Das Mädchen und der verlorene Traum

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Das Mädchen und der verlorene Traum
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Markus Fels

Das Mädchen und der verlorene Traum

Die Geschichte von Marie und Titus Band 2

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein ruhrgebiets Krimi Teil 2

Impressum neobooks

Ein ruhrgebiets Krimi Teil 2

Das Mädchen und der verlorene Traum

Ein Ruhrgebiets Krimi Teil 2

von

M.J. Fels

Das mädchen und der verlorene Traum

von

M.J. Fels

This book is a work of fiction. Names, characters, places and incidents are either the product of the author's imagination or are used fictionally. Any resemblance to actual persons, living or dead, or to actual events or locales is entirely coincidental.

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Copyright © 2017 Markus Fels. All rights reserved. Including the right to reproduce this book or portions thereof, in any form. No part of this text may be reproduced in any form without the express written permission of the author.

Version 2017.04.22

1 BREAKDOWN

Freitag, 23:02

Blinkendes Blaulicht auf regennassem Asphalt. Hektische Bewegungen, Rufe, das Geräusch eines Martinhorns, ein schnell davon fahrender Notarztwagen. Blitzlichter von Handys, Gaffer die Fotos machen. Doch all das erreicht mich nicht. Ich sitze auf der Trage eines Krankenwagens. Ein Arzt kümmert sich um meine Schussverletzung, ein glatter Durchschuss. Es ist egal, alles ist in diesem Moment egal. Ich starre ins Leere und sehe doch nur Maries Gesicht. Rebecca steht direkt vor der Trage und will mich trösten, doch der Arzt hält sie zurück. Ich bleibe stumm. Es gibt nichts mehr zu sagen. Die Rettung war in letzter Sekunde gekommen. Mark hatte eine Nachricht über sein Mobiltelefon an Rebecca geschickt, diese konnte letztendlich den Polizisten überzeugen. Die Rettung war in letzter Sekunde gekommen, oder war es bereits zu spät? Ich finde keine Antwort, ich finde keinen Gedanken. Mein Kopf ist leer. Eine Windböe treibt den kalten Regen in mein Gesicht. Ich spüre es nicht. Alles ist wie taub. Geräusche dumpf und in weiter Ferne, Blicke die mich treffen, ich sehe sie nicht. Die Hand des Arztes, der mich sanft auf die Liege zurück drückt, ich spüre sie nicht.

Ich falle, haltlos, tiefer und tiefer in einen bodenlosen Abgrund, es gibt keinen Halt. Maries Gesicht entfernt sich von mir und verblasst in der Dunkelheit. Die Türen des Krankenwagens, in dem ich liege, werden zugeschlagen, dann setzt er sich in Bewegung. Die Sirene heult auf, um uns Vorrang zu verschaffen. Doch mich müssen sie nicht retten. Ohne Marie, was zählt es, wenn ich überlebe? Leben - ohne Liebe nur eine leere Hülle, zwecklos, bedeutungslos. Rebecca sitzt mit im Krankenwagen, rechts neben der Liege. Sie hat so lange auf den Arzt eingeredet, bis dieser sie mitfahren lässt. Sie hält meine Hand und streicht mir tröstend über die Stirn. Abermals breche ich in Tränen aus.

Weiße kahle Wände, kaltes Neonlicht. Eilig ziehen sie die Liege durch den Flur, der direkt zur Notaufnahme führt. Hektische Rufe. Eilige, professionelle Handgriffe. Perfektionierte Arbeitsabläufe. Ohnmacht, ihr Geist treibt davon. Dunkelheit umgibt sie, die Geräusche verstummen. Zurück bleibt Stille. Sie schwebt. Ist federleicht. Ihr Geist von ihrem Körper getrennt, unsagbar leicht, befreit von jeglicher Last. Ist es Zeit zu gehen?

Keine Schmerzen mehr, keine Gewalt, keine Angst, kein Leid, keine Liebe. Dieses Gefühl vermisst sie am meisten. Sie hatte gehofft, dass sie es mit Titus hätte erleben können. Doch ein anderes Gefühl umfängt sie, befriedigt all ihr Verlangen. Hüllt sie ein in Wärme und Geborgenheit, füllt sie mit Zufriedenheit und Glückseligkeit. Bringt sie an einen Ort, an dem alles beginnt. Sie schließt die Augen und lässt sich forttragen.

