Der Geburtstag von Lenz

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Der Geburtstag von Lenz
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© 2020 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903271-75-3

ISBN e-book: 978-3-903271-76-0

Lektorat: Mag. Eva Reisinger

Umschlag- und Innenabbildungen: Sabina Nüssli

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1. Kapitel

2. Kapitel
Der zehnte Geburtstag
An seinem zehnten Geburtstag, einem Donnerstag, verlässt Lenz das Haus seiner Eltern. Er ist wütend und enttäuscht. Er will nie mehr zurückkehren. Am Mittag hat er in seinem Zimmer eine blaue Hose und einen gelben Pullover aus dem Schrank genommen, die Taschenlampe und den Kompass danebengelegt und alles zusammen mit den Butterbroten und den Äpfeln in seinen Rucksack gepackt. Die Brote und die Äpfel hat er aus der Küche stibitzt, nachdem seine Mutter mit Abwaschen und Aufräumen fertig war und im Schaukelstuhl döste. Den ganzen Geburtstag hatten ihm seine Eltern verdorben und zudem hatten sie ihn vor seinen Schulfreunden lächerlich gemacht. Nun will er einfach weg von hier. Wohin, weiß Lenz nicht.
Lenz geht zum See hinunter und biegt in die Straße ein, die zum kleinen Hafen führt. Er hat, wie es seine Eigenart ist, den Rucksack nicht auf dem Rücken, sondern vorne auf der Brust aufgeschnallt und schlendert an den Booten entlang, die hier festgebunden sind: Segelboote, Motorboote, Ruderboote und ganz hinten, dort wo der längste Steg ins Wasser hinausreicht: die Fischerboote. Lenz liebt Schiffe über alles. Am liebsten hätte er auf einem Hausboot gelebt statt in einem Haus mit doofer Hollywood-Schaukel. Oft, wenn er im Bett lag und nicht einschlafen konnte, träumte er sich mit offenen Augen sein Boot zurecht. Das hat ein Steuerrad aus Holz und das ist fast so groß wie Lenz selber. Rechts neben dem Steuerrad ist ein Suppenteller-großer Kompass an einem Gestell so an der Wand befestigt, dass er sich frei in alle Richtungen bewegen kann. In der Mitte des Schiffs führt eine Türe mit einem kleinen runden Fensterchen in den Bauch des Schiffes: Eine vordere und eine hintere Kabine sind hier unten, und natürlich die Kombüse. Kombüse nennt man auf einem Schiff die Küche. Der Kochherd in der Kombüse von Lenz ist so eingerichtet, dass die Pfannen nicht runterfallen können, wenn einmal Wellen aufkommen sollten oder gar ein Sturm, damit nicht die ganze heiße Schokolade oder die Spaghetti verschüttet werden konnten. In der vorderen Kabine gibt es zwei Betten und bei jedem Bett eine kleine, gemütliche grüne Leselampe und ein kleines rundes Fenster. Wenn man auf dem Bett liegt, hört man das Wasser an den Bug schlagen. Die gleichmäßigen Bewegungen der Wellen fühlen sich an als liege man in einer riesengroßen Wiege. Über dem Bett von Lenz gibt es einen großen Kleiderhaken, an dem er sein Ölzeug, Hose und Jacke aus gelbem, wasserdichtem Tuch, und seine Kapitänsmütze aufhängen konnte.
Genauso eine Kapitänsmütze, wie sie in seinen Schiffsträumen vorkam, sieht Lenz plötzlich vor sich: dunkelblauer Stoff, ein kurzer Schirm und in der Mitte über dem Schirm ein kleiner, goldener Anker. Die Mütze sitzt auf dem Kopf eines Mannes mit freundlichem, braungebranntem Gesicht. Der Mann lacht Lenz entgegen und sagt: „So, junger Mann, wohin darf die Reise gehen?“ Lenz erschrickt zuerst, denn er hat gar nicht bemerkt, dass er, während er an sein Traumschiff gedacht hatte, vor einem lustigen, blau-weißen Boot stehen geblieben war. Der Mann mit der dunkelblauen Kapitänsmütze war aus der Kabine des Schiffs gestiegen, ohne dass Lenz es gemerkt hat. Und nun steht er da an der Reling seines Bootes, gerade etwa auf Augenhöhe mit Lenz, der auf dem Steg stehen geblieben ist und nun übers ganze Gesicht und beide Ohren rot wurde. Aber das lustige Gesicht und die freundliche Stimme des Bootskapitäns lassen Lenz aufatmen. Das ist kein Mann, der ärgerlich Kinder anschnauzen würde mit: „Was suchst du hier? Bist du angewachsen? Komm, geh weiter.“ Stattdessen sagt der dicke Mann: „Willst du mal auf die Traudl kommen?“ Traudl heißt nämlich sein Schiff. Das steht auch in weißen Buchstaben am Bug des Schiffs. Eigentlich hatte so einmal die Frau des Kapitäns geheißen, aber die war schon vor vielen Jahren gestorben. „So kann ich trotzdem heute immer noch rufen: Komm, Traudl, wir fahren raus!“, lacht der Traudl-Kapitän ein wenig traurig als er Lenz die Geschichte erzählt.
