Beatrice – Rückkehr ins Buchland

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Aus der Reihe: Buchland #2
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„Das ist das Arbeitszimmer“, erklärte Bea.

Das Mädchen ging nach nebenan, ohne um Erlaubnis zu fragen, und Bea blieb keine andere Wahl, als ihr zu folgen. „Das ist das Arbeitszimmer“, sagte Bea noch einmal. Sie kam sich etwas hilflos vor. Was sollte sie mit einem Kind reden, das ihr nicht antworten wollte?

Das Arbeitszimmer war das Herzstück des Antiquariats und Beas Allerheiligstes. Nie ließ sie Kundschaft in diesen Raum kommen. Na ja, eigentlich auch sonst niemanden. Der Einzige, der hier vielleicht hineingedurft hätte, wäre Ingo gewesen. Doch ihr Mann mied das Antiquariat. Er überquerte nicht mal die Türschwelle des Ladens. Irgendwie konnte sie es ihm nicht verübeln. Denn die vergangenen Ereignisse in diesen Räumen waren für ihn in einen Nebel des Unbegreiflichen gehüllt. Was damals mit ihm, mit ihr, mit Herrn Plana und dem Buchland geschehen war, war für ihn vermutlich am leichtesten zu ertragen, indem er es ignorierte oder sogar vergaß. Fakt war, dass sie nun wieder mit beiden Beinen fest auf dem Boden standen. Fakt war allerdings auch, dass sie dies diesem besonderen Antiquariat zu verdanken hatten.

Seit Herrn Planas Tod war hier fast alles unverändert geblieben. Links von Bea stand der Ohrensessel. Geradeaus von ihr war eine Tür, die zum Keller führte, daneben die Tür, die die Stiege ins Obergeschoss verbarg. Überdies gab es einen Sekretär, dazu einen Bürostuhl und ansonsten nur Bücher. Übervolle Regale verbargen alle Wände und erhoben sich bis unter die Decke. Und zwischen den beiden Türen befand sich ein großer runder Drehschalter, der verblüffende Ähnlichkeit mit einem Schiffstelegraphen aufwies.

Das Mädchen ging zu diesem Apparat und legte sachte die Hand auf den Hebel.

„Es wäre mir lieber, wenn du nicht damit rumspielst“, sagte Bea nervös. Warum war sie nur so angespannt? „Das ist nichts für Kinder.“

Als es plötzlich klingelte, schrak Bea gehörig zusammen. Sie fuhr herum und eilte zum Sekretär, auf dem das uralte Telefon lautstark ein akustisches Inferno anzettelte. Sie hob den Hörer von der Gabel, während ihr das Herz bis in den Hals hämmerte. „Buchantiquariat Liber, guten Tag.“

Ein Klackern am anderen Ende des Raumes erklang.

„Hallo Frau Sechtig“, sagte Bea freundlich.

Eine Mechanik wurde ratternd in Gang gesetzt.

„Das freut mich“, erwiderte Bea ziemlich gehetzt. Sie spürte, dass hinter ihrem Rücken etwas geschah, das nach ihrer Beachtung verlangte.

„Ja, das mag sein. Aber ich habe doch schon in meinem Schreiben darauf aufmerksam gemacht, dass …“

Ein dumpfes „Klonk“ ertönte. In einer Apparatur rasteten Zahnräder ein.

„Nein, wie ich bereits sagte: Eine Fortsetzung des Buches hatte ich nie geplant. Fantasy muss doch nicht immer in Serie produziert werden. Ich finde Fortsetzungen blöd.“

Die nachfolgende Stille war alles andere als beruhigend.

„Nein, über dieses Setting gibt es nichts mehr zu berichten.“

Bea drehte sich, während sie sprach, langsam um.

„Sobald ich wieder etwas schreiben sollte, werde ich es Ihnen mitteilen.“

Der Hebel des Maschinentelegraphen stand ganz vorne. Die Tür zum Keller war offen. Das Mädchen war verschwunden.

„Nein, in die Buchland-Story werde ich bestimmt nicht nochmal eintauchen“, stöhnte Bea, verabschiedete sich eilig, warf den Hörer scheppernd auf die Gabel und rannte dann, so schnell sie konnte, die Treppe hinunter.