Als Marie ihre Augen wieder öffnet, findet sie sich auf einer herrlichen Wiese liegend wieder. Sie liegt nackt auf den taufeuchten Halmen, doch sie verspürt keine Scham. Mit fließenden Bewegungen richtet sie sich auf und blickt sich um. Es ist angenehm warm. Eine leichte Brise streicht über ihren unbedeckten Körper. Die Wärme eines fernen Gestirns strömt durch ihren Körper und sie fühlt sich befreit. Hier will sie bleiben.

Als ich aus der Narkose erwache, erkundige ich mich sofort nach Marie. Das Schlimmste befürchtend, starre ich den Arzt an. Keine zehn Minuten später, stehe ich an Maries Bett.

Ein Geräteturm baut sich neben ihrem Bett auf. Kontrollmonitore registrieren ihre Lebenszeichen. Ein unförmiger, klobiger Plastikschlauch steckt in ihrem Mund. Sie wird künstlich beatmet. Kabel, die in Elektronen enden, kleben auf ihrer Haut. Das gleichmäßige Piepen der Geräte, das Zischen des Beatmungsapparates, und inmitten dieses Alptraumes meine geliebte Marie. Ihre Haut ist bleich, fast durchscheinend. Sie kommt mir wie ein Geist vor. Ich frage mich wie viel Leben noch in ihrem so leblos erscheinenden Körper ist. Rechne jede Sekunden damit, dass sich hinter mir die Tür öffnet, mich ein Arzt zur Seite nimmt und mir die schrecklichste aller Nachrichten versucht beizubringen. Marie, warum habe ich nicht mehr um dich gekämpft? Warum hast du es nicht zugelassen, dich zu lieben? Warum hast du es dir verboten, mich zu lieben? Was zog dich in dieses Leben, das du gelebt hast? Was lockte dich auf den falschen Weg?

Ich greife nach ihrer Hand, so leicht, so klein in meiner. Gebe ihr einen sanften Kuss auf ihre Stirn. Ihre Haut, so kalt, so blass, wie Elfenbein, so zart.

Die Tür hinter mir öffnet sich. Ich merke es, als plötzlich das grelle Licht der Flurbeleuchtung in das abgedunkelte Zimmer in dem Marie liegt, flutet. Ich will mich nicht umdrehen. Halte Maries Hand fest, will sie nicht mehr loslassen. Nie mehr in meinen Leben will ich sie loslassen. Eine Hand legt sich auf meine Schulter.

"Herr Mann, es ist besser, wenn sie sich jetzt erst einmal selbst ein wenig Ruhe gönnen."

"Sie wird sterben."

"Wir haben Frau Breyl in ein künstliches Koma versetzt. Ihre Verletzungen sind bedrohlich. Doch, wenn sie stark ist, dann wird sie es schaffen."

Marie ist stark, denke ich und gebe dem Drängen des Arztes nach. Doch aufzustehen und ihre Hand loszulassen kostet mich beinahe mehr Überwindung, als ich in diesem Moment aufbringen kann. Ich erhasche einen Blick des Arztes, der mir Mut machen will.

Jessica hat sich von einem Taxi nach Hause bringen lassen. Als sie auf dem Rücksitz Platz nimmt, ist ihr bewusst, dass sie der Taxifahrer im Rückspiegel fassungslos anstarrt. Sie gibt ja auch ein katastrophales Bild ab. Ihre Haare total zerzaust und staubig. Obenherum nur mit einem Bustier bekleidet, da sie ihr T-Shirt ja notdürftig als Verband gebraucht hat. Ihre Jeans an den Knien fast durchgescheuert und rechts in Höhe ihres Oberschenkels eingerissen. Wann ihr das passiert ist, kann sie beim besten Willen nicht sagen. Horror pur waren die vergangenen Stunden gewesen. Sie kann noch immer nicht so recht glauben, dass sie mit Hilfe der alten Frau, Emma, erinnert sie sich, diesem Verbrecher und dem unterirdischen Bunkerlabyrinth entkommen konnte.

Von Ratzeburger hält mit vor Wut zitternden Händen sein Handy in der Hand. Das Display zeigt ein Foto auf dem Maria auf einer Trage liegend gerade in den Notarztwagen geschoben wird. Darunter - Die Zeitungen werden morgen voll damit sein: Blutiger Machtkampf im Dortmunder Rotlichtmilieu. Die polizeilichen Ermittlungen laufen schon. Eine Sekunde später ruft er bei Mike an. "Was ist das für eine riesen Sauerei!"

Doch Mike lässt sich nicht von ihm beeindrucken. "Wirbelt mächtig viel Staub auf. Burak war immer schon etwas unüberlegt“, sinniert er.

