Tom Sawyers Abenteuer

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Drittes Kapitel
Tom als General – Triumph und Belohnung – Unbehagliches Glück – Auftrag und Versäumnis

Tom fand seine Tante in einem hübschen Hinterzimmer am offenen Fenster sitzend. Das Zimmer vereinigte in sich die Eigenschaften eines Schlaf-, Frühstück-, Speise- und Lesezimmers. Die würzige Sommerabendluft, die träumerische Stille, der Blumenduft und das einschläfernde Summen der Bienen hatten ihre Wirkung auf die Tante nicht verfehlt. Sie schlummerte über ihrem Strickstrumpf; ihre einzige Gesellschaft, die Katze, war in ihrem Schoße eingeschlafen. Die Brille war sorgfältig über ihre grauen Haare zurückgeschoben. Sie war mit sich selbst schon einig, dass Tom die Arbeit längst im Stiche gelassen, und staunte über die Sicherheit, mit der er sich ihr mit den Worten überlieferte: »Darf ich jetzt nicht spielen gehen, Tante?«

»Was, jetzt schon? Wieweit bist du mit deiner Arbeit?«

»Fix und fertig, Tante!«

»Lüge nicht, Tom! Du weißt, ich kann es nicht leiden!«

»Ich lüge nicht, Tante! Alles ist fertig!«

Tante Polly traute ihm nur halb; sie erhob sich, um selbst nachzusehen, und wäre zufrieden gewesen, wenn sie auch nur den fünften Teil von Toms Behauptung wahr gefunden hätte. Maßlos aber war ihr Erstaunen, als sie den Zaun nicht nur 3-4mal sorgfältig angestrichen, sondern auch noch einen weißen Extrastrich als Zugabe am Fuße desselben fand.

»Darf ich meinen Augen trauen? Daraus werde klug, wer kann! Wahr und wahrhaftig, Tom, du kannst arbeiten, wenn du willst.« Sie schwächte ihr Lob jedoch durch den Nachsatz ab: »Jammerschade ist es nur, dass du so selten willst! Nun geh' spielen, bleibe aber nicht wochenlang aus, oder es setzt Hiebe!«

Diese Leistung Toms hatte sie so sehr überwältigt, dass sie ihn in die Speisekammer führte, den schönsten Apfel aussuchte und ihn ihm mit dem Bemerken zusteckte, es sei doch etwas ganz anderes, so etwas Gutes ehrlich und redlich zu verdienen, als es auf anderem, strafbarem Wege zu erlangen. Und während sie ihre Ermahnung mit einem passenden Bibelspruch schloss, stahl Tom eine Pfeffernuss und kniff aus.

Sid stieg eben die Treppe vom zweiten Stock herunter. Erdschollen waren reichlich zur Hand, und bald war die Luft davon erfüllt. Wie Hagelsturm umsausten sie Sid. Bevor Tante Polly sich von ihrer Überraschung erholen und herbeieilen konnte, hatten 6 oder 7 Schollen getroffen und Tom war über den Zaun auf und davon. Da war zwar die Türe, aber wie gewöhnlich hatte es Tom zu eilig um sie zu benutzen. Er war zufrieden, seine Rechnung mit Sid, des weißen und schwarzen Fadens wegen, ausgeglichen zu haben, und ungehindert sah er sich bald in Sicherheit hinter seiner Tante Kuhstall. Von da eilte er auf den Dorfplatz, wo eben, einem früheren Abkommen entsprechend, zwei Kompanien Schuljungen zum Treffen aufmarschiert waren. Tom war General der einen Armee, und sein Busenfreund Joe Harper befehligte die andere. Diese beiden Armeebefehlshaber beteiligten sich nicht am Handgemenge, das war unter ihrer Würde, und nur gut für die jüngere Brut; sie saßen mitsammen auf einer Anhöhe und leiteten die Feldoperationen durch Adjutanten. Nach schwerer Schlacht errang Toms Armee einen glänzenden Sieg. Die Toten wurden gezählt, die Gefangenen ausgewechselt; die Bedingungen der nächstfolgenden Feindseligkeiten und der Tag für die nächste Schlacht wurden festgestellt, worauf die Armeen sich in Reih und Glied sammelten, heimwärts zogen und Tom allein ließen.

