenny von Westphalen in Salzwedel

Es waren unruhige Zeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch in Salzwedel. Nach der Niederlage Napoleons in Russland 1812 soll Unterpräfekt Westphalen zusammen mit anderen Bewohnern Salzwedels eine Abteilung russischer Kosaken, Verbündete der Preußen und Österreicher, als Befreier begrüßt und dadurch seine patriotische Haltung ausgedrückt haben. Dafür sei er hart bestraft worden. Als das französische Militär die Stadt zurückeroberte, sei er verhaftet worden und für kurze Zeit in Festungshaft nach Gifhorn gekommen.2

Die Völkerschlacht bei Jena und Auerstädt im Oktober 1813 beendete die wechselnden Besatzungen und Ludwig von Westphalen wurde Landrat in Salzwedel, nunmehr in preußischen Diensten. Diese Verpflichtung kam ihm sehr gelegen, da seine zweite Frau ihr erstes Kind erwartete. Als die Gutsbesitzer in der Altmark 1815 nach altem preußischem Recht wieder ihren Landrat selbst wählen durften, entschieden sie sich nicht für Westphalen, da sie ihm angeblich seine Tätigkeit in französischen Diensten nachtrugen und ihn als zu liberal empfanden. Die preußische Verwaltung suchte nach anderweitiger Verwendung für den Juristen.

Preußen hatte auf dem Wiener Kongress 1815 die Rheinlande und das ehemalige Kurfürstentum Trier zugesprochen bekommen und brauchte geschulte und nicht zu konservative Beamte für die neue preußische Rheinprovinz. Ludwig von Westphalen schien geeignet und wurde Erster Rat in der königlich-preußischen Provinzialregierung in Bezirk und Stadt Trier. Im Frühsommer 1816 trat Westphalen seine Arbeit in der Grenzstadt an.

1 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.405

2 Dornemann, Jenny Marx, S.19

Die neue Heimat – eine Stadt mit wechselvoller Geschichte

Der neue Wohnort Trier war die älteste Stadt Deutschlands; im Jahre 17 v. Chr. als Augusta Treverorum unter Kaiser Augustus gegründet, war sie im 3. Jhd. eine der vier Hauptstädte des Römischen Reiches, in der unter anderem Kaiser Konstantin residierte. 80.000 Einwohner zählte sie in ihrer Blütezeit als römische Metropole.

Nach dem Zusammenbruch des Römischen Weltreiches versank Trier nicht in der Bedeutungslosigkeit, sondern behielt sein Ansehen durch seinen Bischofssitz, den ältesten in Deutschland. Der Bischof von Trier gehörte zusammen mit seinen geistlichen Kollegen aus Köln und Mainz zu den sieben einflussreichen Kurfürsten, den Säulen des Reiches, die von 1356 bis 1806 den deutschen (römischen) König wählten, das Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Um weltliche Macht zu demonstrieren, ließen sich die Kurfürsten Schönborn und Walderdorff im 18. Jahrhundert u.a. nach Plänen von Balthasar Neumann eine repräsentative Residenz erbauen, angegliedert an die ehemalige römische Palastaula – die heutige Konstantinbasilika.

Der Kurfürstliche Staat war feudalistisch geprägt, aber die Bevölkerung Triers verteidigte ihre Stadtrechte. 1785 wurde Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Sachsen über den auf Freiheit von staatlicher Vormundschaft und Selbständigkeit gerichteten Geist der Bürgerschaft informiert. Daher verwundert es nicht, dass die Forderungen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der französischen Revolution von 1789 zunächst auf Zustimmung stießen.