"Er bringt noch das ganze Projekt mit seinen Alleingängen in Gefahr", knirscht von Ratzeburger. "Er sieht halt auch nur, wo er bleibt in diesem Spiel um Macht, Geld und schönen Mädchen", erwidert Mike einfältig. Ratzeburger schüttelt angewidert seinen Kopf. In den ungebildeten Schichten, in welchen sich Mike, Burak und Konsorten sich herumtrieben, mochte das so sein. Doch auf dem Level, auf welchem sich von Ratzeburger bewegte, ging es doch ganz anders zu.

"Wo hält Burak sich jetzt auf?", will er von Mike wissen.

"Die Ratte ist erst mal untergetaucht. Spurlos von der Bildfläche zu verschwinden, war schon immer ein besonderes Talent von ihm. Aber glauben sie mir, solange diese Marie noch lebt, wird er früher oder später wieder auftauchen um die Sache zu Ende zu bringen."

"Die Sache mit dieser Marie zieht mir schon zu große Kreise.", beschwert sich von Ratzeburger.

"Nun, ich habe auch von den Polizeiaktionen gehört. Ich habe nichts zu befürchten. Meine Spuren sind verwischt. Ihre auch?"

Nach diesen Worten legt Mike auf. Er hatte sich dem Mann in Erinnerung gerufen. Mike wusste, wenn es schmutzige Arbeit zu erledigen geben würde, wäre er im Geschäft, und er hatte keine Skrupel dabei gegen Burak vorzugehen, auch wenn sie für Yusuf auf einer Seite gearbeitet hatten. Er schuldete Burak nichts. Marie war ihm ebenso egal. Sie zählte in seinen Plänen nichts. Doch, wenn sie zu einer Gefahr für von Ratzeburger werden würde, hatte Mike auch in dieser Richtung keine Skrupel, ordentlich aufzuräumen. Er war nun mal der Mann für die Drecksarbeit, doch er wusste, sich bezahlen zu lassen. Das und der Nervenkitzel, den seine Arbeit mit sich brachte, reizten ihn. Er war ein Wiesel, immer auf der Jagd nach Beute, in der Nacht, im Verborgenen, wild und frei.

 

Mit letzter Kraft schließt Jessica die Tür der Villa auf und stolpert schnurstracks in die Küche. Sie greift sich eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, setzt sie an ihre Lippen und trinkt in großen gierigen Zügen bis die Flasche leer ist.

Dabei schluckt sie so viel Luft mit hinunter, dass sich prompt ein stattlicher Rülpser aus ihrem geöffneten Mund löst. Peinlich berührt reißt sie die Hand vor ihre Lippen und kann gerade noch verhindern, dass ein zweiter unkontrolliert entweichen kann. In diesem Moment hört sie Schritte die Treppe, die ins Obergeschoss der Villa führt, hinunter kommen. "Schatz bist du das?"

Jessicas Vater betritt die Küche. Wie angewurzelt bleibt er stehen, als er wahrnimmt, in welchem Zustand sie sich befindet. "Um Gottes Willen, was ist dir denn zugestoßen?"

Jessica erzählt die ganze Geschichte, und als sie den Punkt erreicht, wo sie in der großen Halle wieder zu sich kommt, zählt von Ratzeburg eins und eins zusammen. Vor Wut läuft sein Gesicht knallrot an. Er zückt sein Handy, drückt eine Kurzwahltaste. Kaum gelingt es ihm abzuwarten, bis sich sein Mike meldet. Dann schnauzt er ins Telefon. "Mike, bringen Sie diesen Burak zur Strecke!"

2 EIN NEUER TAG

Samstag, Sonnenaufgang

Natürlich geht dieser Vorfall durch die Presse, schon am nächsten Tag berichten regionale und überregionale Zeitungen auf ihren Lokalseiten davon. In zwei großen Blättern schafft die Schießerei im Tiefbunker es sogar auf die Titelseiten. Um diese Uhrzeit ist noch nicht viel los im Hauptbahnhof Essen. Einige Pendler, die auch am Samstag arbeiten mussten, sind schon unterwegs. Die kleinen Geschäfte auf der Verteilerebene, die Backwaren, Snacks und Getränke verkaufen, haben schön geöffnet. In einem dieser Geschäfte klemmen die Tageszeitungen vom Samstag im Ständer und ein Mann steht ein wenig abseits vom Laden lässig an eine Wand gelehnt, schaut hinüber zu den Zeitungen. Auf der Titelseite erblicken seine Augen ein Foto, das ihn selbst zeigt. Er weiß, dass die Polizei nach ihm sucht, doch noch ist seine Situation nicht brenzlig. Er wird sich in einer halbe Stunde mit Mike treffen, erst einmal die Lage zu sondieren. Unauffällig begibt er sich zu der Treppe, welche zur A40 hinführt, zu dem PS starken Motorrad, welches er dort abgestellt hat. Er setzt sich einen schwarzen unscheinbaren Helm auf, startet die Maschine, fährt in gemäßigtem Tempo los.