An der Wohnung Jeff Thatchers vorbeigehend, sah er ein neues Mädchen im Garten; ein liebliches blauäugiges Geschöpf mit gelben, in zwei lange Zöpfe geflochtenen Haaren, im lichten Sommerrock und gestickten Höschen. Der sieggekrönte Held unterlag ohne einen Schuss. Das Bild einer gewissen Amy Lawrence verschwand spurlos aus seinem Herzen. Er hatte geglaubt, sie bis zum Wahnsinn zu lieben, er hatte sie angebetet; und ach, seine Leidenschaft erwies sich nun als eine leichte, vorübergehende Neigung. Monate lang hatte er um sie geworben, vor kaum einer Woche hatte sie ihm ihre Zuneigung gestanden; sieben Tage lang hatte er sich für den glücklichsten Jungen des Dorfes gehalten, und in einer Minute war sie, gleich einem vorübergehenden Besuche aus seinem Herzen verschwunden.

Verstohlenen Auges bewunderte er diesen neuen Engel, bis er sich von ihr bemerkt sah. Ohne sich den Anschein zu geben, als sei er von ihrer Nähe unterrichtet, begann er, mit allerlei läppischen Knabenpossen vor ihr zu paradieren, um ihre Bewunderung zu erregen, bemerkte aber während einiger gefährlicher gymnastischer Kunststücke, dass sie langsam ihrer Wohnung zuging. Tom näherte sich niedergeschlagen dem Zaun in der Hoffnung, dass sie noch verweilen würde. Sie blieb einen Augenblick auf der Treppe und näherte sich dann der Türe. Ein schwerer Seufzer entwand sich Toms Brust, als sie ihre Füße auf die Schwelle setzte. Plötzlich aber verklärte sich sein Gesicht, denn sie hatte, ehe sie in der Türe verschwand, eine Pensee über den Zaun geworfen.

Im Nu war er etwa einen Fuß breit von der Stelle, wo die Blume lag, dann beschattete er seine Augen mit der Hand und blickte starr die Straße hinunter, als ob irgend etwas sehr Interessantes dort zu sehen wäre. Dann las er einen Strohhalm auf, und versuchte, ihn mit weit zurückgebogenem Kopfe auf der Nase zu balancieren; und während der hierzu erforderlichen Bewegung näherte er sich unmerklich dem Blümchen. Endlich hatte er es unter seiner nackten Fußsohle. Er faßte es mit eingekniffenen Zehen, humpelte um die Ecke und verbarg ungesehen seinen Schatz auf dem Herzen, oder Magen, gleichviel; Tom war nicht sehr gelehrt in der Anatomie.

Dann kam er zurück und paradierte, wie zuvor, in der Hoffnung, das Mädchen werde seine Aufmerksamkeit gewahr werden. Es wurde Nacht, aber sie zeigte sich nicht. Zögernd wandte er sich endlich der Heimat zu; doch er tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie ihn vielleicht, hinter einem Fenster versteckt, beobachtet habe. Sein armes Hirn war voll Visionen.

Beim Nachtessen war er so aufgeregt, dass die Tante sich fragen musste, was es nur mit dem Jungen wieder sei. Sie schalt ihn, Sid mit Schollen beworfen zu haben, ohne den mindesten Eindruck zu erzielen. Er versuchte unter der Nase seiner Tante Zucker zu stehlen und wurde dafür auf die Finger geklopft.

»Warum schlägst du Sid nicht, wenn er Zucker nimmt?«

»Weil er mich nicht immer quält, wie du. Du würdest die Hand immer in der Zuckerbüchse haben, wenn ich nicht darüber wachte!«

Sie ging in die Küche. Sid, seiner Straflosigkeit sicher, griff mit solch triumphierender Miene nach der Zuckerdose, dass Tom es fast nicht ertragen konnte. Aber die Büchse entschlüpfte seinen Fingern und zerbrach. Tom war entzückt, und so sehr entzückt, dass er keinen Laut von sich gab. Er wollte nichts sagen, und sich still verhalten, bis Tante kommen und nach dem Täter fragen würde. Dann wollte er sprechen, und in dem Genuss, Sid geprügelt zu sehen, schwelgen. So groß war sein Jubel, dass er kaum an sich halten konnte, als die alte Dame kam und beim Anblick der Trümmer Zornesblitze über die Brille schleuderte. »Jetzt, jetzt kommt's«, dachte er, und im nächsten Augenblicke lag er auf dem Boden! Die mächtige Faust war zu neuem Schlage über ihm, erhoben und »Höre auf, warum schlägst du mich? Sid hat es getan!«

Verwirrt hielt Tante Polly inne und Tom erwartete linderndes Bedauern. Wieder zu Atem gekommen, sagte sie jedoch: »Hm! Es ist kein Streich verloren. Wenn nicht jetzt, so hast du es ein andermal verdient!«

Sofort aber peinigte sie das Gewissen und sie hätte ihm so gerne einige liebevolle, beschwichtigende Worte gesagt. Aber sie bedachte, dass das einem Schuldbekenntnis gleichkommen würde, und das verbot die Disziplin. Somit schwieg sie und ging ihren Geschäften mit bekümmertem Herzen nach.