„Ich heiße Klaus“, sagt der Mann, als er Lenz die Hand reicht, damit er über die Reling hüpfen kann. „Und wie heißt du?“ „Lenz“, antwortet Lenz und will gleich fortfahren und die Erklärung mit Leonhard anhängen. Das muss er oft machen, wenn die Leute ihn ratlos anschauen, nachdem er ihnen seinen Namen genannt hat. Doch diesmal ist es nicht nötig. „Prima, Lenz“, sagt Kapitän Klaus, „dann will ich dir mal meine Traudl zeigen. Möchtest du das?“ „Oh ja, wissen Sie, ich träume oft von genauso einem Schiff, und das hat zwei Kabinen und eine Kombüse und ein ganz großes Steuerrad und …“ „Na, na“, unterbricht ihn Klaus, „dann schauen wir uns doch mal die Traudl genauer an, vielleicht ist dies ja dein Traumschiff.“
Sie beginnen die Inspektion des Schiffes oben beim Stand des Kapitäns. Das Steuerrad ist zwar schon einiges kleiner als beim Schiff, von dem Lenz träumt. Es hat ungefähr den Durchmesser des größten Kuchenblechs in der Küche von Frau Froschmayer. Aber das stört Lenz nicht. Einen Kompass hat es auch nicht an der Stelle, die Lenz dafür vorgesehen hat. Dafür hängt dort in einem kleinen Holzrahmen das Bild einer Frau. Sie steht neben einem Schiff am Ufer eines Sees und lacht in die Kamera. „Das ist eben die Traudl“, sagt Klaus, der bemerkt hat, wie Lenz das Bild mustert. „Ja, ja, die Traudl“, sagt er und seufzt. „Komm, gehen wir runter, ich zeig dir Traudls Bauch“, sagt Kapitän Klaus und hält Lenz die Türe auf. Diese Türe hat genau das gleiche kleine runde Fenster wie das Traumschiff. Lenz steigt die vier ausgetretenen Holztritte hinunter, die in die Kabine führen. Dabei bemerkt er den feinen Schokoladeduft, der aus dem Inneren aufsteigt. „Beginnen wir mit dem Wichtigsten“, sagt Klaus lachend und streicht sich über seinen großen Bauch. „Das ist die Kombüse“, erklärt er, „hier koch ich mir meine heiße Schokolade und ab und zu auch Tomaten-Spaghetti. Magst du heiße Schokolade, Lenz?“ „Ja, und wie“, sprudelt es aus Lenz heraus, „wissen Sie, Herr Klaus …“ „Komm, lass den Herrn vor der Tür, hier drinnen bin ich einfach Klaus“, unterbricht ihn der Kapitän und schiebt sich die dunkelblaue Mütze ins Genick. „Also, weißt du, Klaus“, korrigiert sich Lenz, „in meinem Schiff hat’s genauso eine Kombüse und darauf steht eine Pfanne mit heißer Schokolade, die kann auf dem Kocher festgehalten werden, damit die Schokolade nicht verschüttet, wenn Wellen kommen.“ „Was meinst denn du“, sagt Klaus, „das hat meine Traudl auch drauf“, stolz zeigt er Lenz die Einrichtung. „Also komm, lass uns zur Begrüßung eine Tasse heiße Schokolade trinken“, lädt der freundliche Kapitän Klaus Lenz ein. Er nimmt zwei Tassen vom Gestell. Damit die Tassen bei Seegang nicht runterfallen können, sind sie mit einer elastischen Schnur zurückgehalten. „Sehr praktisch“, lobt Lenz und er will sich diese kluge Erfindung auch gleich für sein Schiff merken. Lenz setzt sich auf die kleine Eckbank neben der Kombüse und Klaus schiebt sich den breiten Kapitänssessel gegenüber zurecht. „Also, Lenz“, sagt Klaus und hebt seine Tasse in die Höhe, „auf unsere Freundschaft.“ Sie trinken Schokolade und die Traudl schwankt vergnügt dazu.