Kuriose Ereignisse

Der Keller empfing Bea mit muffiger Dunkelheit. Es roch nach trockenem, sehr altem Papier. Sie sog das eigenwillige Parfum des Buchlandes tief in sich ein. Es war jedes Mal wie Heimkommen. Sie war ein Teil hiervon, untrennbar verbunden mit diesen Regalen, Gedanken, Ideen, Phantasien. Hier gab es Literatur, die sich bis in die Unendlichkeit erstreckte und Gefühle, die sich selbst über diese Unendlichkeit hinwegsetzten.

Sie drehte den Lichtschalter und die Glühbirnen traten alsdann leidlich ihren Dienst an. „Mädchen? Wo bist du?“ Bea bekam keine Antwort. Ihr Echo wurde von Holz, Leder und Kartonagen verschluckt. Im Labyrinth der unzähligen Gänge hatte Bea kaum eine Chance die Ausreißerin zu finden. „Mädchen?“ Ihr Ruf verhallte.

Bea hatte vor einiger Zeit einen altmodischen Kleiderständer neben dem Treppenaufgang platziert. An dessen Haken hingen ein olivgrüner Armeerucksack, eine graue Strickjacke und ein Jutebeutel. Aus diesem fischte sie eine besonders dicke Garnrolle und eine Taschenlampe, die so groß und leuchtstark war, dass man damit den Weihnachtsmann im Landeanflug hätte einlotsen können – und zwar im dichtesten Nebel ohne Rudolph im Gespann.

Routiniert verknotete Bea nun ein Garnende mit dem Kleiderständer, warf sich den Jutebeutel über die Schulter und machte sich aufs Geratewohl auf ins vorerst Ungewisse.

„Habt ihr eine Ahnung, wo die Kleine steckt?“ Ein unbedarfter Beobachter hätte sich gefragt, warum Bea anscheinend mit sich selbst sprach. Allerdings hätte dieser unbedarfte Beobachter auch nicht gesehen, dass am vorausliegenden Kopfende des ersten Ganges auf der rechten Seite ein Oktav-Band aus seiner Reihe hervorstand. Im Vorbeigehen drückte Bea ihn wieder zurück an seinen Platz und bog dann rechts ab. Dabei achtete sie sorgsam darauf, dass sich das Garn in ihrer Hand weiter entrollte. „Wo will das Kind nur hin?“, fragte sie in die Stille hinein. Kurz danach hörte sie ein dumpfes Pochen. Im Strahl der Taschenlampe, die sie eben eingeschaltet hatte, erkannte sie ein Buch, das in einiger Entfernung auf dem Boden lag. Als sie bei ihm ankam, las sie die blasse Überschrift: „Mors porta vitae“. Beas Knie wurden weich und in ihrem Magen befanden sich plötzlich Steine, denn sie wusste nun, wohin sie zu gehen hatte.

In die Wand eingelassen, am Ende einer der vielen Gänge, war eine eiserne Tür. Ornamente zogen sich am Rand entlang und kunstvolle Symbole füllten die Fläche dazwischen. Darüber prangten wuchtig die mittelalterlichen Zeichen „Vita“ und „Mors“.

Das Mädchen stand vor der Tür, legte den Kopf weit in den Nacken, um den oberen Bogen zu betrachten. Dann machte es aus seiner kleinen Hand eine Faust und klopfte so fest es konnte an. Dabei entstand kein hörbares Geräusch. Das Metall war zu alt, zu stumpf, zu schwer und zu anders, als dass es von dieser unschuldigen Kinderhand zum Klingen gebracht werden konnte.

Dennoch vergingen kaum fünf Sekunden und ein Türflügel öffnete sich. Es war nur ein kleiner Spalt. Den Kopf im Dunkel einer schwarzen Kapuze verborgen, beugte sich jemand heraus und schaute kurz in alle Richtungen. Dann, als die Gestalt das kleine Mädchen sah, kniete sie sich hin.

Sie fragte: „Es?“

Das Mädchen antwortete: „Ich.“

„Du?“

Das Mädchen nickte.

Eine Knochenhand tauchte unter der Kutte hervor. Darin befand sich ein in Leder gebundenes Buch. Wortlos nahm das Mädchen es entgegen.