Tom schmollte in einem Winkel, und stellte sich das erlittene Unrecht je länger je größer vor. Er wusste, dass seine Tante ihn in der Seele liebte, und dieses Bewusstsein verursachte ihm düstere Freude. Er wollte kein Zeichen von sich geben und keines bemerken. Er wusste, dass von Zeit zu Zeit ein bedauernder Blick durch einen Strom von Tränen auf ihn fiel, aber er wollte es nicht bemerken. Er dachte sich todkrank, seine Tante über ihn gebeugt und um ein einziges kleines Wort der Verzeihung flehend, – aber er wollte sein Gesicht der Wand zukehren und sterben, ohne dieses Wort gesprochen zu haben. Wie würde ihr da zu Mute sein?

Dann stellte er sich vor, wie es wohl sein würde, wenn sie ihn vom Flusse heimbrächten, tot, mit nassen Locken und stillem Herzen! Wie sie sich auf ihn stürzen, Schauer von Tränen vergießen und ihre Lippen heiße Gebete zu Gott entsenden würden, damit er ihr ihren Jungen wiedergäbe, und wie sie nie, niemals mehr böse mit ihm sein würde! Aber er wollte daliegen, weiß und kalt, ohne Lebenszeichen, ein armer kleiner Dulder, dessen Kümmernisse nun aus wären! So sehr übermannten ihn diese träumerischen Gefühle, dass ihm der Atem stockte, die Augen überliefen und die Tränen stromweise über seine Nasenspitze träuften. Einen solch' überschwänglichen Genuss fand er in diesem Hätscheln seines Kummers, dass er nicht ertragen konnte, was nur eine Spur von Fröhlichkeit und Vergnügen verriet, so zwar, dass, als sein Bäschen Marie nach einer ewig langen achttägigen Abwesenheit auf dem Lande durch die eine Tür ins Zimmer tanzte und Gesang und Sonnenschein mitbrachte, er aufstand, und durch die andere Tür, in finstere Wolken und Trübsal gehüllt, davon ging.

Er vermied die gewohnten Knabenspielplätze und suchte öde, mit seiner Gemütsstimmung harmonierende, entlegene Orte. Ein im Flusse liegendes Floß von Baumstämmen war einladend; er setzte sich auf den äußersten Rand und betrachtete die furchtbare Größe des Wassers, mit dem Wunsche, ohne Todeskampf ertrinken zu können. Dann gedachte er seiner Blume. Er zog sie hervor, zerknitterte und zerdrückte sie, und erhöhte dadurch seine traurige Glückseligkeit nicht wenig. Ob sie ihn wohl bedauern würde, wenn sie Kenntnis von seinem Elend hätte? Ob sie wohl Tränen vergießen und wünschen würde, ihm die Arme um den Hals zu legen und ihn trösten zu können? Oder würde sie sich teilnahmslos von ihm wenden, wie die ganze übrige schnöde Welt? Diese Vorstellungen bereiteten ihm ein so großes schmerzliches Vergnügen, dass er sie immer und immer wieder unter den verschiedensten Beleuchtungen an sich vorbeiziehen ließ, bis die nackte Wirklichkeit zuletzt allein übrig blieb. Dann stand er auf und wanderte fort in die Finsternis.

 

Gegen 10 Uhr erreichte er die abgelegene Straße, in welcher seine unbekannte Angebetete wohnte. Alles still, kein Laut schlug, an sein Ohr; nur der Schimmer einer Lampe drang durch die Vorhänge eines Fensters im zweiten Stock. Beherbergten diese Räume ihre geheiligte Person? Er kletterte über den Zaun, stahl sich leise durch die Gartengewächse bis zum Fenster. Lange und in tiefer Bewegung betrachtete er es; dann streckte er sich darunter auf die Erde nieder, die Hände auf der Brust zusammengefaltet, seine arme, zerknickte Blume in denselben. So wollte er sterben, allein in der kalten Welt, ohne Obdach über seinem heimatlosen Haupte, ohne eine freundliche Hand, ihm den Todesschweiß abzutrocknen, ohne ein über ihn gebeugtes, liebendes Gesicht im Todeskampf. So würde sie ihn beim ersten Blick in den neuen, fröhlichen Morgen finden. O! würde sie auch nur eine einzige Träne über seine kalte, leblose Form weinen, würde sie seinem so früh zerstörten jungen Leben nur einen einzigen Seufzer weihen?