Die revolutionären Ereignisse hatten dann allerdings schwerwiegende Folgen für Trier. Im Verlauf des ersten Koalitionskrieges wurde die Stadt am 9. August 1794 von französischen Truppen eingenommen, der Kurstaat aufgelöst. Die Bevölkerung musste demütigende Requisitionen und Kontributionen über sich ergehen lassen, musste ohnmächtig hinnehmen, dass der Universitätsbetrieb eingestellt und die Mehrzahl der Kirchen, Stifte und Klöster säkularisiert wurden. Nach der Auflösung des Kurstaates ließ Napoleon das kurfürstliche Palais zur Kaserne degradieren, und bei dieser Regelung blieb es bis 1918! Im Frieden von Lunéville 1801 wurden vier linksrheinische Departements geschaffen und Trier zur Hauptstadt des Departements de la sarre erhoben. Die Bewohner/innen erhielten die französische Staatsbürgerschaft. Sie arrangierten sich mit den neuen Gegebenheiten und profitierten davon, dass ihre Stadt wirtschaftliches, politisches und kulturelles Zentrum der Region wurde. Die Errichtung einer Porzellanmanufaktur, die allerdings nur zwölf Jahre bestand, die Intensivierung der Tuchfabrikation und der Zugang zum französischen Markt für alle Produkte wie den Moselwein steigerten den Wohlstand und förderten den inneren Frieden. Das für die vier neuen Departements zuständige Appellationsgericht (1803 bis 1819) erhöhte Triers Bedeutung. Die fremden Herren waren nicht beliebt, aber auch nicht so sehr verhasst, weil Napoleons Regime zwar absolut war, aber auch liberale Züge hatte. Nach dem „code civil“ war ein jeder, unabhängig von seiner Religion, vor dem Gesetz gleich und konnte sich im Rahmen der Gesetze frei entfalten. Nach Napoleons Niederlage war die Prosperitätsphase beendet und die Bevölkerung musste sich auf eine neue Fremdherrschaft einstellen. Die am 6. Januar 1814 von preußischen Truppen eingenommene Stadt kam nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses zum Königreich Preußen. Trier wurde Garnisonsort und Sitz eines Regierungspräsidenten, der im Palais Walderdorff residierte. Die meisten Trierer/innen, darunter Heinrich Marx, begrüßten die Niederlage der Franzosen, was jedoch keine uneingeschränkte Akzeptanz des Preußentums bedeutete. In den gebildeten Kreisen wurde die französische Kultur der preußischen als überlegen erachtet. Man sprach nach wie vor gerne französisch, las, so auch Heinrich Marx, französische Zeitungen und die Werke Voltaires und Racines und trauerte dem „code civil“ nach. Einen Hauch fortschrittlichen Geistes versuchte man zu bewahren, beispielsweise im 1806 gegründeten Trierer Theater, das Schauspiele von Goethe, Schiller, Lessing und Kleist aufführte, und in der seit 1816 existierenden „Casino-Gesellschaft“, die für die wohlhabende Oberschicht Vorträge, Theateraufführungen und Bälle veranstaltete.

12.000 Menschen lebten um 1816 in Trier, darunter 200 Juden und 300 Protestanten, zu denen die Familien Marx und Westphalen gehörten. Für die Katholiken der Stadt waren sie andersgläubige Außenseiter, und da die meisten von ihnen Repräsentanten der preußischen Verwaltung oder des Militärs waren, wurden sie doppelt kritisch beäugt.

Die Familie von Westphalen bezog in der Neugasse 389, heute Neustraße 83, ein Haus, das einem wichtigen Amtsträger angemessen war und der Familie genügend Platz bot.

In Trier gehörte Ludwig von Westphalen zu den Honoratioren der Stadt und war mit 1.800 Talern Jahresgehalt der bestbezahlte Justizangestellte. Dies bedeutete allerdings nicht, dass die Familie zu den vermögenden gehörte. Da der Vater keine Einkünfte aus Gütern bezog, basierte die Existenzgrundlage der Familie auf seiner Entlohnung, die besser gewesen wäre, wenn er erfolgreicher Karriere gemacht hätte. Dem war nicht so. Der Beamte soll zwar sehr fleißig und kenntnisreich gewesen sein, aber seine Darstellungen waren zu ausschweifend und umständlich und er soll rechthaberisch agiert haben. Vielleicht war auch Westphalens kritisch-liberale Einstellung, die ihn einst für das Amt prädestiniert hatte, nach Etablierung der preußischen Macht seinem Aufstieg hinderlich. 1824 wurde seine wirtschaftliche Lage mit „kein Vermögen“ eingestuft und 1832 hieß es in den Konduitenlisten der Regierung: „Das Vermögen ist sehr unbedeutend“. Dennoch kann man sagen, dass Westphalens gut situiert waren.

Es ist nicht bekannt, mit welchen Titeln die Mitglieder der Familie von Westphalen in Trier förmlich angesprochen wurden. Philipp Westphal war in den Reichsritterstand aufgenommen worden. Er konnte sich Ritter oder Edler nennen und vor seinen Nachnamen ein „von“ stellen, aber nicht den Titel Baron führen. Dennoch wird Jenny von Westphalen/Marx auch in diesem Buch als „Baronesse“ bezeichnet, aus folgenden Gründen: 1. ihre Tochter Eleanor berichtete Wilhelm Liebknecht, dass ihr Vater nicht müde geworden sei, „uns von dem alten Baron von Westphalen zu erzählen“. 2. Auch Enkel Edgar Longuet bezeichnete seine Urgroßmutter als „Baronin von Westphalen“. 3. Karl Marx selbst nannte seine Frau nachweislich „Baronesse“. So schrieb er ihr 1864: „ ... nimm Dich mit Deinen Baronessekarten in acht“, womit Visitenkarten mit dem Aufdruck: „Mme. Jenny Marx née Baronesse von Westphalen“ gemeint waren, und 1878 sprach er in einem Brief an Sigismund Schott von der „Ex-Baronesse von Westphalen“. Die Mitglieder der Familie von Westphalen werden vermutlich in Trier Baron, Baronin oder Baronesse genannt worden sein und Karl Marx hat diese Benennung übernommen.1