„Du“, sagte die Gestalt. Das klang sehr, sehr nachdenklich.

Auf dem Boden lag ein halbes Dutzend dicker, schwerer Bücher wild verstreut. Das unterste Brett des angrenzenden Regals war leer. In diese Leere hatte sich das Mädchen hineingequetscht und wartete im Halbdunkel auf das Licht, das unstet hin und her raste und sich dabei rasch näherte. Als der Strahl der Taschenlampe das Mädchen fand, heftete er sich auf sie, bis Bea völlig außer Atem ankam. „Verdammt, was tust du mir an? Du kannst doch nicht einfach allein in den Keller gehen. Hier unten kannst du dich verlaufen.“

Bea ließ den Lichtkegel zum Tor gleiten. Verschlossen. „Puh“, machte sie erleichtert. „Und ich dachte schon, dass …“ Sie unterbrach sich, brachte ein mühsames Lächeln zustande. „Da hätte ich deinem Cousin ganz schön was zu erklären gehabt.“

Zaghaft hauchte das Mädchen: „Er ist nicht mein Cousin.“

Bea riss verblüfft die Augen auf. „Du kannst ja doch sprechen.“

Auf diese Feststellung bekam sie allerdings keine Antwort. „Vielleicht magst du mir verraten, wie du heißt, kleine Prinzessin.“

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

Bea stemmte kurz die Hände in die Hüften, seufzte theatralisch, griff dann dem Kind unter die Arme und zog es aus dem Regal. Wie eine Spielzeugpuppe ließ die Kleine es geschehen. Die Arme und Beine baumelten dabei, als ob sie keine Knochen hätten. Erst als die Füßchen den Boden berührten, straffte sich der Körper wieder.

„Was hältst du davon, wenn ich uns auf den Schrecken ein Eis spendiere? Und dann bringe ich dich zum Kuriositätenladen. Du kannst ja nicht den ganzen Tag bei mir bleiben. Als Gegenleistung fände ich es ziemlich toll, wenn unser Ausflug nach hier unten unser kleines Geheimnis bliebe.“

Bea hatte es nicht anders erwartet: Der Rückweg ins Antiquariat verlief schweigend. Das namenlose kleine Etwas hatte ihr die Hand gereicht und folgte ihr widerstandslos durch das Wirrwarr der Gänge; immer entlang der Garnschnur. Dabei machte sich Bea nicht die Mühe die Schnur wieder aufzurollen. Sie hatte insgeheim beschlossen, zu einem späteren Zeitpunkt nochmals zur Pforte zurückzukehren. Dem Buchhalter, den sie dahinter antreffen könnte, wollte sie zwar – wenn es sich vermeiden ließ – nicht begegnen, aber es konnte nicht schaden, sich dort umzuschauen. Manchmal verraten Bücher Geheimnisse, die man gar nicht zu ergründen versucht.

Dann kam die Treppe und schließlich das Antiquariat. Im Vorbeigehen griff Bea nach ihrer Jacke und schon schlenderten sie und das Mädchen Richtung Eisdiele, nachdem das Schildchen „vorübergehend geschlossen“ in der Tür platziert worden war.

„Was magst du? Schokolade? Erdbeere? Vanille?“ Es gab nur ein unbestimmtes Schulterzucken von dem Mädchen. Also bestellte Bea einfach zwei Mal alle drei Sorten, drückte dem Kind das eine Hörnchen in die Hand und widmete sich dem anderen. Der freundliche Eisverkäufer bekam zu seinem Geld auch ein freundliches Lächeln. Dieser hätte vermutlich genauso herzlich zurückgelächelt, wäre er nicht so sehr damit beschäftigt gewesen, das Kind anzustarren. Irritiert folgte Bea seinem Blick.

 

„Lutschen“, erklärte Bea, „meinetwegen auch lecken. Aber nimm bitte die Finger raus.“

„Stimmt was nicht mit Ihrer Tochter?“, fragte der Eisverkäufer. Etwas Mitleidiges lag in seiner Stimme.