Plötzlich öffnete sich das Fenster. Die schrille Stimme eines Dienstmädchens entweihte die heilige Stille und eine wahre Sintflut plätscherte auf die Reliquien des armen Märtyrers hernieder.

Fluchend sprang der gequälte Held empor. Ein Stein sauste, bald folgte das Klirren einer zerschmetterten Scheibe, eine kleine, flüchtige Gestalt überstieg den Zaun und verlor sich in rasender Eile im Dunkel. Bald darauf stand Tom ausgekleidet im Schlafzimmer und untersuchte seinen durchnässten Anzug beim Scheine eines Talgstummels. Sid erwachte; die Lust zu einigen beißenden Bemerkungen verging ihm beim ersten Blick in Toms unheilverkündendes Auge. Ohne sich der Belästigung des Nachtgebetes zu unterziehen, schlief Tom ein und Sid nahm gebührende Notiz von dieser Unterlassungssünde.

Viertes Kapitel
Geistige Seiltänzerei – Besuch der Sonntagsschule – Der Superintendent – Paraden – Tom als Löwe

Über einer ruhigen Welt erhob sich die Sonne und begrüßte das friedliche Dorf mit ihren segensreichen Strahlen.

Das Frühstück war vorüber und Tante Polly hielt Familienandacht. Sie begann mit einem, aus einer Reihe von Bibelstellen bestehenden, durch eigene Ergüsse zusammengekitteten Gebet. Dann folgte eines der blutigen Kapitel des mosaischen Gesetzbuches, das sie, wie vom Sinai herunter, vorlas.

Tom aber gürtete seine Lenden, und bereitete sich, seine Schulaufgaben zu machen. Sid war damit schon vor mehreren Tagen fertig geworden. Tom raffte all' seine Energie zusammen, um fünf Bibelsprüche auswendig zu lernen, und hatte sie klugerweise aus der Bergpredigt gewählt, weil er keine kürzeren finden konnte. Nach Verlauf einer halben Stunde hatte er einen unbestimmten Begriff von seiner Aufgabe, aber nicht mehr, denn seine Gedanken durchwanderten das ganze Gebiet menschlichen Fühlens und seine Hände waren beschäftigt mit allerhand zerstreuenden Treibens. Mary ergriff das Buch, um ihn zu überhören und er suchte sich einen Weg durch den ihn umgebenden Nebel zu bahnen.

»Selig sind die A–A–«

»Armen –«

»Ja, die Armen a–a–«

»Am Geiste –«

»Am Geiste. Selig sind die Armen am Geiste, denn sie – denn sie –«

»Denn ihrer –«

»Denn ihrer. Selig sind die Armen am Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. – Selig sind die Trauernden, denn sie – denn sie –«

»So–«

Denn sie s–«

»Sol–«

»Denn sie sol– ach ich weiß nicht!«

»Sollen –«

»Ja, Sollen! Denn sie sollen – denn sie sollen – hm – sol– hm – sol– sollen trauern, denn sie – hm – Selig sind die da sollen – die da – hm – die da trauern sollen – denn sie sollen – sollen – was sollen sie, Mary? Warum sagst du mir es nicht? Wie kannst du so gemein sein?«

»O, Tom, du armer Dummkopf, ich will dich ja nicht plagen. Aber du musst von vorne anfangen. Verliere den Mut nicht, Tom; du wirst es schon fertig bringen und dann sollst du auch etwas recht Schönes von mir bekommen. So, nun fange wieder an!«

»Gut, Mary, aber was ist es, Mary? Sage mir, was es ist?«

»Du wirst es schon sehen. Du weißt, wenn ich sage, es ist schön, so ist es schön.«

»Ich glaube dir, Mary. Nun denn, so will ich wieder dran!«

Und er ging wieder dran – und unter dem doppelten Antriebe der Neugierde und des zu erwartenden Lohnes mit solchem Eifer, dass er einen glänzenden Erfolg errang. Mary gab ihm ein funkelneues Taschenmesser im Wert von zwölf und einem halben Cent; und das Entzücken darüber erschütterte sein ganzes Wesen bis in die Fundamente. Zwar war es unmöglich, irgend etwas mit dem Messer zu schneiden; dessen ungeachtet war es ein echtes Bowie-Messer, und darin eben lag ein unschätzbarer Wert; denn es ging ein Gerücht unter den Jungen des Westens, dass auch falsche, nachgemachte Bowie-Messer in den Handel kämen. Tom probierte es zuerst am Glasschranke und war eben im Begriff, den Sekretär zu attackieren, als er abberufen wurde, um sich zur Sonntagsschule anzukleiden.