1 Limmroth, Jenny Marx. Die Biografie, S.23 und Mohr und General, S.142 und S.327

Kinderjahre

Die Jahre 1816 bis 1830

Der Umzug von Salzwedel nach Trier tangierte die zweijährige Jenny wenig, da sich ihr unmittelbares Umfeld nicht veränderte. Mutter, Vater, Großvater Heubel und Bruder Carl blieben fest an ihrer Seite, kümmerten sich liebevoll um sie. Ferdinand, der älteste Bruder, begleitete die Familie nicht an die Mosel, sondern studierte nach dem Abitur, das er 1816 noch in Salzwedel ablegte, in Halle, Göttingen und Berlin.


Geburtshaus von Jenny von Westphalen in Salzwedel

Jenny bekam weitere Geschwister: Am 16. März 1817 wurde Helena Laura Cecilia Charlotte Friederike geboren und am 26. März 1819 Gerhard Julius Oscar Ludwig Edgar. Ansonsten ist wenig bekannt über Jennys erste Lebensjahre. Als Vierjährige litt sie unter „einer Kopfkrankheit“, „einem fatalen Ausschlag“, der immer wieder ausbrach und mit den Mitteln der Zeit bekämpft wurde. Der Vater beschrieb in einem Brief an die Geheimrätin von Asseburg, bei der seine Tochter Lisette lebte, die Prozedur: „Bei der armen reizbaren Jenny beschränken wir uns auf das Herausziehen mit der Pincette und auf öfteres Einsalben mit Butter, Schwefel, Lauge und Waschen mit schwarzer Seife.“ 1 Kein Wunder, dass sie auf diese Behandlungsmethode äußerst unwirsch reagierte. Wenn man sie nicht solchermaßen quälte, war sie, wie der Vater wiederum Frau von Asseburg berichtete, ein Prachtkind: „Jenny ist sehr possierlich und macht uns viel Spaß; sie singt recht niedlich und spricht … – ein ganz undeutsches Kauderwelsch, was sie nur von der Dienerschaft gelernt haben kann, da sie wegen ihres Ausschlages gar nicht mit anderen Kindern Gemeinschaft hat und fast nicht aus dem Hause kommt.“ 2 Das belastete das kleine Mädchen wenig. Sie war ein glückliches Kind, das im Mittelpunkt der Familie stand und genügend Gesellschaft hatte.

Klein-Jennys fröhliches, unbeschwertes Leben wurde durch eine Krankheit ihrer jüngeren Schwester jäh unterbrochen. Tage, vielleicht auch Wochen lang erlebte sie als Siebenjährige die wachsenden Sorgen um die kleine Schwester, die Hoffnungen und die Hilflosigkeit der Eltern. Am 3. April 1821 starb Laura mit vier Jahren an Stickhusten und schleichendem Fieber. Jenny vermisste ihre Spielkameradin und schloss sich nun noch inniger dem kleinen Bruder Edgar an.

Der Vater widmete ihr gerne seine Zeit, schließlich war sie die einzige Tochter, die bei ihm aufwuchs, deren Größerwerden er erleben durfte. Er vermittelte dem wissbegierigen Kind erste Kenntnisse in Lesen und Schreiben und als „Halbschotte“ war er daran interessiert, dass seine Kinder seine Muttersprache lernten.

Ob Jenny eine Schule besuchte, ist unbekannt. Die 1. Evangelische Pfarrschule in Trier kam für das adlige Fräulein nicht in Frage, da nur ein Lehrer für 100 Schülerinnen zuständig gewesen sein soll. Die Erziehungs- und Bildungsanstalt von Mme. de Staël oder das Institut von Thekla Bochkoltz schienen geeigneter, aber vermutlich blieb sie zu Hause, zumal die Schulpflicht nur für Jungen galt. Später durfte sie vielleicht dem Unterricht beiwohnen, der Bruder Edgar von einem Hauslehrer erteilt wurde. Es war nicht ungewöhnlich in Familien von Stand, die Töchter an den Privatstunden für die Jungen teilnehmen zu lassen und häufig lernten die Mädchen besser die Lektionen, waren wissensdurstiger als die jungen Herren, die zukünftigen Herrscher über Familie und Staat.

Jenny wurde laut Kirchenbuch zu Trier am 30. März 1828 in der heutigen Jesuitenkirche konfirmiert. Ihr Konfirmationsspruch lautete: „Ich lebe, aber doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“. Ein Motto, das man auf ihr späteres Leben übertragen kann, nur atheistisch verfremdet mit Karl Marx als Bezugsperson.