„Oh“, machte Bea, „das ist nicht meine Tochter. Sie ist nur zu Gast.“ Sie hatte es kaum ausgesprochen, da fühlte sie sich leicht verlegen. Selbst in ihren Ohren hörte es sich abwiegelnd und entschuldigend an. Leider machten ihre nächsten Worte die Situation nicht besser. „Aber wir verstehen uns gut. Fast so wie dicke Freunde, obwohl ich nicht mal weiß, wie sie heißt.“ Das angefügte „Hi, hi“ wurde dann erst recht peinlich. Deshalb zog sie es vor, das Kind rasch weiterzuschieben. Der Eisverkäufer schüttelte verständnislos den Kopf.

„Chaya“, sagte das Mädchen unvermittelt. Danach tastete sie vorsichtig mit der Zungenspitze das oberste, rosafarbene Eisbällchen ab.

Bea wäre beinahe ihr Hörnchen aus der Hand gefallen. „Was hast du gesagt?“

„Chaya.“ Erdbeergeschmack zauberte einen überraschten Gesichtsausdruck in das ansonsten so leblose Gesicht des Mädchens.

„Schaia?“, fragte Bea nach. Langsam dämmerte es ihr.

„Dann brauchst du mich nicht mehr Das zu nennen. Chaya bedeutet unter anderem lebendig.“ Chaya fand ganz offensichtlich Gefallen an dieser speziellen Bedeutung. Sie nickte sich selbst zu, als sie ihr Spiegelbild in einem Schaufenster erkannte. „Chaya!“ Es klang geradezu wie ein Schlachtruf. In einem Anflug von Übermut nahm sie daraufhin das gesamte Erdbeereisbällchen mit einem Happen in den Mund. Die nächste Reaktion war ein schmerzerfülltes Zusammenzucken, weil sie feststellte, dass das Schlucken zu großer Mengen kalter Lebensmittel recht unangenehm sein kann.

„Mädchen, hast du noch nie Eis gegessen?“, fragte Bea erstaunt.

„Chaya“, wiederholte Chaya keuchend, „das Mädchen heißt Chaya.“

Als sie den Kuriositätenladen am unteren Ende der Straße erreichten, versuchte Bea mit einem Taschentuch und mäßigem Erfolg, das Gesicht der Kleinen vom Eis zu befreien. „Chaya, ich denke, dass das mit dem Eis vielleicht keine so gute Idee gewesen ist. Dein … Quirinus … wird nicht begeistert sein, dich so verklebt zu sehen.“

Etwas bang betrachtete sie das Geschäft, mit der rot-weiß gestreiften Markise. In dem eigenwillig dekorierten Schaufenster fanden sich Baseballkarten, Blechspielzeuge und Dampfmaschinen neben einer alten Wurlitzer und einigen vergilbten Briefmarkenalben, in deren aufgeschlagenen Seiten ebenso vergilbte Briefmarken eingesteckt waren. Zylinder und Zauberstäbe, ein Strauß mit ziemlich lädierten Strohblumen und Uhren. Unzählige Uhren! Taschenuhren, Armbanduhren, Wecker, Tischuhren und, und, und.

Das Innere des Ladens präsentierte sich wie erwartet: Muffig und schlecht beleuchtet. Bea fragte sich, wie es möglich war, dass bereits über allen Exponaten eine dünne Staubschicht lag, obwohl die Sachen erst seit zwei Tagen in den Regalen liegen konnten.

„Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Ein Verkäufer – nicht Quirinus – trat ihnen entgegen. Seine Erscheinung passte nicht ganz in das Gesamtbild. Er war jung, freundlich und gut gekleidet. Bea hätte als Einstellungsbedingung eigentlich das absolute Gegenteil erwartet. Zwischen ausgestopften Eberköpfen, etwas, das nach einem ausrangierten Blasebalg für eine gigantische Mundharmonika aussah, einem Hochrad und zahlreichen anderen Exponaten wirkte der Mann so deplatziert wie Kaviar auf Sauerkraut mit Schokoladensoße. „Schauen Sie nach etwas Speziellem oder stöbern Sie nur? Ich könnte Ihnen ein paar Raritäten aus dem Ersten Weltkrieg zeigen. Oder lieber Antiquitäten aus der Renaissance?“

„Chaya“, sagte Bea etwas überrumpelt.