Mary gab ihm ein Zinnbecken mit Wasser und ein Stück Seife. Er ging vor die Türe und setzte das Becken auf eine kleine Bank, tauchte die Seife ins Wasser und legte sie daneben. Dann stülpte er die Hemdsärmel zurück, goss das Wasser behutsam auf die Erde, ging in die Küche und begann sich mit dem hinter der Tür hängenden Handtuch das Gesicht abzureiben. Doch Mary nahm ihm das Tuch weg.


»Pfui, Tom, schäme dich! Was soll das heißen? Fürchtest du das Wasser?«

Tom war beschämt. Er füllte das Becken von neuem, betrachtete es einen Moment, um Mut zu fassen, stieß einen tiefen Seufzer aus und begann. Bald kehrte er mit geschlossenen Augen in die Küche zurück, und während er mit beiden Händen nach dem Handtuch tastete, rieselten ihm als beredte Zeugen seiner Anstrengung Ströme von Wasser und Schmutz über das Gesicht herab. Mit Abtrocknen zu Ende, ward er aber nichts weniger als befriedigend befunden. Eine scharfe Linie teilte sein Gesicht in zwei Felder, das eine, gewaschene, erstreckte sich wie eine Maske von der Stirne bis zum Kinn und den Wangen, – das andere, unbewässerte, umfaßte Ohren, Hals und Nacken. Mary musste ihn in die Hände nehmen und als sie fertig war, und ihm die Haare gekämmt und die Locken zierlich zurecht gebürstet hatte, sah er aus, wie seine übrigen Nebenmenschen. (Tom verachtete lockiges Haar. Er hielt es für weibisch; seine eigenen Locken waren ihm ein Quell der Bitterkeit, und er suchte sie mit großer Mühe und Arbeit an den Kopf anzuplatten.) Dann brachte Mary Kleider zum Vorschein, die er erst zwei Jahre Sonntags getragen hatte, und die nur seine »andern Kleider« hießen. Somit kennen wir den Umfang seines Kleidervorrats. Das Mädchen rückte das Vernachlässigte seines Anzugs zurecht, knöpfte ihm die Jacke zu, legte ihm den Hemdkragen um, gab einen letzten Bürstenstrich, und krönte ihn mit seinem gesprenkelten Strohhut. Er sah nun ganz anständig, aber sehr unbehaglich aus, denn ganze Kleider und Reinlichkeit waren ihm in der Seele zuwider. Er hoffte, Mary würde die Schuhe vergessen, sah sich aber getäuscht. Sie brachte sie, nach damaliger Sitte tüchtig mit Talg geschmiert. Er wurde ärgerlich und meinte, sie verlange alles von ihm, was er hasse. »Tom, sei lieb, bitte!« Brummend fuhr Tom in dieselben. Mary war bald bereit, und die drei Kinder machten sich auf den Weg zur Sonntagsschule, welche Tom von ganzem Herzen hasste, die beiden andern aber lieb hatten. Die Sabbatschulstunden dauerten von 9 bis 11 Uhr, und dann begann der Kirchendienst. Zwei der Kinder blieben immer freiwillig, Tom auch, aber aus gewichtigeren Gründen. Die Kirche war nur ein kleines, einfaches Gebäude, auf dessen hochlehnigen, ungepolsterten Sitzen etwa 300 Personen Platz fanden, mit einer Art Baumkasten als Turm darauf.

Am Tor blieb Tom einige Schritte zurück und näherte sich einem sonntäglich gekleideten Knaben.