Die Familie von Westphalen verkehrte überwiegend im überschaubaren evangelisch-protestantischen Umfeld, und so war es nicht verwunderlich, dass sich Jenny mit der zwei Jahre jüngeren Sophie Marx anfreundete. Bald hatten beide ihre jüngeren Brüder Karl und Edgar im Schlepptau. Die vier bildeten viele Jahre lang ein Quartett. Jennys und Karls jüngste Tochter Eleanor erzählte später, sich auf Augenzeugenberichte ihrer Tanten Sophia Schmalhausen und Louise Juta berufend, „daß Mohr ein schrecklicher Tyrann war; er zwang sie, in vollem Galopp den Markusberg in Trier herunter zu kutschieren, und was noch schlimmer war, er bestand darauf, daß sie die Kuchen äßen, welche er mit schmutzigen Händen aus noch schmutzigerem Teig selbst verfertigte. Aber sie ließen sich das alles ohne Widerspruch gefallen, denn Karl erzählte ihnen zur Belohnung so wundervolle Geschichten.“ 3 Es fällt schwer zu glauben, dass diese Beschreibung sich auf die vier Jahre ältere Jenny bezieht. Sie war schon als junges Mädchen durchsetzungsfähig, übte Widerspruch und bediente sich überlegener Redensarten. Wenn dies alles nichts nützte, blockte sie ab, wurde bockig – und da ihr Umfeld so vernarrt in sie war, hatte sie es nicht schwer, ihren Willen durchzusetzen. Je älter sie wurde, desto mehr bestach sie durch ihre Schönheit und nahm durch ihren Charme die anderen für sich ein.

Traditionsgemäß war das Leben einer jungen adligen Frau ausschließlich auf Heirat, Kindergebären und Repräsentieren ausgerichtet und entsprechend wurde die Baronesse von Westphalen erzogen und unterrichtet. Lesen, Schreiben, Singen, Klavierspielen, Handarbeiten und Konversation auf Französisch und Englisch waren die Fertigkeiten, in denen man junge Damen von Stand unterwies. Mädchen erhielten keine Ausbildung, um eine Grundlage zum selbständigen Lebensunterhalt zu erlangen; dieser Gedanke war abwegig. Die Existenzsicherung war Aufgabe des Mannes.

Jenny von Westphalen wuchs in einer bildungsbewussten Familie auf. Bruder Ferdinand rühmte noch in seinen Lebenserinnerungen, dass der Vater „unsre Herzen und Gedanken noch in den späten Abendstunden durch seine köstlichen Vorlesungen“ 4 erfreute. Aus den Werken Homers, Ovids, Shakespeares, Goethes und der Romantiker las man sich gegenseitig vor. Shakespeares Dramen begeisterten Jenny und Karl besonders und sie übertrugen später diese Liebe auf die Töchter; Eleanor konnte schon mit sechs Jahren ganze Passagen aus der „Hausbibel“ auswendig aufsagen.

Bruder Edgar und Karl Marx, die seit 1830 das Gymnasium zu Trier besuchten, das heutige Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, verbrachten ihre Freizeit gerne mit Ludwig von Westphalen. Da auch Jenny sich für alles Wissenswerte interessierte und klug argumentierte, brachte es der Vater nicht übers Herz, sie aus dem männlichen Kreise zu verbannen. Ein kleiner Trost, denn trotz aller Belesenheit, Kritikfähigkeit und genialer Geistesblitze konnte Jenny von Westphalen aufgrund ihres Frauseins weder gymnasiale noch universitäre Bildung erlangen.

Vater von Westphalen begnügte sich nicht mit geistiger Bildung, sondern lebte nach dem Motto: „mens sana in corpore sano“. Ein- bis zweimal täglich badete er – bei angemessenen Temperaturen – in der Mosel. „Er ermangelte auch nicht, uns, seinen Kindern die Befreundung mit dem kalten Wasser angelegentlich zu empfehlen, und wir, wenigstens Carl, Franzisca und ich … schlossen uns des enthusiastischen Vaters Beispiel möglichst eifrig an. Jeden Morgen um 5 Uhr wanderten wir mit dem Vater hinaus über St. Matthias nach dem ,Herrenbrünnchen‘, einem klaren Quell gesunden Wassers, und schlürften der Becher mehrere“ 5 , pries Ferdinand das Vorbild des Vaters. Ferner „stärkte (man) den Körper durch kalte Waschungen und Nachmittags-Wanderungen über Berg und Thal.“ 6 Jenny wird sich diesen Vergnügungen angeschlossen haben.

1 Krosigk, Jenny Marx, S.16

2 Krosigk, Jenny Marx, S.16

3 Krosigk, Jenny Marx, S.17

4 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.510

5 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.512

6 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.512

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