Der Verkäufer blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“

Bea schob das Mädchen sachte vor sich. „Ich bringe Chaya heim. Herr Quirinus hat vergessen, sie bei mir abzuholen.“

Der Verkäufer nickte wie ein Butler, warf die Hände hinter den Rücken und eilte durch eine Seitentür davon. Irgendwo rumpelte es laut, stampften schwere Schritte eine Metalltreppe hinab. Um einiges leichtfüßiger erstiegen Schritte wieder jene Treppe zurück nach oben. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Quirinus stand vor ihnen.

Nein, er stand nicht wirklich. Er tänzelte auf der Stelle. Irgendwie war immer mindestens ein Bein oder ein Fuß in Bewegung. Sein Körper vibrierte förmlich zu den Melodien einer unhörbaren Musik. Es wirkte auf groteske Art elegant und verspielt zugleich. Doch schließlich pendelte das Bewegungsmoment in ihm aus und sein Körper kam zur Ruhe.

„Cousinchen!“, rief er und breitete dann wie ein schlechter Theaterdarsteller die Arme aus um eine andere Schauspielerin, die er vermutlich nur von der Bühne her kannte, gespielt herzlich in die Arme zu nehmen. „Chaya hat noch ein Eis mit mir gegessen“, sagte Bea.

„Chaya?“

„Chaya.“

„Ach. Chaya!“ Er legte den Kopf schief und betrachtete das Kind eingehend von oben bis unten. „Ein schöner Name, nicht wahr? Es ist ein indischer Name, oder?“

Für Beas Geschmack waren in den letzten Aussagen ihres Gegenübers eindeutig zu viele Fragezeichen. Ihr Misstrauen bezüglich dieses seltsamen Kauzes wuchs von Minute zu Minute. Vielleicht würde es nicht schaden, mal die tatsächliche Bedeutung des Namens Chaya zu recherchieren.

Quirinus schien in ihren Augen zu lesen und beschloss daraufhin eilig das Thema zu wechseln. „Wo Sie gerade hier sind: Möchten Sie sich mal in meinem Reich umsehen? Es gibt hier bestimmt einige spezielle Schaustücke, die auch Ihr Interesse wecken könnten.“

Bea bedachte den ausgestopften Eberkopf mit ungeschminkter Geringschätzung. Ihre Ironie konnte sie auch kaum verbergen. „Ich bin schon ganz neugierig. Aber …“ Sie schob demonstrativ den Ärmel hoch und deutete auf ihre Armbanduhr. „Ich muss zurück in meinen Laden.“

„Ach, kommen Sie!“ Quirinus drückte Chaya zur Seite und packte Bea bei der Hand. Wie ein Verliebter, der mit seiner Angebeteten in den Siebten Himmel flüchten wollte, zog er sie durch eine Tür in einen angrenzenden Raum. „Photos“, rief er. Bea hatte keine Ahnung, wie er es schaffte, dass man das „Ph“ so deutlich hören konnte. Doch der Unterschied zum folgenden Satz war eindeutig. „Und Fotos gibt es hier auch. Zusätzlich gibt es hier auch noch Fotografien.“ Er lachte.

Das Licht war um ein Vielfaches trüber. Die Luft selbst atmete einen Hauch von Sepia. Aber Quirinus hatte nicht übertrieben: Beas Interesse war geweckt. Dieser Raum präsentierte sich als eine Hommage an die Ikonographie. Die Regale, die sich wie in ihrem Bücher-Antiquariat bis unter die Decke hoben, waren überfüllt mit Rahmen und kartonierten Bildern. Alben und Kartons drängten sich dazwischen. Außerdem gab es allerhand Tische, auf denen Kameras, Projektoren und Entwickler mehr oder minder dekorativ angeordnet waren. Die Geräte stammten aus allen möglichen und unmöglichen Epochen. Ein Fotoapparat schien Herrn Feuerstein gestohlen worden zu sein.