»Höre Billy, hast du ein gelbes Billet?«

»Ja!«

»Was willst du dafür?«

»Was gibst du?«

»Ein Stück Lakritze und eine Fischangel!«

»Zeig' einmal!«

Tom wies sie vor. Sie gefielen und die Gegenstände gingen vom Besitz des einen in den Besitz des andern über. Dann tauschte er ein paar weiße Marmel gegen drei rote Billete und einige andere Sachen gegen zwei blaue. Er lauerte auf noch mehrere Knaben, von denen er in Zeit von 15 Minuten verschiedene farbige Billete erhandelte. Mit einem Schwarm sauber gekleideter, geschwätziger Knaben und Mädchen betrat er die Kirche, nahm Platz und fing Händel mit dem ersten besten Jungen an. Der Lehrer, ein ältlicher, würdiger Mann, vermittelte. Kaum hatte dieser den Rücken gedreht, so zupfte er einen andern Knaben auf der nächsten Bank bei den Haaren und schien in sein Buch vertieft, als dieser sich umwandte. Hierauf stach er den nächsten mit einer Stecknadel und erntete dafür einen neuen Verweis vom Lehrer. Toms ganze Klasse war nach einem Muster, unruhig, lärmend, ungesittet. Beim Hersagen ihrer Aufgaben war auch nicht einer sattelfest, und immer und immer wieder musste nachgeholfen werden. Sie kamen jedoch durch, und jeder erhielt seinen Lohn in blauen Kärtchen mit einem Bibelspruch darauf. Je zwei hergesagte Verse galten eine blaue Karte. Zehn blaue konnten gegen eine rote ausgetauscht werden, zehn rote gegen eine gelbe, und für zehn gelbe Karten erhielt der Schüler vom Superintendenten eine sehr einfach gebundene Bibel im Wert von 40 Cents. Wie viele meiner Leser würden sich der Aufgabe unterziehen, 2000 Verse auswendig zu lernen, und wäre es auch für eine Bibel mit Illustrationen von Doré? Und doch hatte Mary durch zweijährigen Fleiß zwei Bibeln errungen und ein Junge deutscher Abstammung sogar vier oder fünf. Dieser hatte einst 3000 Verse in einem Zuge ohne den geringsten Anstoß hergesagt, war aber von diesem Tage an und blieb nicht viel mehr als ein Tölpel, eine Folge der übermäßigen Gedächtnisanstrengung. Die Schule erlitt dadurch einen herben Verlust, denn bei feierlichen Anlässen wurde immer dieser Junge vom Superintendenten vorgerufen, um vor dem Publikum »auszulegen«, wie Tom sagte. Nur die älteren Schüler sammelten ihre Karten und harrten aus, aber nicht lange genug, um in den Besitz einer Bibel zu gelangen; die Überreichung eines dieser Preise war daher ein seltenes und bemerkenswertes Ereignis. Der preisgekrönte Junge spielte an diesem Tage eine so beneidenswerte Rolle, dass jeder Knabe von neuem Eifer beseelt, der oft einige Wochen anhielt, wieder frisch an die Arbeit ging.

Toms Streben war an und für sich wohl nie auf einen Preis gerichtet gewesen, der damit verbundene Glanz und Ruhm hatte ihm aber schon längst zu schaffen gemacht.

Und als die Zeit erfüllet war, stand der Superintendent vor der Kanzel, den Zeigefinger zwischen die Blätter eines Gesangbuches eingeklemmt, und gebot Stille. Wenn ein Sonntagsschulsuperintendent seine herkömmliche Rede hält, muss er notwendigerweise ein Gesangbuch in der Hand haben, ebensogut als ein Solosänger im Konzert sein Notenblatt. Warum, wissen wir nicht; denn weder der eine noch der andere macht jemals Gebrauch davon. Dieser Superintendent war ein hageres Geschöpf von etwa 35 Jahren, mit sandfarbigem Bocksbart und ebensolchen Haaren. Er trug steife Vatermörder, deren oberer Saum an die Ohren stieß, deren scharf zugespitzte Ecken sich steif an die Mundwinkel anschlossen und einen Zaun bildeten, der ihn zwang, immer gerade aus zu schauen, oder sich umzudrehen, wenn eine Seitenansicht notwendig wurde. Sein Kinn erhob sich über einer, in der Form einer Banknote ähnelnden, steifen, an beiden Ecken mit Fransen versehenen Halsbinde; nach der Mode des Tages waren die Spitzen seiner Schuhe schlittschuhförmig scharf aufwärts gebogen, was nur durch stundenlanges Sitzen vor einer Wand mit gegen dieselbe gestemmten Zehen erreicht werden konnte.

 

Mr. Walters war es Ernst mit der Sache, sein Herz war gut und ohne Falsch. Er hegte eine so große Verehrung für heilige Gegenstände und Orte, dass seine Sonntagsschulstimme unabsichtlich eine eigentümliche Modulation angenommen hatte, die seiner Werktagsstimme ganz fremd war.