Ein verwaschener Sonnenaufgang begrüßt mich. Es wirkt, als hätte jemand einen Pastellfarbkasten über den Himmel ausgekippt, Farben wie Apricot, Blassrosa, Malve und Lachs verschwimmen miteinander. Ich habe es im Krankenhaus nicht mehr ausgehalten, obwohl es mir genauso schwer fiel, Marie alleine zu lassen. Mit meinem Wagen war ich so lange ziellos durch die Straßen geirrt, bis ich schließlich am Baldeneysee gelandet war. Dort hielt ich auf dem Parkplatz am Regattaturm, stieg aus und wusste zunächst selbst erst einmal nicht, was ich hier suchte. Der Besitzer des kleinen Büdchens war gerade dabei den Verkauf vorzubereiten, ich trat auf ihn zu, fragte ihn, ob er schon etwas verkaufen wollte.

Kurz darauf lief ich den Fußweg zum Stauwehr entlang einen Sixpack Bier in der Hand. Auf dem mächtigen Bauwerk des Stauwehrs, welches gleichzeitig als Überweg für Fußgänger und Radfahrer diente, glaubte ich zur dieser Stunde ganz alleine mit mir selbst sein zu können. Wenig später stand ich am Geländer des breiten, mit Holzplanken belegten Überwegs und sah auf den Stausee hinaus. Langsam zog der neue Tag hinauf. Ich öffnete mit einer Hand in einer coolen Geste, die ich irgendwann mir irgendwo abgeschaut hatte, eine Bierdose und setzte sie an meine Lippen. Das Bier war zu kalt und schmeckte bitter. Genauso wie mir im Moment zu Mute war. Zwei der Stautore waren zum Teil geöffnet, und das Wasser zog rauschend unter mir hindurch. Das Geräusch vermochte, dass ich für einen Moment vergessen konnte, was letzte Nacht passiert war. Ich trank noch einen Schluck Bier. Dachte darüber nach, ob die sechs Dosen reichen würden, um meinen Schmerz zu betäuben. Wie auf ein Stichwort zog ein stechender Schmerz durch meine verbundene Schulterpartie und brachte alle Erinnerungen in einem Augenzwinkern wieder zurück.

Gut vierundzwanzig Stunden waren gerade vergangen seit meiner ersten Begegnung mit Marie. Ihr Blick, so frech, so hatte mich noch nie eine fremde Frau angesehen. Hatte sie sich vielleicht auf den ersten Blick in mich verliebt? Ob ich es je erfahren würde, konnte ich in diesem Moment nicht sagen. Ich hoffte es, schickte einen flehentlichen Wunsch zu meinen Gott hinauf, an den zu glauben mich meine Eltern gelehrt hatten und nahm noch einen Schluck Bier.

Marie hatte ein schweres Hirntrauma erlitten. Der Arzt wollte sich in keinerlei Richtung festlegen. Er wollte mir nicht noch mehr Sorgen bereiten, dass hatte ich ihm angesehen, doch er wollte mir ebenso wenig falsche Hoffnungen machen. Marie mochte aus dem Koma in ein paar Tagen aufwachen. Doch was die Folgen ihrer schwerwiegenden Kopfverletzung waren, konnte man nicht absehen. Vielleicht blieben Lähmungen zurück, im Schlimmsten Fall wachte sie sogar mit einer veränderten Persönlichkeit auf, und die Marie, die ich liebte, war für immer verloren.

Mit dem letzten Schluck Bier aus der ersten Dose versuchte ich meine Sorgen wegzuspülen, als es mit meiner Einsamkeit vorbei war. In Gestalt von drei abgewrackten, in schwarzen, teilweise aufgerissenen Lederjacken, rotschwarz karierten Hosen und Springerstiefeln, steckenden Möchtegernpunks wurde die Stille jäh unterbrochen.

"Ey, Alter, so früh schon Durst?", begrüßte der Vorderste mich.