„Ich finde, dass Fotos etwas ganz Besonderes sind. Diese alten Papierzeugen sind ebenso kostbar wie Ihre alten Bücher. Sie sind nicht zu vergleichen mit der digitalen Welt, die heutzutage von jedem Billighandy abgelichtet wird.“

Bea bewies sich als gehorsamer Stichwortgeber. „Warum?“

Quirinus lächelte. „Schauen Sie sich dieses alte Foto an. Es ist ungefähr 100 Jahre alt. Schwarz und weiß. Von dieser Familie mit dem gestrengen Patriarchen gibt es nur noch diese eine Abbildung. Ich möchte wetten: Jeder Angehörige der Sippe hat weit mehr als nur einmal einen Blick darauf geworfen. Unzählige Male hat es sich in die Gedächtnisse eingebrannt. Es ist zu einem Stück Familiengeschichte geworden. Wenn heute jemand ein entsprechendes Foto macht und es im Internet teilt, wird es für den Augenblick vielleicht tausendfach wahrgenommen. Aber in einer Stunde haben es bereits alle wieder vergessen. Was ist schon ein Foto, wenn jeder Depp täglich zwanzig Bilder macht? Mancher teilt sogar seine Portion Pommes mit Majo im Web.“

„Sie erinnern mich an einen alten Herrn, den ich mal kannte“, merkte Bea an. „Er hatte eine sehr ähnliche Meinung. Jedoch in Bezug auf Bücher.“

Quirinus lächelte hinterlistig. Wie dieser Ausdruck zu deuten war, verriet er allerdings nicht. Stattdessen dozierte er weiter. „Bücher! Ja. Ich habe auch einen Verkaufsraum für Bücher.“ Er stellte das Foto halbwegs sorgsam zurück an seinen Platz im Regal. „Kommen Sie!“ Er führte Bea in den benachbarten Raum. Der war ebenso groß, ebenso angeordnet und ebenso chaotisch bestückt. Doch die Thematik der Ausstellungsstücke hatte nichts mehr mit Fotografie zu tun. Es waren ausnahmslos …

„… Bücher!“, rief Quirinus. „Ich habe zwar noch lange kein lückenloses Sortiment, so wie Sie. Aber das gedruckte Wort wird bestimmt irgendwann zu einem Kuriosum. Dann gehört es gänzlich in meine Lokalität. Alles, was mit Kultur zu tun hat, erlebt in diesen Tagen eine wahre Inflation, denke ich.“ Eine kurze Pause folgte. „Wie hieß denn der weise Mann, den Sie vorhin erwähnten?“

„Das war Herr Plana.“

„Herr Plana?“ Quirinus kicherte spitzbübisch. „Ich kannte ihn. Nicht gerade ein Sympathieträger, der Gute. Aber ich mochte ihn trotzdem. Er war ein bisschen wie ich. Aber alles in allem war er mir zu – wie sagt man? – moralin. Philosophie ist was für Leute, die zu viel Zeit haben. Ich habe nie Zeit.“

„Sie kannten ihn? Sie meinen bestimmt, Sie kennen ihn aus meinem Buch, oder?“

„Aus Ihrem Buchland?“ Quirinus begann wieder damit, auf der Stelle zu tänzeln. Irgendetwas erheiterte ihn auf das Heftigste.

„Ja“, sagte Bea ungeduldig, „ich bin die Schriftstellerin.“

„Oh, Sie dürfen sich schon Schriftstellerin nennen? Oder sind Sie vielmehr noch eine Autorin? Ein Buch allein macht per Definition doch noch keinen Schöngeist.“

Beinahe hätte Bea ein unartikuliertes „Häh?“ von sich gegeben. Es geriet zu einem unterdrückten Schnauben.

Quirinus kratzte sich am Hinterkopf. „Wie soll ich es erklären? Vielleicht so: Sie atmen. Das kommt von ganz allein. Sie müssen es zwar tun, aber Sie denken für gewöhnlich nicht darüber nach. Eine unbewusste Handlung Ihres Körpers.

Eines Tages – und ich will nicht behaupten, dass dies ein Glückstag für Sie sein wird – werden Sie genau so unbewusst Literatur im Kopf haben. Alles, was um Sie herum passiert, werden Sie dann im Geiste mit Worten ausformulieren. Sie werden bei jedem Gespräch, das Sie führen, überlegen, wie diese Szene Ihres Lebens in einem Buch lauten würde. Dann beschreiben Sie wortgewandt, was Ihr Gegenüber tut, wie es aussieht, obwohl Sie es direkt vor sich stehen sehen. Und jedem Moment, jeder Situation, der Sie sich stellen, begegnen Sie mit der Frage: Was wäre wenn?