»Nun, Kinder! müßt ihr alle so stille und aufrecht sitzen, als es euch nur möglich ist, und meinen Worten für einige Minuten aufmerksam zuhören. So, so ist's recht! So sollten es kleine Knaben und Mädchen immer machen! Dort sehe ich ein kleines Mädchen, das zum Fenster hinausschaut! Ich fürchte, sie glaubt mich draußen, vielleicht auf einem der Bäume, um eine Ansprache an die kleinen Vögel zu halten. (Zustimmendes, unterdrücktes Gelächter.) Es drängt mich, euch zu sagen, wie wohl es mir tut, so viele kleine, saubere, fröhliche Gesichter an dieser Stelle versammelt zu finden, um zu lernen, was recht und gut ist.« – Und so fort. Es ist unnütz, die ganze Rede hier wiederzugeben. Sie war ganz nach der herkömmlichen Schablone und wir kennen sie alle.

Das letzte Drittel der Rede verlief nicht ganz so ruhig, wie die beiden ersten. Die schlimmen Jungen knufften und pufften sich, eine wachsende Unruhe, ein Wispern und Hin- und Herrücken machte sich immer hörbarer, und steckte endlich sogar die musterhaften Kinder Sid und Mary an. Der Redner mäßigte jedoch plötzlich seine Stimme, damit trat auch wieder Stille ein, und der Vortrag schloss unter allgemeiner lautloser Dankbarkeit.

Anlass zu der erwähnten Unruhe hatte auch, nicht zum geringsten Teile, der Eintritt von Besuchern gegeben. Advokat Thatcher kam, begleitet von einem schwachen, alten Manne; dann ein feiner stattlicher Mann von mittleren Jahren mit eisgrauem Haar, und eine würdige Dame, anscheinend seine Frau. Die letztere führte ein Kind an der Hand. –

Tom hatte seither voll Unruhe und Verdruss dagesessen, von Gewissensbissen gepeinigt. Er wagte nicht, Amy Lawrences Auge zu begegnen, er konnte ihren liebevollen Blick nicht ertragen. Kaum hatte er aber die kleine Neuangekommene erblickt, so schwamm sein Herz in Wonne. Im nächsten Augenblick begannen seine Paraden mit aller Macht. Er beohrfeigte seine Kameraden, riß sie an den Haaren, schnitt Fratzen, kurz, er trieb alles, was er für geeignet hielt, die Aufmerksamkeit eines kleinen Mädchens zu fesseln und ihren Beifall zu gewinnen. Nur die Erinnerung an das im Garten dieses Engels erlittene Sturzbad trübte noch seine Glückseligkeit, bald aber schwand auch diese und er schwamm ganz in Entzücken. Man räumte den Besuchern die höchsten Ehrenplätze ein, und sobald Mr. Walters seine Rede beendigt hatte, stellte er die Neuangekommenen der Schule vor. – Der stattliche Mann von mittleren Jahren entpuppte sich als eine merkwürdig vornehme Persönlichkeit; er war nichts geringeres als Bezirksrichter, – der höchstgestellte Mann, den die Kinder je gesehen – sie wunderten sich, aus welchem Material er wohl gemacht sei, und hätten ihn gar zu gern brüllen gehört, wenn sie sich nicht gefürchtet hätten.

Er war von Konstantinopel 12 Meilen entfernt, also ein gereister Mann, der die Welt gesehen hatte; diese Augen hatten sogar das Bezirksgerichtsgebäude gesehen, von dem die Sage ging, dass es eine Zinnbedachung habe. Eine ganze Reihe aufgerissener Augen und lautlose Stille bekundeten die heilige, durch diese Betrachtungen erweckte Scheu und Ehrfurcht. Das war der große Richter Thatcher, der Bruder des Dorfadvokaten Thatcher.

Jeff Thatcher näherte sich dem großen Manne, ihn zu begrüßen und den Neid seiner Mitschüler zu erregen. Wie Musik wären ihm wohl die Bemerkungen erschienen: »Sieh' mal Jim! Er geht da hinauf! Sieh'! er gibt ihm die Hand! Bei Gott, möchtest du nicht an Jeffs Stelle sein?«

Mr. Walters begann seine Parade kräftig. Mit Amtsmiene und amtlicher Geschäftigkeit erteilte er Befehle hierhin und dorthin, wo nur Gelegenheit sich bot.