"Mann haste für de Kumpels auch wat?", wollte sein Kollege wissen.

"Warum säuftste denn?", fragte der Dritte und bekam gleich einen verwunderten Blick seiner beiden Kollegen ab, denen es offenbar recht gleichgültig war, warum jemand Bier trank. Doch dieser stellte sich unbeirrt davon direkt neben mich und legte seinen Arm aufmunternd auf meine Schulter. "Hey, Alter, dat isser doch. Der Typ, dessen Mädel im Koma liegt."

Ich starrte den Punk entgeistert an. Woher wusste er von Marie und mir.

"Da bisse platt wat", erriet dieser meine Gedanken und prahlte dann vor seinen Freunden, "Mann, ich hab dat doch allet mitgekriecht. Letzte Nacht, da in Dortmund. Die Gaffer ham doch jede Menge Fotos gemacht. Doch Hagen hat nur geguckt." Hagen war er wohl selbst.

Er schwankte bedrohlich und musste sich an mir festhalten, um nicht umzufallen. Ich starrte die Dose in meiner Hand an. Vielleicht reichte ja eine schon?

"Ja du hast recht, ich bin der Typ", meinte ich angefressen und wünschte die drei würden mich wieder in Ruhe lassen.

"Ha, wat hab ich gesagt. Er isses!", rief Hagen begeistert und schlug mir nicht gerade sanft auf meine Schulter, die verletzte. Ein unglaublicher Schmerz jagte durch meinen Körper und trieb mir die Luft aus den Lungen und Tränen in die Augen.

"Verdammte Scheiße!", schrie ich und stieß Hagen unsanft von mir weg, dass er fluchend zu Boden ging. "Wenn du alles gesehen hast, dann überlegt mal ganz scharf was mit mir passiert ist."

"Oh, jenau dich hatter ja auch erwischt!", rief Hagen sich erinnernd und pfiff seine Kollegen zurück, die schon drauf und dran gewesen waren für ihn in die Bresche zu springen. "Muss mächtig sauer sein. Wat is denn mit deinem Mädel?"

Ich war mir nicht sicher, ob ich Hagen überhaupt eine Antwort schuldig war. Doch vielleicht half es ja, wenn ich mit jemandem, den ich nun gar nicht kannte, darüber sprach.

"Sie liegt im Koma. Niemand kann sagen, was wird", antwortete ich knapp.

"Watt nen Scheiß! Tut mir voll Leid! Willste Rache?"

Wieder sah ich Hagen entgeistert an. "Was?", brachte ich verwundert hervor.

"Wir kriegen raus, wo sich dat Aas verkriecht. Dann kannsten fertig machen." Mit Aas war ganz offensichtlich Burak gemeint. Und so unglaublich es in diesem Moment selbst mir vorkam, doch ich nahm es diesem Hagen vollkommen ab, dass er es ernst meinte und auch, dass er in der Lage war Burak zu finden. Ich streckte meinen gesunden Arm aus und hielt ihm die Hand hin. Er ergriff sie und ich zog ihn auf die Beine.

"Manches is nich so wie's scheint", meinte er, "Kannst auf Hagens Punks zählen."

"Okay." erwiderte ich vorsichtig.

"Los Abflug!" Ich sah Hagen und seinen Kollegen hinterher, wie sie das Stauwehr verließen, zu meiner Verwunderung zu drei Motorrädern gingen, sich auf die Maschinen schwangen und losbretterten. Kopfschüttelnd fragte ich mich, wie man mit so viel Alkohol im Blut noch Motorrad fahren konnte, ob ich je wieder von Hagen und seinen beiden Kollegen hören sollte.

Langsam schritt sie über die Wiese. Nahm jeden Sinneseindruck mit jeder Faser ihres so leichten, astralen Körpers in ihre Seele auf. In einer Senke kam sie an einen kleinen, türkisfarbigen See, auf dem rosa und weiße Seerosen blühten. Am kleinen Steg auf dieser Seite des Sees war ein schlankes Ruderboot vertäut. Das lackierte Holz glänzte in der Sonne. Auf beiden Flanken war in der Nähe des Bugs der Name in goldenen Lettern aufgemalt worden - Marie.