Das wird geschehen. Nicht, weil Sie es so wollen. Nicht, weil Sie es können. Nicht, weil Sie es müssen. Sie werden es einfach tun. Genauso wie Sie gerade atmen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.

Wenn es so weit ist, dann kennen Sie den Unterschied zwischen einem Autor und einem Schriftsteller.“

Beatrice zuckte mit den Schultern. Aus Prinzip wollte sie auf diese kleine polemische Rede nicht eingehen. Bei Herrn Plana hätte sie diese Belehrung vielleicht ernst genommen. Doch dieser Typ hier vor ihr … Nein, das war ihr zu aufgesetzt. Mit aller zur Verfügung stehenden Ignoranz ging sie an Quirinus vorbei, griff nach einem zerfledderten Buch auf einem Tisch und blätterte demonstrativ lustlos darin herum. Als sie es wieder zuschlug, ohne tatsächlich ein Wort gelesen zu haben, blieb ihr Blick auf dem Titel kleben. Überrascht las sie den angeblichen Autor.

Vorsichtig, als könne der Einband plötzlich explodieren, legte sie Romeo und Julia von Edward de Vere zurück an seinen Platz. Daneben entdeckte sie Sir Francis Bacons Don Quichote.

„Sind das Scherzartikel?“

Quirinus hüpfte an ihre Seite und lachte. Dann erkämpfte er sich ein ernstes Gesicht und sagte mit dunkler Stimme: „Sehe ich aus wie ein Komödiant?“

„Aber Romeo und Julia wurde von William Shakespeare geschrieben!“

„Wirklich?“ Quirinus legte den Zeigefinger auf den eingeprägten Namensschriftzug. „Aber hier steht doch deutlich ein anderer Name gedruckt. Wie könnte Gedrucktes lügen?“

„Was ist denn das für eine Begründung? In meinem Antiquariat gibt es unzählige Ausgaben von Romeo und Julia, wo Shakespeare als Urheber verzeichnet ist.“

 

„Tja, die Sache mit der Wahrheit. Mit Herrn Plana hätte man da stundenlang drüber diskutieren können. Vorausgesetzt er ließe eine Meinung neben der eigenen zu.“ Quirinus ging einige Schritte tiefer in den Raum. „Möchten Sie sich nicht noch etwas mehr umschauen? Vielleicht finden Sie ein paar gut erhaltene Stücke für den Weiterverkauf in Ihrem Hause.“

Widerstrebend wagte sich Bea zum nächsten Tisch. Dort fiel ihr ein blaues Buch in die Hände. Das Cover zeigte eine Hand mit emporgerecktem Daumen. „Gesichtsbuch?“

„Das ist so eine Art anonymes Poesie-Album. Man stellt sich damit auf die Straße und bittet Passanten, sich darin einzutragen. Man kann auch Fotos einkleben oder lustige Sprüche reinschreiben. Gefällt mir, diese nette Idee. Sie konnte sich leider nicht durchsetzen.“

Bea sparte sich einen Kommentar und schaute schon nach dem nächsten Stapel mit Büchern. „Anonymus?“

„Ein begnadeter Schriftsteller“, behauptete Quirinus, „hat schon in den verschiedensten Genres etwas geschrieben. Ich bin ihm mal persönlich begegnet und hab’ mir einige seiner Werke signieren lassen.“

Mit wachsendem Erstaunen nahm Bea ein weiteres Taschenbuch. Es war gelb und in schwarzer, fetter Druckschrift stand dort: „Was-willst-Dudenn-Verlag?“

„Dieses Haus hat Sachbücher produziert“, erläuterte Quirinus süffisant, „konnte sich aber auf dem Markt nicht behaupten.“

„Warum?“

„Schauen Sie sich die Überschrift genauer an.“

Bea las laut: „Rechtschreibung for Anfängers“

„Das passiert, wenn man das Outsourcing zu weit treibt. Im Impressum steht irgendwo klein printed in Korea.“ Quirinus tippte sich seitlich an die Nase. „Ich habe fast die komplette Auflage aufgekauft. In einem Kuriositätenladen geht so was ganz gut. Dafür habe ich einen Riecher.“

„Das sind nicht unbedingt Bücher, die es in meinem Antiquariat gibt“, stellte Bea fest. Ein Schmunzeln konnte sie sich nun doch nicht verkneifen. Da sich ihre Laune sichtlich verbessert hatte, änderte auch Quirinus sein Gehabe. Er wurde ruhiger, weniger überdreht und seine Gesichtszüge bekamen einen Schuss mehr Ernsthaftigkeit.