Der Bibliothekar »paradierte« hin- und herrennend, Bücher hin- und herschleppend, und nach Kräften zu dem geschäftigen Summen beitragend, das gewissen Würdeträgern so wohl gefällt.

Die jungen Lehrerinnen »paradierten«, sich süßlich über Schüler neigend, die sie kurz vorher geknufft und gepufft hatten, ihre hübschen kleinen Finger warnend gegen unartige Jungen erhebend, und andern, gesitteten, liebreich den Kopf streichelnd. Die jungen Lehrer »paradierten« durch sanfte Zurechtweisungen und Entfaltung ihrer Autorität zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Das ältere Lehrerpersonal beiderlei Geschlechts machte sich in der Nähe der Kanzel und in der Bibliothek zu schaffen, und hatten mit anscheinender großer Beharrlichkeit immer wieder etwas nachzuholen. Die kleinen Mädchen »paradierten« auf verschiedene Weise, und die kleinen Jungen »paradierten« mit solchem Eifer, dass die Papierkügelchen hageldicht hin und her flogen und das Geräusch der Balgereien den Raum erfüllte. Und hoch über allem saß der große Mann, mit majestätischem, beurteilendem Lächeln die Versammlung überstrahlend und sich im Lichte der eigenen Größe erwärmend – der gute Mann »paradierte« wie die andern. Nur eines trübte das vollständige Entzücken, in welchem Mr. Walters schwamm. Er hatte keinen Preis auszuteilten, keinen Wunderknaben vorzustellen.

Wohl besaßen mehrere Jungen einige gelbe Karten, aber keiner hatte deren genug. Er hatte bei den Hauptschülern Umfrage gehalten, aber umsonst, und er würde alles darum gegeben haben, wenn jener deutsche Junge wieder vernünftig und zu seiner Verfügung gewesen wäre.

Doch wo die Not am größten, ist Hilfe am nächsten.

Tom Sawyer trat vor, 9 gelbe, 9 rote und 10 blaue Kärtchen in der Hand, und bewarb sich um eine Bibel. Das war ein Blitz aus heiterem Himmel. Von dieser Quelle her hätte Mr. Walters in den nächsten 10 Jahren keine derartige Bewerbung erwartet. Aber da war keine Ausflucht. Die akzeptierten Wechsel waren da und mussten eingelöst werden. Tom bestieg die Tribüne, auf der der Richter und die übrigen Auserwählten thronten, und die große Neuigkeit ward von oben der Versammlung kund getan. Es war das größte Ereignis der letzten zehn Jahre, und so groß war die Überraschung, dass von jetzt an die Bewunderung der Versammlung sich zwischen dem Richter und Tom teilte. Sämtliche Jungen wollten bersten vor Neid; aber diejenigen, welche ihre Karten an Tom verkauft hatten, fühlten sich namenlos unglücklich in dem Gedanken, durch eigene Schuld diesen verhassten Triumph herbeigeführt zu haben. Sie verachteten sich selbst, sich von dieser verräterischen Schlange überlistet zu sehen.

Tom empfing seine Prämie nach einer Rede, in welche der Superintendent soviel wie möglich Schwung zu legen suchte; zu wahrer Herzensergießung konnte er es aber nicht bringen; er war sich instinktmäßig bewusst, dass es in dieser Sache nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könne. Er wusste, dass schon zehn Bibelverse für Toms Gedächtnis mehr als zu viel waren; wie er aber deren zweitausend aufzuspeichern imstande gewesen sei, erschien ihm als ein unlösbares Rätsel.

Amy Lawrence fühlte sich froh und stolz; sie suchte die Blicke Toms auf sich zu ziehen – umsonst! Sie wunderte sich, ward bestürzt – dann dämmerte ein Verdacht in ihr auf – verschwand – kam wieder. Sie spähte – ein verstohlener Blick enthüllte ihr alles. Ihr Herz brach. Glühende Eifersucht erfaßte sie, sie ward zornig, weinte und hasste jedermann, Tom am meisten (wie sie meinte).

Tom wurde dem Richter vorgestellt. Seine Zunge war gebunden, sein Atem stockte, sein Herz pochte – einmal vor der furchtbaren Größe des Mannes und dann hauptsächlich, weil er ihr Verwandter war. Wenn es finster gewesen wäre, hätte er sich so gerne vor ihm niedergeworfen und ihn angebetet! Der Richter legte ihm die Hand aufs Haupt, nannte ihn einen feinen, kleinen Mann und begehrte seinen Namen zu wissen. Der Junge stotterte, schnappte nach Luft und würgte heraus: »Tom!«