Das Boot trug ihren Namen. Marie trat näher und nahm auf der mittig angeordneten Ruderbank Platz. Wie von Geisterhand löste sich das Tau und langsam trieb das Boot, ohne, dass sie etwas dazu getan hätte, auf den See hinaus, dem jenseitigen Ufer entgegen. Kolibris, die schon immer Maries Lieblingsvögel gewesen waren, schwirrten in tollkühnen Flugmanövern heran und begleiteten ihre Fahrt, landeten teils auf dem Rand des Bootes oder flogen als Eskorte links und rechts nebenher. Ein Vogel näherte sich Marie und setzte sich schließlich auf ihre Schulter. Eine zauberhafte ihr unbekannte Melodie erfüllte die frühlingswarme Luft. Marie beugte sich leicht auf die rechte Seite und ließ ihre Hand in das frische Wasser gleiten, genoss, wie es durch ihre Finger wirbelte. Am anderen Ufer erkannte Marie eine aus Natursteinen errichteten Torbogen, ihr Ziel.

Ich besann mich eines Besseren und ging zu meinem Wagen zurück, anstatt mich sinnlos zu betrinken. Mein schlechtes Gewissen meldete sich, als ich an Rebecca und Nathaniel dachte, die noch immer im Krankenhaus warteten und hofften, dass Marie aus dem Koma erwachte. Düstere Bedenken holten mich ein, doch ich erkannte in diesem Moment, dass es keinen anderen Weg für mich gab, als mich ihnen zu stellen. Dann tauchte ein anderer Gedanke in meinen Kopf auf, ein Wort, das vielleicht schon zuvor in mir gewirkt hatte, nun aber mit aller Macht an die Oberfläche drang. RACHE.

Burak sollte für das bezahlen, was er mir, was er Marie angetan hatte, aber auch für das, was er vorgehabt hatte ihr anzutun. Ich wollte ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen. Aber ihn einfach in die Verantwortung von Polizei und Justiz zu übergeben, reichte mir auch nicht. Ich wollte ihn leiden sehen.

Burak sah nur noch einen Weg ungeschoren aus dieser Sache heraus zu kommen, denn langsam wurde ihm der Boden hier zwischen Essen, Bochum und Dortmund zu heiß. Er war mit Sicherheit ein Meister, darin im Untergrund zu agieren. Doch nachdem, was im Bunker passiert war, und der Öffentlichkeit, in die er dadurch geraten war, lief die Fahndung nach ihm auf Hochtouren. Ehe er sich von der Bildfläche verabschieden würde, wollte er sich von diesem Ratzeburger noch seinen Anteil besorgen. Schließlich hatte er lange genug die Dreckarbeit für diesen para çuvalı (Geldsack) erledigt. Ratzeburg war an diesem Vormittag auf einem Seminar zu finden, auf dem er für seine dubiosen Geldgeschäfte neue Kunden suchte. In Wirklichkeit waren es Opfer. Und dieses Seminar fand einem Saal der Bochumer Stadtpark Gastronomie statt. Ein sehr öffentlicher Ort für jemanden, der von der Polizei gesucht wurde. Doch Burak liebte das Pokerspiel und jetzt hieß es wohl "All in!" für ihn.

Gut eine halbe Stunde später erreichte ich das Krankenhaus in Dortmund. Auf der Fahrt dorthin lief im Autoradio ein Oldie von Al Steward. Die Musik hob meine Stimmung ein wenig und mit einer gewissen Zuversicht betrat ich den sterilen Krankenhausflur.

Als Rebecca mich erblickte, sprang sie auf und lief mit einem Ausdruck auf ihrem Gesicht auf mich zu, der nichts Gutes verheißen konnte.

 

"Da bist du ja endlich!", rief sie mir schon von weitem aus zu. Sie blieb schnell atmend kurz vor mir stehen. Dann stockte sie einen Moment, nicht sicher, wie sie mir die schlechte Nachricht überbringen sollte. "Was ist?", platzte ich heraus und drängte sie zu reden.

"Marie! Sie mussten sie wiederbeleben. Jetzt findet gerade einer Notoperation statt.... Es tut mir so leid....."

Und ich war nicht bei ihr. Zu viele Gedanken rauschten in diesem Moment durch meinen Kopf, ich erhaschte einen Blick auf die Sitzgelegenheit an der Wand und ließ mich einfach fallen. All meine Kraft war in einer Sekunde aus mir heraus gefallen. Ich konnte, ich wollte nicht mehr. Rebecca nahm neben mir Platz und legte tröstend einen Arm um meine Schultern. Ich spürte Nathaniels Nähe. Doch ihre Kraft erreichte mich nicht. Ich war nicht mehr ich selbst, ich erkannte mich nicht mehr, war nur noch eine leere Hülle, unfähig in diesem Moment, irgendetwas zu empfinden. Ein unsichtbarer Strudel ergriff mich und zog mich hinunter in eine undurchdringliche Schwärze. Geräusche entfernten sich. Ich hörte Rebecca etwas sagen, aber verstand die Worte nicht. Es erstaunte mich, dass ich nicht weinen konnte. Ich atmete, doch in diesem Moment glaubte ich, nicht weiter leben zu können.