„Och, ich kann mir schon vorstellen, dass es diese Werke tief vergraben in Ihrem Fundus gibt. Was ich hier anbiete, ist doch nur ein winziger Ausschnitt aus dem großen Land der Bücher.“ Während Bea sich fragte, ob der Kuriositätenhändler vielleicht mehr über sie und ihren Keller wusste, als er preisgab, fasste er sie sanft unter dem Arm und führte sie in die hinterste Ecke des Raumes. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Raum eine ungewöhnliche Form hatte: Es gab nicht nur vier, sondern fünf Wände. Sie bewegten sich durch eine architektonische Wabe. Jede gemauerte Wand hatte mittig eine Tür. Instinktiv ahnte Bea, dass dahinter eine weitere Wabe zu finden war. „Das Haus sah von außen gar nicht so groß aus.“

„Meinen Sie?“ Quirinus machte einen winzigen Hüpfer, den man auch als kurzes Stolpern deuten konnte. Im nächsten Augenblick hatte Bea ein beklemmendes Gefühl. Es kam ihr vor, als würde sich die Perspektive verändern. Alles rückte auf sie zu, ohne dass da wirklich Bewegung war. Die Distanzen blieben gleich und verkürzten sich gleichzeitig. Ein Meter ist ein Meter, bleibt ein Meter, redete sich Bea innerlich ein. Und doch …

„Ist Ihnen nicht gut? Sie wirken etwas bleich.“

„Ich glaube, es wird Zeit, dass ich gehe.“

„Einen klitzekleinen Moment noch! Verraten Sie mir, was Sie hier sehen?“ Mit ausgestrecktem Arm deutete Quirinus in eine Nische zwischen zwei Regalen. Dort war ganz eindeutig …

„Nichts“, antwortete Bea wahrheitsgemäß.

„Genau! Das sollte aber eigentlich nicht so sein. Mir fehlt hier ein ganz wichtiges Exponat, das ich mir beschaffen möchte. Ich bin mir sicher, es zu einem guten Preis weiterverkaufen zu können.“

„Ja?“ Bea stöhnte. Warum wurde ihr so schwindelig? Mit klaustrophobischen Anwandlungen hatte sie doch noch nie zu tun gehabt.

Quirinus packte sie fester. Vielleicht stützte er sie. Vielleicht verhinderte er aber auch nur, dass sie flüchtete. „Es ist ein ganz besonderes Werk. Einfach göttlich! Könnten Sie es mir besorgen?“

„Welche ISBN-Nummer hat es?“ Ihre Stimme hörte sich so fern an.

„Oh, nein. Das gute Stück hat keine ISBN-Nummer. Es stammt aus Zeiten weit vor dem Buchdruck.“

„Interessant“, keuchte Bea. Irgendwie schaffte sie es, sich aus dem Griff des Kuriositätenhändlers zu winden, wankte zurück, fort von ihm, zur Tür, durch die sie gekommen war. Um ein Haar wäre sie gefallen. Ihren Tunnelblick richtete sie mühsam und gegen eine Ohnmacht ankämpfend auf das Schaufenster. Tageslicht! Sie musste raus.

Frische Luft.

Offener Himmel.

Asphalt.

Ein Auto hupte. Jemand schimpfte lautstark. Eine Stoßstange hatte sich unangenehm nahe vor ihrer Stirn platziert. Bea schöpfte tief Atem und stellte fest, dass sie auf dem Mittelstreifen der Straße kniete. Sie richtete sich auf und torkelte benommen auf den Bürgersteig. Auf der gegenüberliegenden Seite sah sie den Kuriositätenladen. Durch das Fenster erkannte sie Quirinus und seinen Gehilfen. Irgendwo dahinter stand Chaya, die man nur noch als Schatten erahnen konnte.

Die Drei schauten Bea nach, als sie ihren Weg Richtung Antiquariat fortsetzte.