„Jetzt geht’s aber weiter“, sagt Klaus nach den ersten Schlucken, „du musst ja das ganze Schiff kennenlernen.“ Er führt Lenz in die vordere Kabine, die mit einer schmalen Türe verschlossen ist. Hier sieht es fast genau so aus, wie Lenz es sich erdacht hat: Zwei gemütliche Betten und in den Außenwänden auf jeder Seite ein kleines Fenster, nicht rund zwar, aber dafür hat es rot-weiß getupfte Vorhänge davor, was Lenz sehr praktisch findet. In der hinteren Kabine öffnet Klaus eine Klappe im Boden und leuchtet mit einer dicken, runden Taschenlampe in das große Loch. Es riecht nach Maschinenöl und Metall und Lenz sieht auf ein glänzendes Ungetüm: lauter Ventile, Drähte, Kabel, Kerzen, Kurbeln, Stangen, Schrauben, ein scheinbarer Wirrwarr, den Lenz staunend betrachtet. „Volvo“, sagt Klaus mit Kennermiene und Lenz nickt dazu, als hätte er sich in seinem ganzen Leben mit nichts anderem befasst als mit Schiffsmotoren. „Wir werfen den Wolf doch am besten einmal an“, sagt Klaus, als die beiden Freunde wieder auf der Treppe zum Deck stehen. „Wolf“ ist für Klaus der Übername für den Volvo-Motor. Er kippt im Kapitänsstand einen Schalter nach links, zieht einen Hebel halb heraus und drückt dann lange auf einen schwarzen Knopf. Man hört ein zufriedenes Schnurren, das in ein regelmäßiges Tuff-Tuff-Tuff übergeht. Der Motor ist gleich angesprungen und läuft ganz ruhig. Außen am Schiff hört man ein Spucken und Paffen, der Motor braucht Wasser aus dem See zur Kühlung, und spuckt dieses dann regelmäßig auf der Seite wieder aus. Die Augen von Klaus glänzen und sein breiter Mund wird vor Lachen noch breiter, als er stolz zu Lenz rüberblickt und ein lang gezogenes „Naa?“ brummt.
„Das ist das größte Geburtstagsgeschenk“, sagt Lenz. „Was heißt da Geburtstagsgeschenk?“, fragt Klaus mit gerunzelter Stirn, „Wer hat denn da Geburtstag?“ „Ich“, stößt Lenz verlegen heraus und bekommt wieder knallrote Wangen und Ohren. „Waas?“, ruft Klaus ungläubig, „du hast heute Geburtstag?“ „Ja“, sagt Lenz kleinlaut und schiebt nach, „aber der ist ja schon bald vorbei.“ Es ist Lenz peinlich, dass ihm das mit dem Geburtstagsgeschenk herausgerutscht ist. „Was heißt da vorbei, der hat erst eben begonnen“, ruft Klaus und strahlt über das ganze, breite Gesicht. „Wie wär’s denn mit einer kleinen Geburtstagsfahrt mit meiner Traudl?“ Lenz glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. „Ich, wir, jetzt??“, bringt er nur hervor. „Ja, du und ich und jetzt. Und wenn wir aus dem Hafen rausgefahren sind, übernimmst du gleich mal Steuer und Kommando. Erst brauch ich aber noch deine Hilfe: Geh doch bitte auf den Steg raus und mach, wenn ich dir das Kommando gebe, hinten und vorne die Leinen los. Aber vergiss nicht rechtzeitig wieder an Bord zu springen, sonst musst du hinterher schwimmen.“ Lenz ist ganz aufgeregt, so wichtige Aufgaben schon bei der ersten Ausfahrt übertragen zu bekommen, und er lernt auch gleich, dass zuerst die hintere Leine gelöst und über die Reling ins Schiff geworfen werden muss, und dann erst die vordere. Und der Sprung zurück an Bord der Traudl gelingt ihm vorzüglich. „Jetzt nimm die lange Stange, die da vorne liegt“, weist ihn Klaus weiter an. „Damit kannst du uns vom Ufer wegstoßen, damit wir die Fender schonen können.“ Schon wieder ein neues Wort für Lenz, „Fender“. Diese langgezogenen Ballone aus festem blauem Kunststoff hängen rund herum an Tauen aus dem Boot, damit der Rumpf nicht an der Hafenmauer anschlägt und kaputt geht. Als nächstes zeigt Klaus, wie die Leinen sauber zusammengerollt und beiseitegelegt werden, damit es an Bord keinen Leinensalat gibt. Lenz ist so beschäftigt, dass er gar nicht bemerkt, wie sich das Schiff schon mehr als zehn Meter vom Ufer entfernt und schon bald den Hafeneingang passiert hat. „He, Käpt’n“, ruft Klaus nach vorne, „kommen Sie doch mal her.“ Er meint Lenz und der eilt ganz stolz zum Steuerrad. Dort passt ihm Klaus seine dunkelblaue Kapitänsmütze auf den Kopf. „Noch ein wenig zu groß, da müssen wir dann im Laden am Hafen nach einer kleineren Nummer Ausschau halten.“ Nun fasst Klaus Lenz an den Händen und führt sie ans hölzerne Steuerrad mit der glänzenden Nabe aus Messing. Lenz fährt. Lenz ist der Kapitän. „Da, dieser Hebel rechts, das ist der Gashebel. Nach vorne heißt vorwärts, nach hinten heißt rückwärts. Aber nie in einem Zug von vorne nach hinten ziehen, du musst immer in der Mitte kurz anhalten, damit die Schiffsschraube Zeit hat umzukehren.“ Lenz hat ganz heiße rote Wangen, er ist so aufgeregt und muss sich so viel Neues merken. Doch Lenz ist so glücklich.


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