Dann, wie in Trance stand ich auf und streifte Rebeccas Arm von meinen Schultern ab. Mit starrem Blick lief ich einfach los, setzte einen Fuß vor den anderen, lief immer weiter, ließ Nat und Becky ohne ein Wort einfach zurück.

"Du musst ihn aufhalten.", hörte ich Rebecca zu Nathaniel sagen. Ich spürte, dass er mir nachlief. Er fasste mich am Arm, doch ich entwand mich seinem Griff. "Rede mit uns.", sprach er mich an. Doch ich ging einfach weiter. Ich wollte hier nicht länger sein. Ich konnte all die Gedanken, die durch meinen Kopf rasten, nicht länger ertragen. Ich wollte einfach nur weg, weg und Rache nehmen. Rache an dem Mann, der mir Marie genommen hatte. Auch, wenn es genau betrachtet nur eine Verkettung von unglücklichen Umständen gewesen war, ein schrecklicher Unfall, doch er war der Auslöser. Burak war letztendlich daran schuld, dass Marie erst in diese Situation geraten war. Oder begann die ganze Geschichte schon viel früher? Egal, in diesem Moment war jedes Argument, das vorgebracht worden wäre, um mich dazu zu bewegen, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken, irrelevant. Alles, was an Skrupel in mir noch vorhanden war, wurde durch diesen unendlichen Schmerz zur Seite gewischt, welcher mich durchdrang, wenn ich an Marie denken musste. Ich bekam gar nicht mit, dass ich wieder vor meinem Wagen stand und einstieg. Ich hatte kein Ziel, wusste in diesem Moment nicht, wo ich Burak finden konnte. Doch in meinem Unterbewusstsein war alles klar und deutlich. Das Schicksal würde mich lenken. Alles, war in diesem Moment bereits vorher bestimmt, dass wusste ich mit jeder Faser meines Körper. Es durchzuckte mich wie eine elektrische Ladung.

Zunächst war es Jessica gar nicht recht gewesen, dass ihr Vater sie gebeten hatte, mit auf die Veranstaltung zu kommen, nachdem, was sie letzte Nacht erlebt hatte. Sie konnte ihren Vater in diesem Moment nicht verstehen, er tat das Ganze wie eine Alltäglichkeit ab. Er wirkte ziemlich kalt und gefühlslos auf sie, wie schon zu oft. Er war eben Geschäftsmann und konnte sich solche Gefühle einfach nicht leisten. Trotzdem konnte sie ihn nicht verstehen, und wollte es auch gar nicht. Wie konnte ein Mensch nur so sein! Und wäre es nicht ihr Vater gewesen, hätte sie ihn abgrundtief dafür verabscheut. Nun stand sie im Badzimmer vor dem großen Spülbecken mit den goldenen Armaturen und blickte sich im Spiegel an. Sie hatte vorhin versucht Mark zu erreichen, doch der war nicht ans Telefon gegangen. Sie hätte so dringend jemanden gebraucht, mit dem sie über die letzte Nacht und die Entführung hätte reden können. Und darüber, dass ihr Vater ihr jedes Mal unwirsch das Wort abschnitt, wenn sie auch nur davon anfing. Was sie am meisten wunderte, war der Umstand, dass er offenbar keinen Gedanken daran verschwendete, die Polizei einzuschalten. War sie ihm denn so wenig wert, dass er die Tatsache, dass seine einzige Tochter in die Hände eines brutalen Verbrechers geraten war, wie eine lästige Fliege einfach zur Seite fegte. Das konnte ihn doch nun wirklich nicht so kalt lassen. Vielleicht sollte sie versuchen, ihm noch einmal klar zu machen, dass sie beinahe gestorben wäre, wenn sie nicht das Wasser gefunden und dann Emma begegnet wäre, die sie letztendlich gerettet hatte.

Doch was, wenn er wieder so seltsam reagierte, wie in dem Moment, als sie diesen Namen zum ersten Mal erwähnt hatte. Sie hatte ihren Vater noch nie so erschrocken gesehen, als wäre die bloße Erwähnung des Namens gleich dem Aussprechen eines teuflischen Fluches. Sein gehetzter Blick und das Zittern um seine Mundwinkel herum, als sie von Emma erzählte. Sie bekam abermals eine Gänsehaut, wenn sie sich an diesen Moment erinnerte.

Gedankenverloren schminkte sie ihre Lippen und ihre Augenlider, dezent, exklusiv zugleich. Sie betrachtete sich für einen Moment zufrieden im Spiegel und entschied, dass niemand, der es nicht wusste, ihr die Strapazen des vergangenen Tages ansehen konnte. Eine perfekte Maske, doch viel schwerer würde es ihr fallen ihr Inneres, ihre Gefühle, hinter dieser Maske zu verbergen. So eiskalt wie ihr Vater war sie einfach nicht. Wenn sie doch nur mit Mark hätte sprechen können.

Mark war ebenfalls die ganze Nacht im Krankenhaus geblieben. Obwohl er einige Tassen Kaffee trank, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Rebecca hatte ihm geraten, nach Hause zu fahren und sich erst einmal etwas auszuruhen. Da hatte sie noch nicht gewusst, wie sehr sich die Situation zuspitzen sollte. Es hatte eine Menge an Überredung gekostet, bis sie ihn endlich so weit hatte, dass er das Krankenhaus verließ und ihr versprach, sich ein wenig Ruhe zu gönnen.

Doch dann stand er vor seinem Wagen und fühlte sich so aufgekratzt, dass an Schlafen in gar nicht zu denken war. Es war mit Sicherheit keine besonders gute Idee, doch er brauchte jemanden, mit dem er sich erst einmal aussprechen konnte. Außerdem wollte er endlich diesen unsinnigen Streit zwischen sich und Jessica aus der Welt räumen. Das war ihm in diesem Moment besonders wichtig, denn wer wusste schon, was in den nächsten Stunden alles passieren sollte. Da war ja noch immer diese düstere Weissagung der alten Frau und noch immer lief der Countdown. Er musste zu Jessica. So stieg er in den Golf und fuhr zur Villa.

3 DIE JAGD BEGINNT

Samstag, 10:25

Noch immer war es für Burak ein Leichtes, sich unerkannt durch die City zu bewegen. Von einem Typen, der ihm noch etwas schuldig war, hatte er sich ein PS-starkes Motorrad besorgt und erreichte nach kurzer Fahrt über die A-40 und den Hauptstraßen in Bochum den Stadtpark. Er reihte sein Motorrad neben die noblen Luxuskarossen der Seminarteilnehmer ein, stieg vom Sitz der schwarz lackierten Maschine und nahm seinen Helm ab. Ganz gekleidet in einem schwarzen Lederkombi wirkte er wild und verwegen. Nicht ganz die Klientel, die an diesem Seminar teilnehmen würde, doch Burak war ja auch hier um von Ratzeburger mit seinem unerwarteten und unangemessenen Auftritt zu provozieren. Er schritt mit weiten, selbstbewussten Schritten über den weißen Kies, der in einem breiten Weg zum Haupteingang der Stadtpark-Gastronomie führte und bei jedem Schritt unter den Sohlen der schweren Motorradstiefel knirschte.

Mark hatte kein Glück, als er die Villa erreichte, in der Jessica mit ihren Eltern lebte. Doch die Hausdame, welche die Aktivitäten des übrigen Personals koordinierte, konnte ihm sagen, dass Jessica mit ihrem Vater zu einem Termin nach Bochum, zu einem Seminar in der Stadtpark-Gastronomie gefahren war. Also kehrte Mark um, stieg in seinen Wagen und fuhr ebenfalls zum Bochumer Stadtpark.

Meine Finger trommelten nervös auf das Lenkrad meines Wagens ein. Schweiß glänzte auf meiner Stirn. Ich hatte ebenso wenig geschlafen, wie alle anderen. Wenn ich meine Augen geschlossen und die Gedanken, die immer noch hinter meiner Stirn rasten, zum Stillstand bekommen hätte, wäre ich mit Sicherheit auf der Stelle eingeschlafen. Doch meine Sorgen um Marie und meine Wut auf Burak hielte mich wach. Doch der fehlende Schlaf setzte mir trotzdem zu. Ich schlug die Tür zu, als ich sah, dass Nathaniel auf den Wagen zukam, um mich umzustimmen. Meine Hand drehte den Zündschlüssel herum und der Motor erwachte zum Leben, wie ein wildes Tier, das eine Fährte aufgenommen hatte und nun zur Jagd ansetzte. Ich fuhr los, noch bevor mich Nathaniel erreichen konnte.

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